Berichte

Purple Schulz, Josef Piek, Tommy Engel – 12.07.2004 – Köln

Purple Schulz & Josef Piek machen Gemeinsame Sache mit Tommy Engel.
Theater im Bauturm, Köln

Der letzte von sechs Montagen mit der Gemeinsamen Sache war da. Ich hätte tieftraurig durch den Tag rennen müssen, aber ich freute mich viel zu sehr auf den Abend. Der Gast war Tommy Engel, was ich ziemlich sensationell fand. In Köln war er schon sowas wie eine zum Glück immer noch sehr lebendige Legende. Dass er zu Purple Schulz und Josef Piek in das Theater am Bauturm kam, fand ich superklasse. Nicht nur ich, denn die Vorstellung war mehr als ausverkauft und es gab eine lange Warteliste mit wenig Chancen aufs Vorrücken.

Wie die vielen Leute, die sich im Foyer und vor dem Eingang befanden, dann alle einen Platz im Theaterraum fanden, wird mir für immer ein Rätsel sein. Der Saal sah schon voll aus, da stand immer noch eine lange Schlange von Zuschauern vor der Türe. Aber irgendwie ging es. Die Stühle waren dicht gestellt, in einigen Reihen rückten 9 Personen auf 7 Sitze, und auch die zusätzlichen Bierbänke boten Plätze. Was tat man nicht alles, um bei diesem Abend dabeizusein.

Die Stimmung war von Beginn an leicht aufgedreht. Auch Josef und Purple wirkten sehr gut gelaunt und schienen sich auf den Abend mit diesem besonderen Kölner Gast zu freuen. Sie gestalteten wie üblich den ersten Teil des Abends mit Liedern aus ihrem Duo-Programm. Ich genoss es intensiv, denn es war vorerst mein letztes Konzert von ihnen nach dieser sechsmaligen wöchentlichen Dosis, die mir sehr gut gefallen hatte.

Was hatten die beiden für schöne Lieder! Ich hatte noch lange nicht genug davon gehört und war jedes Mal wieder begeistert von der Intensität und der Wärme, die dabei rüberkamen. Es war gefühlvoll, berührend, wunderschön, dann auch mal witzig, aber niemals platt. Auch das Publikum an diesem Abend war sehr gut. Aufmerksam, interessiert und ganz positiv eingestellt.

Purple und Josef spielten sehr gut, und wer vielleicht nur wegen Tommy Engel gekommen war, erlebte trotzdem eine tolle erste Konzerthälfte. Während der leisen Stücke blieb es im Zuschauerraum absolut still, einige Paare rückten noch enger zusammen und alle hörten konzentriert zu. Beim Mitklatschen war das Publikum zwar etwas lahm, das lag aber eher daran, dass niemand etwas vom Text verpassen wollte. Der starke Applaus nach den Stücken zeigte jedenfalls, dass das Programm sehr gut ankam.

Der Hammer des Abends war “Sehnsucht”. Nicht nur, dass die Beklemmung und Ernsthaftigkeit sofort rüberkamen und im Raum zu spüren waren, diesmal war auch der Schrei “Ich will raus!” noch entsetzlicher als sonst. Hallig, laut und einfach schrecklich. Ich habe keine Ahnung, woher Purple in diesem Augenblick die spürbare Verzweiflung nimmt, aber ich will es vielleicht auch lieber nicht wissen. Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken, als der Schrei im ansonsten totenstillen Raum verklang, und ich musste danach erstmal tief Luft holen. Uaaaah! Meine Güte – ich gewöhn mich da nie dran!

Nach dem Lied donnerte der Applaus los, was nicht daran lag, dass es früher mal ein Hit war, sondern eher an der beeindruckenden Art, wie es an diesem Abend gebracht worden war. Puh, das muss man auch als Zuhörer erstmal verkraften. Zum Glück gab es danach noch versöhnlichere Lieder zu hören, sonst wären alle wohl ziemlich geschafft und bedrückt in die Pause gegangen.

Nachdem das Hallo-Rufen der Zuschauer zum akustischen Beenden der Pause in der letzten Woche so hervorragend geklappt hatte, gab Purple auch diesmal Verhaltens-Anweisungen für das Ende der Pause. “… dann kommt ihr einfach wieder rein und ruft ganz laut: “Hallo-hallo-hallo!”, dann kommen wir wieder!” Gute Idee, aber diesmal lag das Problem beim Publikum. Die ersten Spaßvögel riefen nämlich laut „Hallo!“, als sie wieder auf ihren Plätzen saßen, obwohl der Saal noch halb leer war. Das war natürlich blöd.

Nach einigen Rufen tauchte kurz das Gesicht von Josef an der Treppe vom Backstagebereich auf, der verwundert nachguckte, ob wirklich schon der Beginn der zweiten Hälfte angesagt war. Nach einem Blick auf die vielen leeren Stühle verzog er sich aber sofort wieder. Etwas später waren alle Zuschauer wieder drin, die Türe längst geschlossen – aber da rief keiner mehr! Gespannte Erwartung beim Publikum, letzte Unterhaltungen, aber keinerlei Aktivität, um die Hauptdarsteller auf die Bühne zu holen. Die Zeit verging, ich überlegte schon, ob Purple und Josef das knallhart durchziehen würden, da rief endlich eine Frau sehr laut: „Hallo!“, und sofort setzten weitere Stimmen ein. Ach ja, man musste die ja rufen! Purple und Josef kamen sofort auf die Bühne, und Purple sagte mahnend: „Man muss nur laut genug rufen!“ Wie lange hatten sie sprungbereit und inzwischen vielleicht schon leicht genervt auf der Treppe gesessen?

Purple packte seinen dicken Ordner mit Texten auf das Keyboard und kündigte den Gast des Abends an. „Er hat es geschafft einer Stadt eine Stimme zu geben, eine Stimme, die uns immer gerührt hat und die uns Geschichten erzählt hat und von der wir nie genug bekommen konnten. Ich bin wahnsinnig stolz, dass er heute hier ist, und ich glaube, der Josef nicht weniger. Begrüßt mit mir ganz herzlich: Tommy Engel!“ Der Jubel der Zuschauer ging los, und Tommy Engel kam gut gelaunt grinsend auf die Bühne und setzte sich auf einen Stuhl in der Mitte.

Auch er freue sich da zu sein und mit Purple und Josef gemeinsam Musik zu machen, sagte er. „Es ist eine nette Art zu musizieren, so zu dritt, quasi wie im Wohnzimmer. Ich bin sehr gespannt, was wir hier jetzt machen.“ Allerdings war es ihm schon etwas warm (das Bauturm-Theater verlangte auch bei kühler Außentemperatur nach sommerlich- luftiger Kleidung) und ihm fiel auf, dass er nichts zu trinken hatte. „Ich brauche, vielleicht kann man das noch irgendwie bewerkstelligen, ich brauche nachher irgendwie …“ Josef reichte ihm stumm eine Wasserflasche herüber, und Tommy Engel brach den Satz mit einem kurzen „Danke!“ ab. „Ist zwar mit Bubbel, das wird sich gleich zeigen, ob das in Ordnung war.“ Er schraubte den Deckel ab, trank einen Schluck, verzog das Gesicht und schüttelte sich wegen der Kohlensäure: „Buuuah!“ Die Zuschauer lachten vergnügt los, die Stimmung war prächtig.

Tommy Engel guckte auf seinen Zettel: „Das erste Lied, das wir singen, heißt …“ „Nicht verraten!“, bat Purple, und Tommy fragte: „Soll ich nicht verraten? Ja, gut, … dann sag ich auch nichts.“ Gelächter, und Josef setzte mit der Gitarre ein. Nach einigen Takten begann Tommy mit dem Leadgesang und es war eine mir so vertraute Stimme, dass ich vor Freude lächeln musste. Leicht, locker, schön, sanft, wiedererkennbar Stimme. Das Lied hieß ‘Leck ens am Arsch’, war eine schöne Mischung aus lustig, aber auch ein wenig nachdenklich, und ging um Sachen, die man nicht konnte oder nicht hatte. Ein sehr schöner Einstieg in das Programm, der aber nicht sofort losfetzte und bei dem man lachen konnte.

In der letzten Zeile sprach Tommy … – und hier unterbreche ich mal schnell und kündige an, dass ich die kölschen Ausdrücke des weiteren Abends, soweit ich dazu fähig bin, auf Kölsch schreibe und dahinter immer in Klammern die Übersetzung stelle, um auch den Nicht-Rheinländern einen komplett verständlichen Bericht zu bieten.

Also nochmal: In der letzten Zeile sprach Tommy in die ausklingenden Akkorde: „Kumm Aujust, dunnens jett flööte!“ (Komm, August, flöte etwas!), setzte zum Pfeifen an und brachte nur ein paar jämmerlich hauchige Töne raus, die ihn und das Publikum sofort zum Lachen brachten. Als der Applaus und das Gelächter aufgehört hatten, erklärte Tommy Engel, was diese letzte Zeile bedeuten sollte: „Mein Bruder August, der konnte nämlich nicht pfeifen. Der konnte NICHT PFEIFEN!! Ich hab immer gesagt: August, dunnens einmal flöte!, un er: „ffff ffff“.“

Purple lachte vergnügt und zitierte aus dem Text des Liedes: „Ich hab mich immer gefragt, was heißt das denn: „Et is nit schlääsch, wenn man sich winnisch bewääsch.“ (Es ist nicht schlecht, wenn man sich wenig bewegt), sprach dabei aber das ‘winnisch’ wie ‘finnisch’ aus. Er fügte hinzu: „Also ‘finnisch’ hab ich nicht verstanden.“ Tommy Engel guckte ihn verwundert an: „Wie ‘schwedisch’ oder so?“ „Ja, wie die Finnen sich bewegen“, bestätigte Purple. Tommy blickte ihn ruhig an: „Ahja“, wiederholte dann genüsslich: „Wie man sich finnisch bewääsch“, und lachte amüsiert: „Sehr gut!“

Wunderschön ruhig und sanft danach das alte Bläck Fööss Lied ‘Ich han ’nen Deckel’. Tommy Engel dabei mit Mundharmonika oder Rhythmus-Ei, Purple am Keyboard und Josef an der Gitarre. Das Publikum war ganz ruhig und versank in dem schönen Klang. Da saßen drei Leute auf der Bühne, die mit Herz, Gefühl und viel Können gemeinsam Musik machten, und die Echtheit und Freude kam einfach rüber. Schön war auch, dass Tommy Engel inzwischen wieder ziemlich ungezwungen mit dem Thema Bläck Fööss umgehen konnte. Es war ein Teil seiner Biographie, er würde immer mit einem Stück seines Herzens ein Bläck Fööss bleiben, auch wenn er nicht mehr dabei war, und viele der alten Lieder würden für immer mit seiner Stimme verbunden bleiben.

Tommy guckte sich nach dem Lied um und meinte ganz ernsthaft: „Also ich find’s hier wirklich schön. Ich hätt‘ nicht gedacht, dass es so schön wird, weil ich hab’ in so kleinen Räumen noch nicht gespielt.“ Schallendes Gelächter vom Publikum, Purple und Josef grinsten los. Josef guckte zu ihm rüber und sagte: „Thomas, das ist zum dran Gewöhnen für später“, woraufhin alle erneut losplatzten.

Vom Schlagwort ‚kleine Räume‘ leitete Tommy Engel extrem geschickt sofort auf das nächste Lied über, nämlich ‘Short people’ von Randy Newman, das in der kölschen Version ‘Klein Minsche’ (Kleine Menschen) hieß. Es war superwitzig, was zum großen Teil am kölschen Text lag, aber auch an der Art, wie der selber nicht üppig groß gewachsene Tommy es sang und dabei mimisch das Gesicht verzog. Die Zuschauer lachten immer wieder laut los und hatten viel Spaß bei Formulierungen wie „se han klitzeklein Zäng“ (Sie haben klitzekleine Zähne) oder „kote Bein, en Fott an d’r Äd“ (kurze Beine, den Hintern an der Erde). Am Schluss sangen Purple und Josef noch mehrfach sanft den Refrain, während Tommy laut und genervt herummoserte: „Ich hab gesagt, du sollst dir die Leiter holen, wenn du nicht drankommst! Nimm dir doch die Leiter! … NIMM DIE LEITER!! … Ach, komm, ich mach et selber!“

An die Bühne wurden von einem Helfer neue Getränke gebracht. Tommy nahm eine Wasserflasche an und fragte: „Also ich muss von dem Wasser immer so ein bisschen …, hast du sowas nicht in still?“ Er sah sich zu Purple und Josef um, die Bierflaschen in den Händen hielten, und stellte fest: „Ah, die sind Bier am trinken, die zwei. Ist auch nicht schlecht.“ Er stellte die Wasserflasche neben sich auf den Boden und fragte dabei gespielt besorgt: „Aber ihr begleitet mich doch weiter, oder?“ Josef meinte: „Wenn wir kölsch singen, können wir auch Kölsch saufen.“

Ich fand es schön, dass es viele ruhige Stücke im Programm gab. Tommy Engel war nicht Karneval, es wurden nue einige gute Bläck Fööss Lieder im Karneval gespielt, aber sehr viele seiner Lieder waren ernsthaft, sensibel und berührend. Bei ‘Hadder nit jesin’ (Habt ihr nicht gesehen) ging es um das Wegsehen bei Gewalt. Sehr schöne Akkorde und ein ernster Text, der abwechselnd von Tommy, Josef und Purple gesungen wurde. Ein sehr gutes Lied, das betroffen machte und außerdem zeigte, dass die kölsche Sprache überhaupt nicht lustig sein muss.

Auch „Dräume“ war ruhig und sentimental. Eine wunderschöne Begleitung von Keyboard und Gitarre, dazu die sanfte Stimme von Tommy Engel, im Refrain mehrstimmig unterstützt von Josef und Purple. Die Atmosphäre im Bauturm-Theater war inzwischen ganz intim und privat. Jedes Türaufreißen hätte sofort brutal gestört. Tommy Engel fühlte sich sichtlich wohl in diesem kleinen Kreis und saß locker und zufrieden zusammen mit Purple und Josef auf der Bühne. Alles war harmonisch und entspannt. Superschön!

„Das nächste Lied eröffnet einen kleinen Block“, erklärte Tommy Engel und kündigte „I’m only sleeping“ von den Beatles an. Super! Ich wusste, dass er Beatles-Fan war und freute mich auf die Sachen, die er mit Purple und Josef gemeinsam bringen würde. Natürlich war es klasse. Drei klasse Musiker, die klasse Musik brachten und ein klasse Publikum hatten. Was konnte da schief gehen? Schön war auch, dass sie nicht die Knaller-Nummern der Beatles, sondern eher unbekanntere Stücke gewählt hatten.

Es ging mit westernmäßigen Akkorden weiter, zu denen Purple und Josef mit tiefen Stimmen sangen: „I was born under a wand’ring star“, woraufhin Tommy kopfschüttelnd losgrinste: „Dat is ’ne Gag!“ und es nicht glauben wollte. Zum passenden Zeitpunkt blies Josef dann lässig in die Mundharmonika, die in einem Gestell um seinen Hals hing, um mit dem eigentlich geplanten Lied zu beginnen, aber es kam ein völlig schräger Ton heraus. Er verzog sofort das Gesicht, und während Tommy Engel loslachte und Purple grinsend das Publikum beruhigte: „Wir haben noch mehr Mundharmonikas, keine Angst!“, fummelte er schnell die falsche Mundharmonika aus dem Gestell und stöhnte: „Peinlich!“

Mit ausgetauschtem Instrument ging es endlich mit dem richtigen Lied los und die softe, lässige, englische Version von „Verliebte Jungs“ waberte entspannend durch den Raum. Tommy Engel setzte immer wieder bei der Refrainstelle „Young boys in love“ ein. Am Ende eines Refrains fragte Purple: „Kennste das, Tommy?“, der nickte und sang nun seinerseits die Zeilen der ersten Strophe auf kölsch. Wunderbar lässig, aber plötzlich kamen im Text die Wörter „Pascha“ und „poppen“ vor. (Anmerkung: „Pascha“ ist ein großes Bordell in Köln, und „poppen“ … ist nicht kölsch.) Das Publikum lachte laut auf. Tommy Engel guckte vorwurfsvoll abwechselnd zu Josef und Purple und tat erbost, dass sie ihm einen solchen Text untergeschoben hätten. Purple hob unschuldig die Hände und Josef sagte protestierend: „Ich hör den zum ersten Mal!“

Kaum hatte sich das Gelächter gelegt, ging es mit dem Refrain der ‚Verliebten Jungs‘ weiter, diesmal aber mit verändertem Text. „Dat is kei Kuns, jet anderes ze singe, mit de Wöder rumzespringe, wenn ma Kölsch kann, kritt ma jede Dress zem klinge.“ (Das ist keine Kunst, etwas anderes zu singen, mit den Wörtern rumzuspringen, wenn man Kölsch kann, kriegt man jeden Scheiß zum Klingen.) Das lachende Publikum sollte diesen Refrain schließlich alleine singen, setzte herzhaft mit „Dat is kei Kuns …“ ein und stockte sofort, weil sich niemand den kompletten Text hatte merken können.

„Und??“, fragte Tommy Engel fordernd, aber es kam immer nur der Beginn zustande: „Dat is kei Kuns!“ Lässig spielten Josef und Purple den Refrain weiter, Tommy winkte alle weiteren Versuche des Publikums den Zwischentext zusammenzuholpern ab und nickte beruhigend mit dem Kopf, was bedeuten sollte, dass die eine Zeile an der richtigen Stelle ausreichend wäre. Er gab jedes Mal den Einsatz, wenn die Stelle mit den vier Wörtern kam und sagte verständnisvoll: „Da ist man nicht so oft dran, da hat man wat mehr Zeit.“

Er bückte sich während des immer wiederholten Refrains nach seiner Wasserflasche und drehte sie auf, während er verzückt rief: „Ich liiiiiebe diesen Beruf“. Nebenbei gab er dem Publikum lässig mit einer Hand den nächsten Einsatz. “Dat is kei Kuns …”

„Ich wage es gar nicht zu sagen, es geht weiter in unserem kleinen Beatles-Block“, berichtete Tommy mit Blick auf seine Zettel. „Wo wir gerade gesagt haben, mit Kölsch kritt man jede Dress zem klinge … mmmh … woll’n wir mal schauen.“ Er nickte Josef zu: „Kanns aanfange!“, beugte sich dann verschwörerisch zu ihm rüber, während die ersten Gitarrenakkorde erklangen und flüsterte gut hörbar: „Ich hol dich wieder ein!“ Josef spielte ein paar Takte weiter, brach aber plötzlich klagend ab: „Ich hab den Text nicht!“, und begann in den Zetteln zu wühlen, die vor ihm auf dem Boden lagen. „Willste mit mir mit gucken?“, fragte Tommy Engel hilfsbereit und hielt seinen Textzettel so, dass Josef mit drauf gucken konnte. Dem reichte aber ein Blick aus der Ferne, so dass der Zettel wieder auf den Notenständer wandern konnte. „Kannste lesen?“, fragte Tommy besorgt und Josef nickte.

Es ging mit ‘Rain’ von den Beatles los, das auf ‘Ping’ (Schmerzen) umgeschrieben war. „Ping dun so wieh, wenn et treck im Jebälk, ich künnt sterve“, (Schmerzen tun so weh, wenn es im Gebälk zieht, ich könnte sterben) jammerte Tommy Engel zu softer Musik und nahm die Schmerzen wie ein Mann. Klagend und schlapp. Es war superlustig, und auch Purple am Keyboard lachte immer wieder los, weil der Text witzig war und Tommy Engel es sehr klasse brachte. Langsam und mit gedehnten, gezogenen Tönen, die genau zur klagenden Stimme passten.

Im Programm ging es mit einem Beatles-Lied von 1964 weiter. „Da waren manche, die jetzt hier sind, noch gar nicht auf der Welt,“ sagte Tommy Engel und setzte nach einer Pause knapp hinzu: „Ich schon.“ „Ich auch“, sagte Josef, und Tommy staunte: „Du auch? Ja, der Purple auch. Dem sieht man das gar nicht an. Der ist ja jung geblieben. Unheimlich, was? Ich find, der sieht doch nicht aus wie … fünfzig, oder doch?“ Purple kam in diesem Moment aus dem Backstagebereich zurück, wo er ein Plektron für die Gitarre geholt hatte, und Tommy Engel rief laut: „Du hättest ein Handtuch mitbringen können!!“, woraufhin sich Purple sofort wieder umdrehte und verschwand. „Ja, es wird langsam etwas warm hier“, erklärte Tommy dem Publikum, „aber man kann es aushalten. Ich hab‘ schon wärmere Konzerte gegeben“. In diesem Moment sprang er wie gestochen vom Stuhl hoch, stürzte zum Ventilator am Bühnenrand und machte ihn an. „Das ist nicht unangenehm“, stellte er fest, als er wieder saß.

Purple kam wieder, reichte ihm ein Handtuch und wischte ihm gleichzeitig mit einem zweiten über die Stirn. „Nee, is joot“, wehrte Tommy Engel ihn ab, tupfte dann mit dem eigenen Handtuch übers Gesicht und sagte: „Nur mal so’n bisschen, dann is genug.“ Sein Blick fiel auf den neben ihm sitzenden Josef, der konzentriert seine Gitarre stimmte und er fragte sehr fürsorglich: „Brauchst DU eins?“, und tupfte ihm, ehe der antworten konnte, wild und gründlich über die Stirn und das ganze Gesicht. „Komm mal her! Für den Kopf!“

Josef hielt wie ein kleiner Junge ganz still und ließ die Prozedur brav und protestlos über sich ergehen. Es hätte nur noch gefehlt, dass Tommy Engel auf das Handtuch gespuckt und irgendwelchen Dreck im Gesicht weggerieben hätte. „Is besser?“, fragte Tommy danach mütterlich, und Josef nickte stumm und setzte nach einem kurzen Moment ein grinsendes: „War vorher auch nicht schlecht“, hinterher. Das Publikum lachte total vergnügt über die Szene.

Tommy Engel wirkte sehr nett und sympathisch, er erzählte locker und ging auch gerne auf Zurufe ein, die immer mal wieder aus dem Publikum kamen. Die Zuschauer fühlten sich ebenso wohl und die Atmosphäre auf der Bühne war freundschaftlich und voller Gelächter. Aber gleichzeitig konnte man den Respekt spüren, den die drei Musiker voreinander hatten. Da hielt jeder den anderen für einen außergewöhnlich guten Musiker und hatte Achtung vor der Leistung, die der brachte. Außerdem waren sie alle Vollblutmusiker, die nicht viel künstlichen Schnickschnack brauchten, sondern lieber mit handgemachter, ehrlicher Musik loslegten. Es machte sehr viel Spaß, ihnen dabei zuzuhören und es sah so aus, als hätten auch sie eine große Freude am gemeinsamen Musikmachen.

Inzwischen hatte sich Purple neben Tommy gesetzt und ebenfalls eine Gitarre in der Hand. „Okay?“, fragte Tommy und wollte mit dem Lied loslegen, aber Purple kramte noch schnell seine Brille aus der Hemdtasche. „Moment, wenn ich Gitarre spiele, will ich auch aussehen wie Clapton!“ „Oder wie Reinhard Mey“, fand Josef. Tommy Engel grinste breit und kramte ebenfalls aus seiner Hemdtasche die Brille hervor. Er setzte sie auf, guckte zum Textblatt und schluchzte begeistert: „Ich kann sehen! Ich kann sehen!!“, Das Publikum lachte los und er freute sich: „Ist doch immer wieder erstaunlich, was man, wenn man die Brille aufzieht, alles sieht.“ Testweise setzte er sie auf und ab, blickte dabei auf das Textblatt und klappte sie am Ende doch wieder zu, um sie in die Hemdtasche zu stecken. „Ich versuch’s nochmal so. Wenn’s hell ist, kann ich gut sehen.“

Er guckte zu Josef: „Klar?“, und wollte mit dem Lied beginnen, aber beide Gitarren mussten noch gestimmt werden. Bing, Bing, Bong, Bung, Biiiiong, klang es zu seinen beiden Seiten, als an den Gitarren geschraubt wurde, und Tommy Engel stöhnte: „Immer diese Instrumentalisten. Jetzt weiß ich auch, warum ich Schlagzeug gelernt habe.“ Er starrte seufzend ins Publikum und wartete ab. Mit genervt verzogenem Gesicht jammerte er schließlich: „Dass die Töne aber auch alle STIMMEN müssen“, und seufzte laut und vernehmlich.

Aus dem Publikum rief plötzlich ein Mann: „Es reicht!“, und Tommy Engel freute sich lachend, stimmte ihm lebhaft zu, und ‘No reply’ konnte losgehen. Wieder ein Beatles-Lied, diesmal aber textlich nicht verändert. Das Publikum klatschte sofort im Takt mit und ich fand es wieder mal klasse, mit wie wenig Aufwand diese drei Leute auf der Bühne einen Raum voll Musik machen konnten.

„Wir kommen von einer Boygroup zur anderen“, sagte Purple und Tommy erzählte etwas über die ‘Vier Botze’, von denen das nächste Lied war. „Die waren ja früher hier in Köln wie die Beatles”, und erwähnte gar nicht, dass sein Vater einer dieser damaligen Stars gewesen war. Netterweise hat die Oma meines Gatten, die mitten im Kölner Severinsviertel aufgewachsen ist, die Botze noch live erlebt, als sie durch die Straßen zogen und sangen. Schön war auch, dass sie inzwischen 96 Jahre alt war und sich immer noch gut daran erinnern konnte. Irgendwie hatte sie damit noch eine Verbindung zum Vater von Tommy Engel. Dass sie früher Schulz hieß und damit auch eine Verbindung zu Purple hatte, machte die Sache noch interessanter. Nur wie der Josef da reinpasste, musste ich noch herausfinden.

Die ‘Feuerwehr vun Walberberg’ war ein Lied im typischen frühen Kölner Krätzje-Stil. Mehrstimmig, instrumental begleitet, und in viele Strophen mit einer Geschichte voller Humor über eine dörfliche Feuerwehr. Tommy, Purple und Josef sangen gemeinsam, und hatten die typischen, etwas verzogen gequetschten Stimmen. Das Programm erwies sich als total gemischt und abwechslungsreich.

Tommy Engel verzichtete weiterhin heldenhaft auf seine Brille, guckte angestrengt auf das Programmblatt und sagte: „Das nächste Lied ist von LSE, das sehe ich.“ Es hieß ‘Et Hanna hätt et Henna in de Hoor’ (Die Hanna hat Henna im Haar) und spielte sehr witzig mit allen Klischees um alternative Aussteiger und deren Kinder, die gerne Fleischwurstbrötchen aßen. Im Zwischenteil spielte er schön soulig Mundharmonika, und am Ende klatschte das Publikum begeistert im Rhythmus mit. Damit war dann schon das offizielle Ende des Programmes erreicht. Die drei Akteure standen auf, um sich gemeinsam zu verbeugen, und das jubelnde Publikum rief sofort nach Zugaben.

Purple ging auf der Bühne nach hinten, Tommy Engel quatschte kurz mit Josef, ging dabei mit ihm wieder nach vorne und Josef setzte sich gedankenlos auf seinen Stuhl zurück. Tja, eigentlich hätte er abgehen müssen, denn das Programm war ja beendet, aber jetzt war es blöde, wieder aufzustehen. Purple kam auch zurück nach vorne und Tommy stellte schon seinen aus dem Weg geräumten Stuhl wieder zurecht. Josef erklärte dem Publikum: „Wir tun jetzt so, als wären wir schon runtergegangen und dann zur Zugabe wieder rausgegangen. Dann sparen wir uns den Weg durch die … enge … “ Purple: „Durch die Menge?“ Josef: „Durch die ENGE Treppe“. Tommy: „Den Weg durch den Engel. Jaja. Das möcht ich sehen.“ Das Publikum war inzwischen so gut drauf, dass es über alles lachte und einfach nur vergnügt war. Ein einfaches, ernstes „Hallo!“ hätte den Saal zum Toben gebracht. Was für eine Stimmung!

Tommy Engel guckte auf Josefs Gitarre: „Was haste für Töne? Kann ich mitspielen?“ Er tippte auf ein Textblatt und fragte Josef: „Guck mal, willst du DAS machen? Das hier?“ Ein Zuschauer rief: „Zugabe!“ und Tommy guckte zu ihm hin und erklärte: „Wie? Zugabe? Steht doch nicht drauf ‘Zugabe’!“ Er zupfte an seinem Hemd und schlug vor: „Wir könnten gleich noch einen kleinen Aufguss vertragen!“ Purple sprang auf und drehte sein Handtuch mit Schwung über den Kopf. „Ach, schön! Ach, das ist wunderbar!!“, stöhnte Tommy im Luftzug zufrieden.

Dann sagte er vergnügt: „Ich find, es ist herrlich hier. Ich hab mir das schlimmer vorgestellt. Schon mit der Temperatur habe ich mir das schlimmer vorgestellt. Ich finde, man kann das sehr gut aushalten. Ich schwitze kein bisschen!“, und sank mit gespielt erschöpftem Gesichtsausdruck zusammen. Dann schüttete er etwas Wasser aus seiner Flasche auf die Hand und tupfte es sich grinsend hinter die Ohren.

Josef spielte auf der Gitarre die ersten Töne und der ‘Saunaboy’ ging los. Das passte temperaturmäßig. Sehr soft und lasziv, und ziemlich sexy sang Tommy die Leadstimme und Josef übernahm mit Purple den Background. Sehr, sehr gut! An einer Stelle war ein Gitarrensolo dran, das Tommy laut mit „Solo!“ ankündigte und dabei Josef anguckte. Der setzte aber nicht mit der Gitarre sein, sondern sang es: „Didipti-ti-ti-dididim …“ Tommy Engel grinste vergnügt.

Nach dem Lied sagte Josef: „Für alle, die nicht glauben, dass ich das Gitarrensolo auch SPIELEN kann, die können ja bis nachher warten, dann spiel ich das denen nochmal LANGSAM vor.“ Tommy lachte dreckig: „Ach, spiel es doch JETZT mal!“, und das Publikum rief auffordernd: „Josef!!“ „Nur den Anfang“, stimmte der zu, verhaspelte sich aber sofort und brach dann nach einigen Takten ab: „… und so weiter.“

Alle lachten vergnügt, und es ging sofort mit ‘In uns’rem Veedel’ weiter, das zu einer Art Hymne von Köln geworden war. Tommy Engel sang es sanft und ruhig, im Publikum wurde auf einigen der engen Bankreihen leicht geschunkelt, teilweise leise mitgesungen, und beim Refrain setzten die Zuschauer so intensiv, aber trotzdem leise und nicht brüllend ein, dass mir eine Gänsehaut den Rücken runterlief. Superschön und sehr berührend.

Riesenapplaus danach, die drei Musiker verbeugten sich sehr zufrieden, außen leicht lächelnd, aber von innen strahlend. Sie verließen die Bühne, das Publikum gab Standing Ovation, klatschte lange und rief fordernd nach „Zugabe!“, bis die drei wieder zurückkamen. Tommy suchte in den Textblättern und verkündete: „Ich hab ihn gefunden.“ Purple kramte in seinem Ordner: „Du hast ihn gefunden? Ich bräuchte ihn auch, ich hab ihn nämlich nicht hier drin.“ Tommy, sehr lässig: „Ja, das ist aber DEIN Problem.“ Die Zuschauer lachten los, Purple eilte, um den Text im Backstagebereich zu holen und sagte im Vorbeigehen zu Tommy Engel: „Erzähl den Menschen was. Die Menschen hören dir gerne zu.“ Der guckte zuerst verwirrt, dann sehr amüsiert. Kaum hatte er seinen ersten Satz begonnen, kam Purple schon zurück und rief: „Reicht!“

Allerletztes Lied an diesem Abend war ‘Immer nur leben’. Purple fing mit der ersten Strophe an, Tommy Engel hörte ruhig lächelnd zu und sang sie danach auf kölsch. Beide Versionen waren wunderschön, ebenso wie die Stimmen. Sie wechselten beim Singen ab und an den leisen Stellen war das Publikum absolut still und hörte ganz aufmerksam zu. Ein wunderschöner Abschluss.

Es gab eine letzte Verbeugung unter lautem Applaus und begeisterten Pfiffen, dann war endgültig das Ende des gemeinsamen Konzertes erreicht. Was für ein schöner Abend! Ein total netter, entspannter Tommy Engel, drei unglaublich gute Musiker, die mit Liebe und Können wahnsinnig intensive Musik machten, viel Gelächter, Lockerheit, aber auch Ruhe, Sentimentalität und Gefühl.

Der letzte der sechs Gemeinsame Sache Termine war vorüber und ich konnte immer noch nicht traurig und bedrückt herumsitzen, denn der Abschluss war so schön gewesen, dass ich einfach gut gelaunt blieb. Der Sommer 2004 war bisher außergewöhnlich kalt und verregnet, aber ich werde ihn als warm, sonnig und wunderschön in Erinnerung behalten, weil er die Zeit war, in der ich Purple, Josef und die Gemeinsame Sache entdeckt und sechsmal im Bauturm-Theater warme, sonnige und wunderschöne Abende erlebt habe. Und diese wetterunabhängige Empfindung lag nicht daran, weil ich jedes Mal bei den hohen Temperaturen im Theater geschwitzt habe, sondern weil das Herz warm wurde.