Rainald Grebe – Lesung – 19.10.2022 – Düsseldorf
Düsseldorf, Savoy
Auf der Bühne ein Tisch, ein Stuhl, rechts daneben ein Flügel. Im Hintergrund eine Leinwand. Rainald Grebe spielt kein Programm, er liest an diesem Abend. Angesichts des Flügels vielleicht auch mit Musik. Mal sehen. Als er auf die Bühne kommt, freut sich das Publikum und klatscht sehr laut. Er trägt T-Shirt und Jeans, weit, bequem, dazu Turnschuhe – es ist ein bewusst privater Look. Das Buch ist seine Autobiographie „Rheinland Grapefruit. Mein Leben“. „Was macht man bei einer Lesung?“, fragt Rainald als er sich setzt, und beantwortet es selber mit: „Wasser trinken, stilles. Und lesen. Eine Stunde lang. Danach Signage – (er spricht es französisch aus: Sig-naaasch) – am Büchertisch.“
Mit kurzen, oft abgebrochenen Sätzen beschreibt er, wie es zu diesem Buch kam. „Ich muss was erklären. Ich war 48. 49. Nicht wichtig. Wie kam ich drauf? Ich saß isoliert in Brandenburg. Da wohne ich. In Brandenburg. Ich weiß nicht, auf wie vielen Hektar. Sagt man Hektar? Oder Quadratkilometer? Nee, ich hab Morgen. MOORGEEN.“ Dass ein Verlag anfragte und er sehr verwundert über die Anfrage war. „Ich bin nicht Helene Fischer. Ich bin nicht A-prominent. Ich bin F-prominent – mit Hang zu E.“ Das Publikum lacht amüsiert und fühlt sich doch wie in einem Grebe-Programm.
Mit Blick in den Saal fragt Rainald: „Herr Ramm? Sind Sie da?“ und meint damit den hauseigenen Techniker, der wunschgemäß ein Foto auf der Leinwand einblendet. Ein Babybild. „Das bin ich“, erklärt Rainald. „Wen interessiert das denn? Niemand!“ Es folgen weitere private Fotos, treffend und lustig kommentiert, während Rainald abwinkend meint: „Interessiert ja auch keinen!“ – Ähm, doch. Ich könnte stundenlang gucken und grinsend und auflachend seinen Kommentaren zuhören. Die anderen Zuschauer anscheinend ebenfalls. „Ich lese auch gleich“, kündigt Rainald dem Publikum beruhigend an, erzählt aber erstmal weiter.
Dass sich fünf Jahre vorher bei ihm erste massive Zeichen einer Autoimmunkrankheit gezeigt haben. Bei der Kleingefäßvaskulitis kann es immer wieder Schlaganfälle im Gehirn geben. „In den letzten Jahren hatte ich elf Schlaganfälle. Also die, die ich gemerkt habe“, sagt er ruhig und leicht lächelnd, und das Publikum ist ganz still. „Man kann auch damit angeben. Und das mach ich auch“, mildert er ab und dreht es ins Leichte. Nach einem akuten Schlaganfall folgte nach der Krankenhausbehandlung eine Reha in einer Klinik in Teupitz. „Teupitz, das ist in Brandenburg“, erklärt er und seufzt angesichts der fehlenden Reaktion: „Ihr im Westen …“ Damit lenkt er geschickt davon ab, dass er selber ja im Rheinland aufgewachsen ist. Das ist inzwischen allerdings wirklich lange her.
Den Reha-Aufenthalt, für den alle Termine abgesagt waren, sah er als praktische Zeit für die Arbeit am Buch an. Vor allem, weil er durch die Schlaganfälle Erinnerungslücken hatte. Das Erinnern und Aufarbeiten wäre gleich Material fürs Buch. „Mein Hirn ist wie ein Nudelsieb. JETZT ist es Zeit für eine Autobiographie. Wo ich nicht weiß, wie es im nächsten Jahr überhaupt ist. Und ob überhaupt …“ Ehe die Stimmung ernst wird, zeigt er eine Zeichnung von einem in Teilbereichen explodierenden Hirn und erklärt, dass das sein MRT sei. Die Übergänge zwischen Wahrheit und erfundener Erzählung sind fließend und können sogar mitten im Satz drehen. Das ist ganz typisch für Rainald und macht Spaß. Die Dramaturgie muss stimmen, und das tut sie.
„Ich les‘ jetzt auch!“, versichert er wieder. Plötzlich kommt ihm das auf dem Tisch bereitstehende Wasser in den Blick. Er sagt: „Oh, hab‘ ich ganz vergessen“, und rasselt wie ein Mantra runter: „Wasser trinken. Wasser trinken. Wasser trinken. Lesung.“ Einen Schluck getrunken, dann liest er vor vom Check-in in der Reha-Klinik. Wie er mit distanziertem Beobachterblick in die andere Welt der Kranken blickt, auf Rollatoren und auf Patienten, bei denen er denkt, dass es die aber voll erwischt hat. Als würde er gar nicht dazugehören, als wäre er nur mal kurz zur Behandlung da und dann wieder zurück in der eigenen Welt. Seine Sorge angesichts seines Therapie-Stundenplans: Werde ich überhaupt am Buch arbeiten können?
Die Buchtexte sind tagebuchartige Einträge, die mit der Ankunft in der Reha starten, dazwischen eingeschoben Beschreibungen, Gedankensplitter und Rückblicke auf frühere Jahre. Im durchgetakteten Klinikalltag blitzen Erinnerungen auf, die er kurz erwähnt oder auch mal ausführlich schildert, ohne Wert auf die perfekte Vollständigkeit seines Lebenslaufes zu legen. Es geht nicht um Daten, es geht um Erlebtes, Gedanken und Gefühle. Die Texte nehmen sofort mit. Das ist alles nachvollziehbar und authentisch. Sehr sicher ist auch wieder zusätzlich Erfundenes eingebaut, einiges ist klar überzogen und so auch zu erkennen, dazwischen stehen manchmal Sätze, die so anrührend sind, dass sie mich tief treffen. Es gibt eingeschobene Zeilen in großer Schriftgröße, Gedichte, Fotos und wilde Zeichnungen. Auch wenn die Zusammenstellung zuerst durcheinander wirken könnte, passt alles und ergibt ein rundes Bild. Es ist fesselnd, spannend, tragisch und lustig.
Beim Vorlesen ist Rainald ruhiger und gedämpfter als bei seinen Zwischenerzählungen. Als hätte der lebendige und unberechenbare Rainald, wenn er aus dem Buch liest, eine dicke Jacke an, die die spontane Beweglichkeit einschränkt. Es ist ja alles vorformuliert und muss nicht spontan ergänzt oder neu formuliert werden. Es bleibt aber trotzdem Rainald – es sind seine Gedanken, die man hört, und der Kontrast zwischen ruhigeren Lese- und dynamischen Erzählpassagen ist schön.
Seine Stimme ist etwas angegriffen und gerade beim Vorlesen fällt auf, dass sie manchmal ganz leicht verwaschen ist. Vielleicht fällt es aber auch gar nicht allen Zuschauern auf, sondern nur denen, die seine akzentuierte Bühnenstimme gut kennen. Das zeigt aber auch, dass es doch ganz schön ernst war, auch wenn Rainald ansonsten wie der auch vorher von Ideen und Gedanken sprühende Bühnenmensch wirkt. Die Zunge braucht eben noch etwas mehr Konzentration, aber das stört nicht. Das braucht alles seine Zeit, er macht das schon, und in erster Linie ist es der vertraute Rainald Grebe auf der Bühne, der ein fesselndes Programm macht.
Im Buch steht nicht die Krankheit im Mittelpunkt, die sich plötzlich ins Leben gedrängt hat, sondern Rainalds Umgang damit. Er beobachtet, analysiert und ist durchaus auch interessiert an der ungewöhnlichen Situation. Plötzlich ist er nicht mehr der Macher, mit ihm wird gemacht. Er entdeckt Lustiges, Tragisches und Schräges neben unspektakulär Alltäglichem. Von großen philosophischen Gedanken kommt er ohne Übergang zu ganz kleinen. Mal ist er kämpferisch, mal ergeben, mal trostlos und besorgt, aber immer wieder ist seine Energie zu spüren und der Blick nach vorne. Er will. Künstler sein, auf die Bühne, weitermachen. Das Buch ist ein gedankenblitzendes, berührendes, schillerndes Rainald-Grebe-Bühnenprogramm in Buchform.
Am Flügel spielt er „Captain Krümel“, ein melancholisches Lied über das Verlorensein in der Pubertät. Das passt gut. „Krümel, Krümel, was ist los mit dir?“ Damals zeigt es ihn verunsichert und den Weg suchend zwischen Kindheit und Erwachsensein, jetzt zeigen sich Parallelen zu seinem aktuellen Leben zwischen Reha und Bühne. Den Weg suchen, Ungewissheit, abwarten müssen, das Leben wild und frei leben wollen.
Als Kind und Jugendlicher war Rainald Grebe vollgepackt mit Wissen. Vogelkunde, Briefmarken, Paninibilderalbum. Auswendig gelernte Informationen, jederzeit abrufbar. Er zeigt Bilder und Zeitungsberichte. Aber sein Gehirn, die verlässliche Basis im Kopf mit einer unglaublichen Leistungsstärke, funktionierte nach den Schlaganfällen nicht mehr zuverlässig, hatte Lücken. „Wofür habe ich das alles gelernt?“, fragt Rainald. „Wo ist das hin?“
Er beschreibt, wie er in seiner Jugend nach vielen klassischen Etüden auf dem Klavier ein Billy-Joel-Notenbuch kaufte und sich zuhause damit ans Klavier setzte. Das zeigt er am Flügel im Savoy. Das dicke, immer wieder zuklappende Notenbuch hält er mit der linken Hand fest, mit der rechten Hand schlägt er zögernd die Akkorde an, die er im Notenbuch liest. Dazu singt er langsam und mit Tastensuch- und Umblätterpausen „She’s got a way“. Es ist zu spüren, wie wichtig dieser Moment damals für ihn war, als er entdeckte, dass er am Klavier mit seinen gelernten Akkorden plötzlich ganz andere Musik machen konnte. Das ist wunderschön und sehr berührend. Und es schlägt einen Bogen zu einer vorherigen Bemerkung, dass er nach dem Schlaganfall nicht mehr Klavierspielen konnte. Vermutlich saß er auch da wieder zögernd und langsam Akkord für Akkord anschlagend vor den Tasten.
Die Krankheit von Rainald hat den Tod, der erst am Ende eines langen Lebens stehen sollte, plötzlich in den Blick gerückt. Er kann noch ganz weit weg sein und ist es hoffentlich auch, aber die Möglichkeit, die vorher so unwahrscheinlich war, ist auf einmal im Raum. „Der Tod. Wie wird es ablaufen?“, fragt Rainald und weiß schon die Schlagzeile: „Rainald Grebe, in Klammern: Brandenburg, an Schlaganfall verstorben!“ Er liest kurze Zeilen vor, typische Nachrufe auf Facebook, Instagram und Twitter. „Ich bin sprachlos!“, „Die Tournee wird ewig weitergehen!“ Sie sind erschreckend genau so, wie sie sein würden. „Und dafür machst du das? Für zwei Tage Kondolenz im Netz?“, fragt er sich. Im Publikum ist es ganz still. Ich bin betroffen und traurig, denke aber gleichzeitig anerkennend: Dramaturgie kann er. Das Wechseln zwischen Leben, Lachen und Tod macht er gut und genau richtig. Die Realität im Blick, pragmatisch und dabei mit einem guten Gefühl für Tiefen und Höhen.
Er liest noch ein Stück aus dem Buch – wie er bei einer Feier in der Reha unerwartet „Brandenburg“ spielen sollte und sich langsam, Akkord für Akkord dranbegeben hatte -, kommentiert dann: „Warum spiele ich das eigentlich immer so schnell?“, und beendet die Lesung lächelnd mit dem Hinweis: “Es ist ja auch eine Verkaufsveranstaltung. Ich kann nicht in einer Stunde ein ganzes Leben erzählen.“ Das Publikum klatscht ihn viermal wieder auf die Bühne, wo er sich aber immer nur verbeugt und erneut abgeht. Draußen wartet schon der Signiertisch.
Das Licht im Saal geht an, das Publikum steht auf und während des Rausgehens wird vom Band „Piano Man“ von Billy Joel gespielt. Das passt wunderbar.
„Son, can you play me a memory? I’m not really sure how it goes.
But it’s sad and it’s sweet and I knew it complete, when I wore a younger man’s clothes.“
(Mein Sohn, kannst mir eine Erinnerung spielen? Ich bin mir nicht wirklich sicher, wie sie geht.
Aber sie ist traurig und sie ist süß und ich kannte sie auswendig, als ich noch die Kleidung eines jüngeren Mannes trug.“)
Wie gut die Lesung angekommen ist, ist im Foyer zu sehen. Noch während die Wartenden in einer Schlange am Signiertisch anstehen, ist vorher ausgelegte Bücherstapel verkauft. Der zuständige Buchhändler ist verblüfft: „Das waren so viele Bücher! Die sind ja dick und schwer. Und dann der Preis! (28,- Euro) Ich dachte, ich muss die meisten wieder zurückschleppen.“ Die restlichen Besucher in der Schlange gucken enttäuscht, und viele holen ihre Eintrittskarte hervor, damit zumindest die signiert wird.
Sehr klasse! Der Abend und das Buch.