Purple Schulz – Konzertlesung – 23.11.2015 – Köln
Mit Ralph Erdenberger
Volksbühne, Köln
Seit Monaten hatte Purple Schulz an diesem Buch gearbeitet, und weil so ein Projekt dann ja doch immer wesentlich gewaltiger wird, als man es sich vorstellen konnte, hatte er am heimischen Küchentisch geschrieben, im Tourbus auf dem Weg zu Konzerten, in Hotelzimmern und vermutlich sogar noch unter der Dusche. Hätte es nicht den Abgabetermin gegeben, wäre es wohl noch monatelang so weitergegangen, denn nicht nur, dass er viel erlebt hatte, er war auch ein guter Nachdenker und Geschichtenerzähler.
Im kuscheligen Kölner Millowitschtheater, das seit einiger Zeit „Volksbühne am Rudolfplatz“ hieß – („Häh? Volksbühne? Kenn ich nicht.“ „Na, das Millowitsch.“ „Ach so!“) – fand die Buchvorstellung statt, die Konzertlesung genannt wurde. Es lag nahe, dass er passende Lieder zu einigen Geschichten spielen würde, denn sein Leben drehte sich ja auch um die Musik. Der Verleger Werner Fredebold begrüßte zur Lesung und berichtete, dass es vor fünf Wochen noch nicht klar war, ob das Buch rechtzeitig fertig werden würde. „Letzten Dienstag saß ich mit Purple an seinem Küchentisch und er fragte mich: War ich eigentlich der stressigste Autor, den du jemals hattest?“ Werner Fredebold blickte mit großen Augen zum Publikum, das schon loskicherte und seufzte ein erschöpftes: „Ja.“
Dass Purple bei so einer Zusammenarbeit anstrengend sein konnte, lag an seinem Perfektionismus und der Selfmade-Einstellung. Er schrieb eben nicht einfach etwas runter und ließ es vom Verlag bearbeiten und zusammenstellen, er wollte, dass sein Buch persönlich und authentisch wurde. Mir war völlig klar, dass er keine oberflächliche Biographie über die Höhepunkte seines Künstlerlebens geschrieben hatte, denn ihm waren ganz andere Sachen wichtig. Bei seinem ausgeprägten Sinn für Humor war das Buch aber bestimmt auch keine staubtrockene Philosophie-Abhandlung geworden.
Als Moderator war der WDR5-Radiomann Ralph Erdenberger da, der vom Lied „Sehnsucht“ berichtete, das ihn 1983 voll getroffen und zum Fan gemacht hatte. „Es sprach dem pubertierenden, pickeligen Ralph aus der Seele“, sagte er lächelnd, aber völlig ernsthaft. Das verstand ich sofort. Ich war damals zwar nicht mehr pubertierend und pickelig, aber der verzweifelte Schrei lief als Maxi-Single oft auf dem Plattenspieler und traf mich tief. Was für ein Schmerz und eine Verzweiflung lagen darin.
Purple begann mit dem Lesen einer Geschichte von 1977, als er von Polizisten aus der Bahn geholt und als vermeintlicher Straftäter zu einer Gegenüberstellung geholt wurde. Er las mit schöner Stimme, sehr lebendig, und die Szene war vor dem inneren Auge sofort deutlich zu sehen. Es war oft humorvoll geschildert, aber seine Angst war zu spüren, die Beklemmung und dann die Erleichterung, als das vermeintliche Opfer, eine altere, üppige Frau mit Oberlippenbart feststellte: „Nä, dä wor dat nit!“ Die Zuschauer hörten konzentriert zu, lachten an passenden Stellen auf und blieben ganz leise, wenn es spannend war. Purple blickte am Ende der kurzen Geschichte vom Buch hoch und grinste: „Die ersten beiden Seiten meines ersten Buches, und ich war ganz schön nervös, die vorzustellen.“
Er erzählte, dass er in Köln aufgewachsen war, „ein ungeplantes Kind, aber trotzdem herzlich willkommen“, und nicht gerne in den Kindergarten ging. Und dann las er die Geschichte, wie ihn seine Mutter eines Tages, als er vier Jahre alt war, im Kindergarten nicht abholte. Als er durch die Großstadt alleine den Weg nach Hause gemacht hatte, entdeckte er, dass sie sich gerade mit seinem Bruder auf den Weg ins Schwimmbad machte und ihn einfach vergessen hatte. Seine Mama – ihn vergessen! Ein frühkindlicher Schock, der tief saß.
Als ihn der Verleger Werner Fredebold gefragt hatte, ob er das Lied „Sehnsucht“ für einen Roman einer anderen Autorin neu aufnehmen würde, dachte er in diesem Zusammenhang erstmalig über seine eigene Sehnsucht nach. Er erkannte, dass sich Sehnsucht durch sein ganzes Leben zog. „Sehnsucht ist ein Motor“, sagte er, auch wenn er den Begriff früher mit „Freddy Quinn, fremden Häfen und der Touristikbranche“ in Verbindung gebracht hatte, wie er lachend erzählte.
Aus diesen Überlegungen und Erinnerungen heraus, hatte er sein Buch geschrieben. Ohne zeitliche Sortierung, sehr assoziativ und mit Geschichten, die manchmal ihren Faden verloren und unübersichtlich wurden. Das musste alles lektoriert und geordnet werden, wofür er dem Verlag, trotz vieler vorangegangener inhaltlicher Diskussionen, sehr dankte. Ralph Erdenberger als Moderator hörte gut zu, fragte gezielt nach, lenkte und brachte Purple immer wieder auf den Punkt zurück. Eine ruhige, zurückhaltende Moderation, die ein sehr persönliches Gespräch förderte und wirklich toll war.
Dass Purple nie mit seinem Vater über dessen Zeit im Krieg reden konnte, holte er später in einem Lied nach, als es nicht mehr möglich war, sich auszusprechen. „Sag die Wahrheit“ hieß es, und das spielte er, zusammen mit seinem Gitarristen Markus Winstroer, der seit dem Sommer sein Bühnenpartner war, sehr funkig. Es war schön, so bewusst zu erleben, wo der Ursprung mancher Lieder lag und was sie persönlich mit Purple zu tun hatten. Auch im Gespräch war er sehr offen und persönlich. Aber er hatte auch nichts zu verstecken. „Ich habe eine Sehnsucht, so wahrgenommen zu werden, wie ich bin“, erklärte er.
Abwechselnd las er eine Geschichte, erzählte im Gespräch mit Ralph Erdenberger und spielte immer mal wieder ein Lied. Darunter auch „Kinderleicht“. Ach, wie freute ich mich, das mal wieder zu hören! Markus Winstroer war ein wunderbarer musikalischer Begleiter. Ein bescheidener, introvertierter Mensch, der großartige Musik machte.
Natürlich durfte auch „Sehnsucht“ nicht fehlen. Purple erzählte über die Entstehung des Liedes, wie sein ganzer innerer Schmerz bei den Aufnahmen unerwartet hoch kam und er weinend sang. Auch in dieser Situation war in ihm das Bild vom Kindergarten aufgekommen, in den er nicht gehen wollte, weil er nicht weg von seiner Mama wollte. Für die Single-Version hatte er das Lied nochmal aufgenommen, erzählte er, denn die erste Version war ihm zu emotional, um sie weinend mit Playback bei der Hitparade nachzuspielen.
Als er das Lied spielte und sang, war es sehr bewegend und das Publikum war ergriffen und applaudierte danach sehr laut.
Mit Blick auf die Uhr sagte Purple erschrocken: „Wir sind schon verdammt weit in der ersten Hälfte fortgeschritten“, denn die dauerte mittlerweile schon fast 90 Minuten. Ralph Erdenberger beruhigte: „Es wird eine eintägige Veranstaltung bleiben!“
Purple berichtete von einer Situation, in der er sich Gedanken gemacht hatte, ob die Verzweiflung im Lied „Sehnsucht“ einen Selbstmord gefördert hatte. Die Zuschauer hörten betroffen zu und klatschten danach nicht. Es blieb ganz still. Ralph Erdenberger sah auf seinen Plan und sagte: „Wir kommen zum letzten Lied …“, aber Purple unterbrach ihn: „Nee, ich glaube, wir gehen jetzt so in die Pause.“ Das wurde gemacht, und es war eine richtige Entscheidung. Eine kurze Pause zum Luftholen, das Publikum war immer noch beeindruckt von der Intensität des Liedes „Sehnsucht“ und der Nähe, in die Purple die Zuhörer ließ.
Der zweite Teil begann mit „Ich hab Feuer gemacht“, im Gegensatz zum Verzagen und Verzweifeln in „Sehnsucht“, ein anfeuernder Aufruf zum Machen.
Feuer gemacht hatte auch Eri, Purples Frau, die inzwischen mit ihm zusammen die Texte schrieb. Er erzählte über das Kennenlernen und Eris Familie. Dann wollte er etwas darüber vorlesen und blätterte suchend im Buch. Ralph Erdenberger moderierte souverän an: „Das ist die Geschichte der Liebe deines Lebens“, und Purple fragte hilflos: „Und sie steht auf Seite …?“ „Vierundachtzig“, wusste Ralph Erdenberger, zur Freude des Publikums.
Gewaltig, fast wie von einem Sinfonieorchester, aber doch zart und berührend brachten Purple und Markus Winstroer die „Kleine Geschichte vom Ende einer großen Liebe“. Die Geige von Markus Winstroer klang wunderschön, und nicht nur das Publikum, auch Ralph Erdenberger saß still und andächtig zuhörend.
Es ging um Abschiede. Um den schmerzlichen Abschied von Josef Piek nach 33 gemeinsamen Jahren auf der Bühne, und um das Thema Tod, um den Abschied von den Eltern. Purple las vom letzten Rendevous seiner Mama, und es ging ganz nah und war berührend. Im Saal war es so leise, dass nur die Stimme von Purple und das leise Rappeln der Klimaanlage zu hören waren.
Mit „Der letzte Koffer“ und dem anschließenden „Immer nur leben“ endete der lange, intensive Konzertlesungs-Abend. Es war mittlerweile 23:11 Uhr, begonnen hatte er um 20 Uhr.
„Dieses bisschen Lesen war anstrengender als vier Stunden singen!“, lachte Purple erleichtert und hatte tatsächlich eine etwas rauere Stimme. Weil es die Buchvorstellung war, kamen am Ende einige Leute auf die Bühne – Verlagsleiter, Lektorin, Organisatorin und natürlich Eri, die Frau, die so wichtig für Purple war. Es gab kurze Reden, Blumen und Fotos, und abschließend im Foyer eine Schlange von Menschen, die sich ein Buch von Purple signieren lassen wollten.
Ein sehr berührender Abend mit einem vielversprechenden Buch, Gänsehaut, Gelächter und einem persönlichen, authentischen Purple Schulz, der Einblicke in seine Seele gab.
Purple Schulz „Sehnsucht bleibt“, edition fredebold
Sag die Wahrheit
Kinderleicht
Sehnsucht
Ich hab Feuer gemacht
Spiegeln
Kleine Geschichte vom Ende einer großen Liebe
Der letzte Koffer
Immer nur leben