Berichte

Rainald Grebe – Solo Spezial 2016 – 17.03.2016 – Bonn

Bonn, Oper

„Neues Solo-Programm“ war auf meiner Eintrittskarte aufgedruckt, doch inzwischen war der Titel der Veranstaltung in „Solo Spezial 2016“ geändert worden. Ich hatte keine Ahnung, was an diesem Abend gezeigt werden würde. Das neue Soloprogramm war erst für den Herbst angekündigt, aber Rainald Grebe traute ich es durchaus zu, dass er neben seinen vielen anderen Projekten auch noch schnell ein weiteres Soloprogramm für den Frühling raushauen könnte. Aber im Grunde war es mir egal, denn wenn Rainald Grebe drauf stand, ging ich gerne rein.

Der Abend fand in der Reihe „Quatsch keine Oper“ in der Bonner Oper statt. Das Publikum war sehr gemischt. Altersmäßig und stilistisch. Vom lässigen Studenten mit Beaniemütze und gerade schwer angesagtem Vollbart bis hin zum weißhaarigen Senioren-Opern-Abo-Publikum war alles dabei. Schwer zu sagen, wer alles wegen Rainald kam, da konnte ich mich gewaltig vertun. Seitdem neben mir beim Stehkonzert mal ein anscheinend seriöser, schwerreicher Konzern-Manager im dunklen Anzug stand und alle Lieder mitsingen konnte, traute ich mir kein Urteil mehr zu.  

Auf der Bühne stand ein Flügel, davor der typische Drehsessel von Rainald Grebe, und außerdem gab es einen weiteren Stuhl, neben dem Gitarren aufgestellt waren. So ganz solo schien es dann doch nicht zu werden. Dass Rainald zwischendurch auf die andere Bühnenseite springen und mal eben ein Gitarrensolo spielen würde, hielt ich für eher unwahrscheinlich. Stattdessen wünschte ich mir, dass Marcus Baumgart der Gitarrist sein würde, weil ich den klasse fand.

Rita Baus, die Veranstalterin von „Quatsch keine Oper“, hielt eine kurze Ansage, und kaum war sie über die Bühne nach hinten abgegangen, trat Rainald Grebe durch eine Seitentür in den immer noch hell erleuchteten Saal. Ich erkannte ihn sofort, obwohl von ihm selber gar nicht so viel zu sehen war. Aber ich erkannte ihn an den Kleidungsstücken, die er trug. Sie waren aus vielen seiner Programme, jetzt nur alle auf einmal getragen. Indianer-Häuptlingsfedern, Hasenohren, Dichtungshanf-Bart, Strickjacke, kurzes, rosafarbenes Tütü, Bastrock, Trainingshose – und in der Hand trug er einen alten Koffer.

„Ich bin schon wieder nervös“, begann er hektisch und rasselte herunter, dass er gerade aus Hannover käme, wo er beruflich zu tun hätte und dass dort am Bahnhof immer viel los sei und dass er das beobachtet hätte und dass die meisten, die da lang liefen, keine Touristen, sondern Hannoveraner seien. Einige verspätete Zuschauer kamen in den Saal, und Rainald rief ihnen hastig zu: „Setzt euch, setzt euch, es ist noch nicht viel passiert!“ und redete am Stück weiter.

„Das ist nicht das neue Solo!“, erklärte er. „Das gibt es erst im Herbst. Ich hab‘ extra was von sieben Soloprogrammen angezogen und hoffe, dass es abfärbt.“ Ich grinste und freute mich. Ausschnitte aus sieben Soloprogrammen würden mir sehr gefallen.

„Bist du da, Franz?“, rief er in den Saal, und Franz Schumacher meldete sich vom Mischpult. Mithilfe einer kleinen Kamera wurde er live auf der großen Leinwand im Hintergrund der Bühne gezeigt und das Publikum klatschte freudig, als er so riesenhaft zu sehen war. Schön. Franz war kein anonymer Techniker, sondern oft auch ein aktiver Begleiter des Programms. Auf Rainalds Aufforderung hin spielte er auf der Leinwand ein Video ab, auf dem zu sehen war, wie programmierte Roboter Fußball spielten. Es gab großes Gelächter, denn sie waren langsam und hilflos, fielen immer wieder um und brauchten so lange für spielerische Aktionen, dass bis dahin schon wieder alle Torchancen vorbei waren. Rainald kommentierte den Spielverlauf aufgeregt mit: „Nun los, schieß! Schieß doch!“ und rief damit genau das, was alle Zuschauer dachten. Es war total witzig. 

Dann betrat Rainald über eine Stufe die Bühne, das Saallicht ging aus und das „Solo Spezial“-Programm begann. Er legte den Koffer auf den Boden, holte eine kleine Plastikraupe heraus, zog sie auf und ließ sie über den Flügel krabbeln. Ich grinste breit. Wie vertraut! Nur dass die Raupe diesmal sofort abstürzte und nicht mal eine kleine Strecke schaffte. Rainald guckte ihr stumm beim Absturz zu. „Beginnen möchte ich mit einem Lied von einem großen Autisten“, sagte er und kündigte Robinson an. Ach, wie schön! Das war aus dem „Robinson Crusoe Konzert“, was immer noch eines meiner Lieblingsprogramme von ihm war. Wie toll, den Titel nochmal live zu hören! Ich versank im Lied und fühlte mich wie vor fast zehn Jahren, als ich in der Kölner Comedia verzückt in die Insel- und Einsamkeits-Thematik fiel. 

Das nächste Lied war noch älter, und Rainald erklärte: „Das ist von 2000. Ich hab viel geraucht und das Lied damals drei, vier Töne höher gesungen.“ Sanft begann er mit „Die Concorde stürzt brennend in mein Sommerloch …“ und ich machte einen weiteren Salto rückwärts in die Zeit. Das war www.gelee.de, das war noch vor Robinson gewesen. 2004 hatte ich Rainald zum ersten Mal live in seinem Solo-Programm „Abschiedskonzert“ gesehen, da waren auch für ihn die Soloabende noch recht neu. Ich war damals sofort fasziniert von seiner Stimme, den Texten und seiner Persönlichkeit. Wie es eben manchmal so ist, wenn man etwas erlebt, das sofort Herz und Seele trifft und berührt. Jetzt die alten Titel wieder live zu hören, war ein tolles Erlebnis. Der Abend war wie für mich gemacht. Das Gelee-Lied erwies sich am Ende wirklich als recht hoch und Rainald musste ziemlich pressen, um dort irgendwie anzukommen. Ich registrierte es lächelnd.

Rainald sagte: „Wenn ich die alten Lieder anhöre, denke ich, sie sind komplett unverständlich. Ich habe die damals nur für mich geschrieben, das erste Mal aufgetreten bin ich erst 2004. Das nächste ist noch unverständlicher, aber ich erklär es gleich.“ Er begann zu singen: „Wenn der Bürgerfisch brav liegt im Bett mit seiner Bürgerfischfrau …“ und kam zum „Rollstuhl, der auf der Saale schwimmt“ und „Peter Maffay, dem Leberfleckrumänen“. Ich hatte nie verstanden, was er mit Faust aussagen wollte und war davon ausgegangen, dass er einfach spontane Gedanken aneinandergefügt hatte. Mir reichte das aber als Erklärung und ich hörte das Lied tatsächlich gerne, auch wenn ich keinen Kern fand.

„Man versteht’s einfach nicht!“, schüttelte Rainald danach lachend den Kopf. Seine Erklärung war, dass er 1998 in Halle an der Saale den Faust spielen sollte. Er war gerade fertig mit seinem Studium als Puppenspieler, und seltsamerweise sollten Faust und Gretchen von Menschen und alle restlichen Personen von Puppen dargestellt werden. „Du trägst einen Bart aus Dichtungshanf und sitzt im Rollstuhl“, hatte sich die Regisseurin seine Faust-Darstellung überlegt. Zeitgleich hingen in Halle überall Plakate mit Peter Maffay. „Jetzt versteht man’s doch, oder?“, fragte Rainald nach seiner ausführlichen Erklärung. Nun, nicht alles, aber es war jedenfalls klar, dass auch die anderen Zeilen nicht zufällig in das Lied gerutscht waren.

Von der Seite kam nun tatsächlich Marcus Weingart auf die Bühne, griff nach einer kleinen Ukulele und begleitete damit sehr sanft und leicht Er und sie. Im Publikum wurde an den passenden Stellen sogar leise mitgepfiffen. Die Stimmung im Saal war sehr schön. Rainald kündigte danach an: „Wir spielen jetzt ein Lied, das kennt noch niemand. Da war ich fünf, als ich das geschrieben habe“, und sang ein Lied, das er sicher nicht mit Fünf geschrieben hatte, das ich aber tatsächlich nicht kannte. Im Refrain hieß es: „Schalalalala, als Bonn noch Hauptstadt war„. Es war ein etwas geschönter Rückblick auf Wahlen, Wetter und technische Geräte, so wie es früher mal war. Im Refrain wurden auch gerne mal die Vokale wie bei den drei Kontrabass-Chinesen getauscht.

„Das war damals, jetzt ist heute“, kommentierte Rainald und erklärte kurz, dass das Wort „Karoshi“ in Japan den „Tod durch Überarbeitung“ bedeutete. In hohem Tempo und mit spürbarer Hektik sang er los und nur im Refrain flüsterte er inständig ein hallverstärktes Karoshi, das wie eine Erleichterung wirkte. Endlich Ruhe nach dem Getriebensein. Ich mochte das Lied sehr. Es war aus dem „Hongkong-Konzert“, das ebenso wie das Robinson-Konzert zu meinen Lieblingsprogrammen gehörte. Nein, nicht alle Programme von Rainald Grebe gehörten zu meinen Lieblingsprogrammen. Aber doch schon recht viele.

Dass Marcus, auch wenn er begleitete, fast unauffällig war, war ein Kompliment. Er spielte immer genau richtig, gab harmonisch Gitarrenakkorde oder auch mal einen drängenden Rhythmus dazu, und war genau richtig in der Lautstärke und im Klang. Manchmal fiel kaum auf, dass Rainald zwischendurch seinen Flügel in Ruhe ließ und nur Marcus die Musik machte. Es fügte sich akustisch alles reibungslos ineinander. Perfekt. Schön, dass er, so völlig ohne Show, stattdessen mit hervorragend gemachter Musik, dabei war.

Aktueller als die alten Lieder war Multitasker, bei dem das Publikum freudig mitmachte und an passenden Stellen laut „Mul-ti-tas-ker!“ rief. Das Lied war sehr rhythmisch und Rainald machte griechische Sirtaki-Schritte. Oder was er dafür hielt. Im Verlauf des Liedes wurde das Tempo schneller und schneller, bis er schließlich schwer atmend zusammenbrach. „Ich brauch ’ne kurze Pause“, schnappte er nach Luft. Doch plötzlich war er spontan wieder fit, sprang auf und es ging in die zweite Runde, die noch schneller wurde. Diesmal hoben die Zuschauer beim Mul-ti-tas-king-Ruf sogar noch die Hände in die Luft. Die Bonner Opernwände staunten vermutlich über solch eine aktive Zuschauerbeteiligung, die bei regulären Opern eher selten vorkam. Rainald sang schneller und schneller von den Dingen, die er angeblich gleichzeitig tun konnte und ich merkte, wie mir langsam die Luft weg blieb. Dabei sang ich gar nicht mit, sondern rief nur immer den einfachen Multitasker rein. Beim anschließenden Applaus war zu spüren, dass der Blutdruck überall im Saal hoch gegangen war.

Aus dem Koffer landete eine kleine Winkekatze auf dem Flügel, die ihren Platz im Hongkong-Konzert hatte. Marcus spielte wunderbar rhythmisch auf der Gitarre, und Rainald sang von den Chinesen in seiner Wohnung im Lied China. Danach erzählte er, dass er Jubiläum gehabt hatte. „Ich hab vor einem Jahr aufgehört zu rauchen. Ich hab keine Luft mehr gekriegt.“ Er machte eine kurze Pause und fügte an: „Ich hab dann 20 Kilo zugenommen, jetzt krieg ich auch keine Luft mehr.“ In diesem Moment zündete sich Marcus auf der anderen Bühnenseite eine Zigarette an. „Danke!“, sagte Rainald pikiert und startete mit Seit ich nicht mehr rauche. Um Marcus herum schwebten kleine Zigarettenrauchwölkchen, und auf der Bühne machte die Nebelmaschine laut „Fffffft, fffffft“ und stieß eine große, dichte Wolke aus, die mittig auf die Zuschauer im Saal zuschwebte. Rainald sprang auf und drehte die Nebelmaschine in Richtung des Flügels. Malerisch saß er im dichten Dampf, der jetzt seitlich in den Zuschauerraum waberte und sang von seinem rauchfreien Leben. Im Opernsaal sah es schwer nach einem feuerwehrpflichtigen Schwelbrand aus.

Während Martin danach auf einer Gitarre höfisch anmutende Musik zupfte, las Rainald kurze Passagen aus dem Buch „Himmlische Köstlichkeiten“ von Daisy Gräfin von Arnim vor. Die Texte hatten eine ungewollte Komik und wirkten altertümlich, obwohl sie in der Jetztzeit geschrieben waren. Sogar Gedichte gab es, die mit Reimen wie „Äpfel glätten deine Stirn, bringen Phosphor ins Gehirn“ für große Erheiterung sorgten.

Bonn lag etwa eine halbe Autostunde von Frechen entfernt. „Ich komme fast aus der Gegend“, begann Rainald. „Ich bin in Frechen aufgewachsen. Wer es nicht kennt, …“, er unterbrach kurz und stellte selber fest: „Aber hier kennt das ja jeder.“ Da hatte er vermutlich Recht, und darum wussten auch die meisten Zuschauer zumindest ungefähr, um was es im Lied Frechen ging, dem „Gewerbegebiet mit Wohneinheiten“. Ich mochte es, wie Rainald davon sang. Es war völlig zu verstehen, dass er dort nicht mehr wohnen wollte, aber trotzdem kam eine liebevolle Erinnerung an dem Ort seiner Kindheit und Jugend durch. „Schöne Pause!“, wünschte er anschließend und ging, immer noch in Tütü, Bastrock und Trainingshose, ab. Marcus blieb erstmal sitzen und stimmte seine vielen Gitarren durch.

Nach der Pause ging es gleich wieder richtig ab. Rainald rief laut: „Und alle!“ und setzte mit dem Refrain von „Wenn et Trömmelche jeht“ ein, einem Karnevalslied, das im Rheinland reflexartig mitgesungen wird. Auch in der Oper. „Ich bin zuhause!“, freute sich Rainald jubelnd und begann mit „Drink doch ene mit“, das ebenfalls ohne Zögern laut und textsicher mitgesungen wurde. „Ist das geil!“, rief er und sang: „Mein Sack ist ein Feuchtbiotop“ hinterher, bei dem die Zuschauerbeteiligung deutlich geringer war, was aber vermutlich nur an den fehlenden Textkenntnissen lag. Stattdessen wurde gelacht. „Das ist Karneval! Da komm ich her!“, rief Rainald und zeigte auf der Leinwand einige skurrile Video-Einspieler aus seinem Programm „Die fünfte Jahreszeit“, einer Studio über den Karneval im Rheinland. 

Hotel Mama war ein so schönes Lied. Vielleicht sang Rainald, angeregt durch die vorherige Karnevalsmitsingerei, etwas lebendiger als sonst und im Mittelteil sogar fast lustig. Ich fand das schade, denn das Lied ist nur auf den ersten Blick lustig und darunter ganz ernsthaft. Schutz suchen vor der bösen Welt, indem man wieder in Mamas Bereich schlüpft und nicht mehr selber entscheiden muss. Erst am Ende sang Rainald wieder sanft und mit leicht gebrochener Stimme und ich nickte zufrieden lächelnd. So war es viel besser.

Mit voller Kraft und Energie ging es bei Stiftung Warentest zu und das Publikum lachte immer wieder auf. Mir kam es vor, als wäre Rainald in der zweiten Hälfte deutlich lockerer und mit viel eigenem Spaß dabei. Das heißt nicht, dass er im ersten Teil gebremst oder nicht gut war, aber bildlich gesehen hatte er vor der Pause ordentlich auf dem Stuhl gesessen und zog sich jetzt die Schuhe aus und warf sich gemütlich aufs Sofa.

Beim Diktator der Herzen trug er die passende Militärmütze. Wahrscheinlich hatte sie vorher nicht zusammen mit den Hasenohren, dem Indianerkopfschmuck und dem Hanfbart auf den Kopf gepasst, sonst hätte er sie vermutlich schon den ganzen Abend lang getragen. Marcus begleitete mit der kleinen, zarten Ukulele, die rhythmisch und drängend das Tempo angab, und nur beim Refrain spielte Rainald auf dem Flügel dazu. Der dicke Flügelklang machte die heitere Stimmung etwas kaputt. Durchgehend nur die kleine Ukulele hätte mir besser gefallen. Aber bei einem Diktator bin ich mit eigenen Wünschen vorsichtig. Das Publikum hatte viel Spaß, auch wenn oft mit diesem hohlen Hoho-Unterton gelacht wurde, wenn es um Steinigungen und abgeschlagene Köpfe ging und da ja nicht einfach herzlich gelacht werden darf. Ich fand das Lied immer schon sehr klasse.

„Da haben wir noch ein altes Lied ausgegraben“, kündigte Rainald an und begann mit Der Rabe. Ach, wie schön. Diesmal begleitete ihn nur eine Gitarre. Es war ruhig, sanft, es gab wunderbare Akkorde, einen tollen Gitarrenklang, eine sanft-raue Rainaldstimme und einen traurig-schön-sentimentalen Text. Wunderschön.

Gleich danach gab es Teller-Fotos auf der Leinwand zu sehen. „Das ist meine Herkunft“, erklärte Rainald ein Bild mit Deko-Tellern in seinem elterlichen Flur. „Bürgerliche, leere Teller an der Wand.“ Es folgte ein Bild, auf dem er vor leeren Tellern sitzend als Jugendlicher zu sehen war. Eine gute Einleitung zum nächsten Lied. „Es wird immer trauriger“, seufzte Rainald, und auf der Bühne erlosch das Licht bis auf zwei Schweinwerfer, die jeweils einen kleinen Lichtkreis über Rainald und Marcus legten. Rainald begann mit den ersten Akkorden auf dem Flügel und unterbrach sofort. „Franz, ich seh‘ jetzt kaum was, das weißt du“, stellte er vorwurfsvoll fest und fügte mit Blick auf die im Dunkeln liegenden Tasten hinzu: „Ich seh‘ Marcus besser als meine Hände.“ Franz Schumacher reagierte sofort. Zack, ging das Licht über Marcus aus und der war jetzt gar nicht mehr zu sehen. Die Zuschauer lachten auf.

Aber dann gab es doch wieder Licht für Marcus, und Krümel begann. Sehr liebevoll und mit sanfter Stimme gesungen, aus der mitfühlenden Sicht des späteren Erwachsenen, der weiß, dass die unsichere Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein vorüber geht. Das würde er dem sensiblen, unglücklichen Krümel so gerne sagen können. Ein Lied, das mir tief in die Seele geht und fast weh tut. Der anschließende Applaus zeigte, dass es vielen Zuhörern so ging.   

Viel Gelächter brachten danach die Kontaktanzeigen, die eine wilde Mischung aus einzelnen Zeilen verschiedener Anzeigen waren. „Da ist nix von mir!“, betonte Rainald, der nur Originalzitate aus der Zeitung verwendet hatte. Aber die Idee dazu hatte er gehabt und das Ergebnis war toll.  

„Vor zwei Jahren geschrieben, und schwupp ist es Schnee von gestern“, kommentierte er den Kokon, der mir im Übrigen mit der Begleitung des „Orchesters der Versöhnung“ ein bisschen besser gefiel, weil er dann psychedelischer klang. Da hatte ich schon allein beim Hören das Gefühl, dass einlullende Drogen durch die Luft waberten. Aber in der sparsamen Version war’s dann auch schön.

Im Anschluss gab es einen kurzen Einspieler über die Tatsache, dass immer mehr Berliner einen Flügel als Statussymbol haben, den sie nicht spielen können, und danach ein Interview mit einem Kirchgängerpaar. Nach dem letzten Satz brach der Film ab und es blieb ratlose Stille im Opernsaal. Häh? Was sollte das jetzt aussagen? Ich grübelte noch, da fing Loch im Himmel an, mit der Aussage „woran du dein Herz hängst, das ist Gott“. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht nur bei einigen der alten Lieder nicht, wie die gemeint waren. Ich war spontan froh, dass ich jetzt keine Interpretation schreiben musste. Ich könnte mir zwar eine Erklärung zusammenbasteln, vielleicht wäre die sogar richtig, aber sicher war ich mir da nicht.

Zusammenhang hieß das nächste Lied. „Ying und Yang, Kling und Klang, das Lied vom Zusammenhang“. Ja, das verstand ich. Es hing alles zusammen. Auch anscheinend unverständliche Texte mit Erfahrungen, der Rollstuhl auf der Saale mit dem Faust und der Dichtungshanf mit Robinson. Und bei mir Purple Schulz und das Lied „Dörte“, ziemlich falsch, aber sehr begeistert gesungen von Jess Jochimsen, das mich direkt zu Rainald Grebe brachte. Liest sich jetzt vielleicht ähnlich unverständlich wie einige frühe Grebe-Lieder, hat aber einen direkten Zusammenhang und ist genau so passiert.

„Tuffn!“, rief Rainald unterdessen auf der Bühne und erzählte über den Dadaismus, immer wieder untermalt von dadaistischen Lauten. Dann spielte er am Flügel etwas holpernd aus einem Notenbuch „Lady in Red“, während auf der Leinwand Tourbilder mit lustigen Schildern gezeigt wurden. Das war witzig zu sehen, und „Lady in Red“ höre ich seit dem Hongkong-Konzert sehr gerne. Aber nur, wenn Rainald es singt. Und nur, weil es für mich zur persönlichen Stimmung des Programmes gehört.

Ohne Gebläse, aber mit überstrahltem Scheinwerferlicht von unten und mit Langhaarperücke auf dem Kopf sang Rainald am Bühnenrand vom bangenden Bengt. Die Gitarrenbegleitung von Marcus war so basslastig und mitreißend, dass beim Refrain tatsächlich kurz mitgeklatscht wurde. Das kam der rheinische Automatismus wieder durch. Zum Glück wurde es sofort als unpassend empfunden und gleich wieder beendet. Auch ohne wehende Haare war das Lied toll und sehr eindringlich.

Das Publikum applaudierte laut, und Rainald und Marcus verbeugten sich und gingen ab. Der offizielle Teil war beendet. Aber der Applaus hörte nicht auf und schon kurz darauf kamen beide wieder. Marcus suchte sich eine passende Gitarre aus seiner Sammlung aus, während Rainald am Flügel ein Glas Rotwein eingoss. Mit einem weiteren Glas in der Hand ging er zu Marcus und sagte auffordend: „Prost, Marcus!“ Marcus richtete sich vorsichtig aus seiner gebückten Haltung auf, griff erst nach seinem Rücken und dann umständlich nach dem Glas und seiner Wasserflasche und stöhnte dabei angestrengt auf. Lachend grinste Rainald über das Stöhnen: „Was soll das denn?“, wartete bis Marcus mit ihm anstoßen konnte und trank den Wein aus seinem Glas dann in einem Zug weg. Während Marcus noch an seinem Wasser nippte, ging er zurück zum Flügel und stellte fest: „Seit ich nicht mehr rauche, sauf ich mehr.“    

Er kündigte ein Schlaflied an. Es ging um Eltern, die ihrem Kind für die Reise in ein großes, gefährliches Leben sehr enge, kleinbürgerliche Ratschläge geben. „Junge, wir machen uns Sorgen um dich“, hieß es, und mein Lieblings-Ratschlag war: „Triffst du einen weißen Hai, grüß ihn kurz und schwimm vorbei.“ Ich hörte zu, saß inzwischen völlig tiefenentspannt und glücklich auf meinem Sitz und war voll mit alten Erinnerungen, Lachen, Sentimentalität und großer Zufriedenheit. Was für ein schöner Abend.

Rainald erzählte, dass er im Januar, also nur zwei Monate zuvor, im Goethe-Institut in Abidjan an der Elfenbeinküste war. Auf der Leinwand lief ein kurzes Video ab, in dem zu sehen war, wie er dort mit afrikanischen Kindern „Atemlos“ von Helene Fischer sang. Am Klavier begleitete sie Jens-Karsten Stoll, der oft als musikalischer Leiter bei Projekten von Rainald arbeitete. Es war lustig anzusehen, dass ausgerechnet Rainald Grebe den Schlager „Atemlos“ sang, der vermutlich an der Elfenbeinküste als wertvolles, deutsches Kulturgut galt. Aber ich hatte schon in der Zeitung gelesen, was vor vier Tagen passiert war und guckte etwas bedrückt auf die Leinwand.

Rainald wartete den Beifall des Publikums ab und erklärte dann mit ruhigen Worten, dass die Frau, die das Handy-Video gemacht hatte, am Sonntag gestorben war. Henrike Grohs, die Leiterin des Goethe-Institus in Abidjan, war bei einem Attentat ermordet worden. Rainald sagte, dass er und Marcus mit ihr befreundet waren. Er hatte überlegt, ob er das Video jetzt noch im Programm zeigen wollte und sich bewusst dafür entschieden. „Es ist meine einzige Waffe“, sagte er ruhig und lächelte ein wenig. „Das Abschiedslied ist für Henrike und alle“, sagte er dann und begann das nachdenkliche Lied Kassettenrecorder. „Sometimes I feel so overfordert. Und ich weiß, ich bin da nicht allein“, sang er, und es passte zur sentimentalen, etwas betroffenen Stimmung, die plötzlich da war.

Ich fand es sehr gut, dass er das Video und die anschließende Erklärung gebracht hatte. Henrike Grohs wird wollen, dass die gute Laune und die Energie des Tages weiterhin erhalten bleiben und gezeigt werden. Davon darf man sich durch den Terror auf keinen Fall abhalten und klein machen lassen. Im Gegenteil.

Das Publikum klatschte am Ende des langen Abends laut und zustimmend. Rainald und Marcus traten an den Bühnenrand, verbeugten sich lächelnd und gingen mit ruhigen Schritten ab. Die Stimmung war sehr schön, aber nach diesem Abschluss passten keine lauten Pfiffe und Zugaberufe. Trotzdem war es ein guter Abschluss, der berührte.

Ein wunderschöner, lustiger, trauriger, sentimentaler, lächelnd machender Konzertabend.

Robinson
www.gelee.de
Faust
Er und sie
(Als Bonn noch Hauptstadt war)
Karoshi
Multitasker
China
Seit ich nicht mehr rauche
Frechen

Hotel Mama
Stiftung Warentest
Diktator der Herzen
Der Rabe
Krümel
Kontaktanzeigen
Kokon
Loch im Himmel
Wo ist der Zusammenhang
Bengt
Junge
Kassettenrecorder