Berichte

Rainald Grebe – Das Buch Dietmar – 16.03.2013 – Köln

Rainald Grebe, Thomas Hermanns, Lutz von Rosenberg Lipinsky, Rattelschneck, Robert Woitas
MS RheinEnergie, Köln

Es war dunkel, der Winter pustete eisige Abendluft über den Rhein. Die Schlange der Wartenden auf der Uferpromenade wurde immer länger und behinderte zunehmend Spaziergänger und Fahrradfahrer am Durchkommen. Das große Ausflugsschiff der Köln-Düsseldorfer-Flotte, das zu Zeiten der lit.cologne zum Literaturschiff wurde, lag ruhig und einladend beleuchtet am Anleger, aber die Eingangstür blieb verschlossen. Der Einlass war für 20 Uhr 30 vorgesehen und daran konnte auch die Kälte nichts ändern. Die Wartenden fröstelten vor sich hin und fragten, warum die lit.cologne eigentlich nicht im Sommer stattfand. Gerade als erste Protest- und Stürmaktionen überlegt wurden und die offizielle Einlasszeit schon um kalte, kaum noch zu duldende vier Minuten überschritten war, öffnete sich die weiße Schiffstüre und der Aufstand wurde im Keim erstickt. Brav zeigten alle ihre Karten vor und waren froh, endlich aufs warm geheizte Schiff zu dürfen.

Es war freie Platzwahl und der große, bestuhlte Innenraum und die darüber liegende Galerie füllten sich schnell von vorne nach hinten. Von meinem Platz konnte ich durch die großen Panorama-Fenster nach draußen auf die Gangway blicken, auf der der Strom der Besucher immer noch nicht abriss, während mir doch das Schiff schon ganz voll vorkam. Aber irgendwo verschwanden die Ankommenden, die unablässig in den Raum kamen, im hinteren Teil des Gefährts und schienen alle noch einen Sitzplatz zu finden, denn sie kehrten nicht mit suchendem Blick zurück.

Die halbe Stunde vom Türöffnen bis zum Lesungsbeginn war gerade genug, um alle Besucher auf das Schiff zu bekommen und einigen von ihnen noch die Möglichkeit zu geben, ein Getränk am Ausschank zu holen. „Kein Einlass nach Beginn – Schiff legt ab!“, stand warnend auf der Eintrittskarte, was zwar den Tatsachen entsprach, aber trotzdem witzig war. Ich blickte auf die Bühne, auf der es ein schmales Keyboard und einen langgestreckten Tisch gab, auf dem fünf Wasserflaschen mit zugehörigen Gläsern standen. Messerscharf kombinierend vermutete ich, dass es nicht nur eine Lesung von Rainald Grebe aus dem Dietmar-Buch, sondern auch etwas Musik und weitere Gäste geben würde.

Dietmar Burdinski – ich hatte ihn nicht kennengelernt. Oder doch, ein bisschen, denn er hatte am „Robinson“-Programm von Rainald Grebe mitgearbeitet, das eines meiner Lieblingsprogramme war. Viele der Texte, die ich bis zum letzten Jahr für die schrägen Gedankengänge von Rainald Grebe gehalten hatte, erkannte ich beim Lesen des Dietmar-Buches als schräge Gedankengänge von Dietmar Burdinski. Das verstörte mich zunächst, denn wenn der Humor und die Assoziationssprünge, die ich an Rainald Grebe so mochte, ursprünglich von Dietmar Burdinski waren, war ich dann nicht eigentlich Burdinski-Fan? Wo war Rainald noch original und wie weit war er von Dietmar Burdinski geprägt? Oder hatten beide eine ähnliche Art des Erfassen und Wiedergebens, und ihre Texte konnten sich mischen, ohne dass eine der Persönlichkeiten verloren ging?

Wie schade, dass ich Dietmar Burdinskis Auftritte in den 90er-Jahren verpasst hatte. Als meine beiden Kleinkinder groß genug waren und ich mich wieder nach Anregungen und Unterhaltung umsah, hatte er sich aus gesundheitlichen Gründen schon von der Bühne zurückziehen müssen. Er schrieb für andere Künstler und verschwand aus dem Blick der Öffentlichkeit. Im Juli 2010 ist Dietmar Burdinski nach langen Krankheitsphasen im Alter von 51 Jahren gestorben. Er galt als Meister des abstrusen Humors, hat die deutsche Comedyszene und viele Künstler beeinflusst, ist aber weitgehend unbekannt geblieben. Um ihn nahe zu bringen und damit er nicht in Vergessenheit gerät, hat Rainald Grebe „Das Buch Dietmar“ zusammengestellt, das Texte, Zeichnungen, kurze Notizen und auch persönliche Berichte von Freunden und Kollegen enthält. Nachdem ich es gelesen hatte, fand ich es noch viel schader, dass ich Dietmar Burdinski nicht persönlich erlebt hatte.

Der Lesungsabend begann mit einem Filmausschnitt aus den 90ern, der Dietmar Burdinski bei einem Auftritt im Quatsch Comedy Club zeigte. Die Leinwand-Übertragung der aufgezeichneten Fernsehsendung wirkte in ihrer leichten Unschärfe und den auslaufenden Farben wie aus den frühen 70ern. Der nostalgische Eindruck war vermutlich nicht gewollt, löste aber sofort ein sentimentales Gefühl von “früher” und “vorbei” aus. Immerhin wussten danach alle Zuschauer wie Dietmar Burdinksi aussah, wie er sich bewegte und wie er sprach. Rainald Grebe kam auf die Bühne und fragte: „Fahren wir eigentlich schon?“, denn das Schiff vibrierte mit brummendem Motor, aber der Blick auf die noch unbewegten Lichter der abendlichen Altstadt zeigte, dass das sicher mit „Nein!“ beantwortet werden konnte. Er fragte, wer von den Zuschauern Dietmar Burdinski NICHT kenne. Viele Arme hoben sich. „Er ist nicht anwesend. Aus gesundheitlichen Gründen“, sagte Rainald und wies darauf hin, dass man ihn im Friedwald bei Berlin besuchen könne, wo er eine eigene Eiche habe. Ernst und überhaupt nicht lustig gemeint sagte er: „Er wird sich bestimmt freuen. Und ich denke, er ist jetzt auch hier und sieht zu.“

Nach einer kurzen Schilderung, wie er als Schüler den 13 Jahre älteren Burdinski in der Kölner Filmdose, einem Kneipentheater, kennengelernt hatte und sofort fasziniert war, erklärte er, dass bei der Beerdigung viele Freunde waren und spontan entschieden wurde, ein Buch zu machen. Das war vor wenigen Monaten erschienen, und zur Lesung war Rainald Grebe jetzt nicht alleine gekommen, sondern er hatte weitere Freunden und Weggefährten von Dietmar Burdinski mitgebracht. Comedian Robert Woitas, Cartoonist Marcus Weimer (Rattelschneck), Comedian Lutz von Rosenberg Lipinsky und Thomas Hermanns, der Gründer des Quatsch Comedy Clubs kamen auf die Bühne, und alle setzten sich nebeneinander an den langen Tisch. Da hatte ich schon mal messerscharf richtig kombiniert.

Abwechselnd lasen sie Einträge aus Dietmar Burdinskis Tagebüchern, bei denen er mal auf seine private Situation einging, mal spontane Einfälle, Merksätze oder kleine Geschichten festgehalten hatte. Eine Schatzsammlung an Ideen, schnell notiert, auf eine spätere Verwertung wartend. Ein Phantasiebericht über den Aufstieg auf den Nanga Parbat: „Ich wollte hinauf. Schnell einen Rucksack besorgt, Obst, Trinken, einen Sherpa und nichts wie los…“, ein Zustandsbericht: „Ich habe heute nichts geschrieben. Das tut mir leid, mehr aber auch nicht.“, eine Idee: „Titanic 2, Eisblock, DiCaprio, auftauen“ oder ein kurzer Merksatz: „Spontaner Besuch verschwindet durch Anspucken“. Seine Ideen waren oft schräg und schienen unzählbar zu sein. „Welches Wort hat Goethe nie benutzt? A: Ja. B: Computertomographie. C: Nein.“ “Gegen Vergessen hilft Behalten.” Das Publikum hörte den wechselnden Einträgen aufmerksam zu und lachte mal leise, mal spontan laut auf. Aber auch die Herren am Tisch lachten immer wieder los und hatten Spaß.

Lutz von Rosenberg Lipinsky, Rattelschneck, Rainald Grebe, Robert Woitas, Thomas Hermanns

Nach einer Geschichte über seine Tätigkeit in einer Baumschule und Auszügen aus der Hypochonder Rundschau, die so seriös wie die Apotheken-Rundschau aufgemacht, inhaltlich aber sehr skurril war – „Weg mit den Kilos! Auf welche Organe können wir verzichten.“ -, setzte sich Rainald ans Keyboard, um „Angeln“ zu spielen. Die Grundidee des Textes und einige Zeilen waren noch von Dietmar Burdinski und Rainald hatte es zu einem langen Lied erweitert, das er in eigenen Programmen spielte. Im Hintergrund wurden zeitgleich Dias aus der Sammlung von Jess Jochimsen gezeigt, der einen Blick für die schrägen Realitäten hat. Das Gelächter der Zuschauer über die Bilder war manchmal so laut, dass Rainald mit dem Singen fast unterging, aber er nahm sich ganz selbstverständlich zurück, sang weniger und begleitete die Diashow leise musikalisch.

Danach erzählten die Freunde, was sie persönlich mit Dietmar Burdinski verband. Marcus Weimar, genannt Rattelschneck, hatte mit ihm an den Texten für „Dittsche“ gearbeitet und einen gemeinsamen Urlaub in Las Vegas verbracht, bei dem sie planmäßig alle einarmigen Banditen eines Straßenzuges abspielten. Dietmar Burdinski hatte die Stimme von Rattelschnecks Comic-Held, „Stulli, das Pausenbrot“ beeinflusst und er hatte außerdem ein Hobby, auf das Rattelschneck neidisch war: Das Notieren aller Bundesligapartien, bei denen es genau acht Tore gab.

Lutz von Rosenberg Lipinsky hatte mit ihm die Fußball-Fan-Leidenschaft geteilt, und er zeigte ein Fußball-Video mit vielen Toren, die für Fußball-Laien alle sehr ähnlich aussahen, und sang danach ein Lied über Arminia Bielefeld.

Robert Woitas erzählte von den Wandertouren, die sie zu zweit gemacht hatten. „Wir sind regelmäßig – vor seinem Tode natürlich – wandern gegangen“, sagte er ohne groß über die Formulierung nachzudenken und musste dann selber lachen, als die anderen loslachten. Sein anschaulicher Bericht über die große Wanderung von Sylt bis zur Zugspitze, die schon bei Hamburg humpelnd abgebrochen werden musste, brachte viel Spaß. Auf einmal war Dietmar Burdinski nicht mehr nur der fast unbekannte Schreiber skurriler Texte und der Comedian aus den kurzen Video-Einspielern, er war auch Briefeschreiber und Buntstiftmaler, Fußballfan und Wanderer, wurde eine Persönlichkeit mit viele Facetten. Ein Bild von ihm setzte sich zusammen, das stimmig war und trotzdem viel Platz für Überraschungen hielt. Wenn der nächste Freund vom regelmäßigen Schwimmen von Calais nach Dover berichtet hätte, oder dass Dietmar Burdinski Polaroids von linken Schuhen gesammelt hätte – ich hätte mich nicht mal gewundert, sondern es in mein persönliches Bild von ihm eingefügt. Das war bunt, ungewöhnlich und sehr sympathisch.

Thomas Hermanns, in dessen Quatsch Comedy Club Dietmar Burdinski schon in den frühen 90er-Jahren aufgetreten war, las einen seiner Lieblingstexte vor: „In Seenot.“ Den kannte ich gut aus Rainalds Robinson-Programm, wo er immer schon viel Gelächter auslöste, und jetzt war auf dem ganzen Schiff glucksendes Lachen zu hören. Rainald las noch “Goethe”, ebenfalls aus dem Robinson-Programm, und spielte anschließend das Titellied des Robinson-Konzertes. Nach dem vielen Gelächter über die beiden witzigen Texte war das ruhige Lied sehr berührend.

Franz Schumacher, der bei den Konzerten von Rainald Grebe für den Ton verantwortlich ist und ebenfalls mit Dietmar Burdinksi befreundet war, wurde mit einer kleinen Livekamera vom Mischpult aus auf die Videoleinwand geschaltet und erzählte vom gemeinsamen Golfen. Es war spontan und liebevoll erzählt – und tat beim letzten Satz plötzlich weh, weil zu merken war, wie schmerzlich das Fehlen empfunden wurde.

Bei den eingespielten Videos kam mir Dietmar Burdinski inzwischen schon vertraut vor. Ein großer, schmaler Mann, der bedächtig wirkte und jenseits jeder Form der Hektik schien. Seine langsame, rheinisch gefärbte Aussprache ließen seine Aussagen noch harmloser erscheinen, manchmal fast einfältig. Er war ein anscheinend naiver Beobachter der Welt, der seine Erkenntnisse in einfachen Worten zusammenfasste und damit punktgenau traf. Mein Humorzentrum zum Beispiel. Und meine Seele, denn manches war nur auf den ersten Blick lustig und zeigte dahinter seine Tragik. Plötzlich fand ich es gar nicht mehr so verstörend, dass Rainald Grebe Texte von Dietmar Burdinski verwendete und teilweise sogar dessen Betonung übernommen hatte. Die Beiden hatten einen ähnlichen Blick auf ihre Umgebung, konnten das Schräge und das Berührende erkennen und treffend wiedergeben. Dietmar Burdinski in einer vermeintlich naiveren, manchmal fast kindlichen Form, Rainald Grebe oft etwas verdrehter. Die passten schon gut zusammen.

Das Schiff war von seiner Rundfahrt inzwischen wieder am Anleger angekommen, aber es hätte auch die ganze Zeit liegenbleiben können, denn die Zuschauer waren von dem, was von der Bühne kam, so gebannt, dass sie gar nicht viel nach draußen guckten. Das Panorama des nächtlichen Kölns hatte sich zwar angestrengt wunderschön zu sein, war aber fast unbeachtet vorbeigezogen. Zum Ende des Abends gab es noch ein Video von Dietmar Burdinski aus einem seiner ersten Programme. Er zupfte ungeübt an einer Gitarre herum, blies zwischendurch zaghaft Einzeltöne auf einer Blockflöte, kam zu einer wirren, lauten Steigerung des planlosen Töneerzeugens, endete mit einem kurzen, wackeligen Blockflötenton und fragte dann ernst und bedächtig in die Kamera: „Können Sie sich DAS vorstellen? Ein Leben OHNE die Musik?“ Dann ging er ab.

Die fünf Herren verbeugten sich, und ich hatte das Gefühl, dass Dietmar Burdinski bei ihnen war. Es war aber keine traurige Atmosphäre, sondern eine herzliche, warme. In seinen Freunden und Kollegen hatte er jedenfalls einen tiefen Eindruck hinterlassen, und es war schön und richtig, dass sie ihn vielen anderen Menschen mit dem Buch und den Lesungen so liebevoll nahe brachten.