Rainald Grebe & Die Kapelle der Versöhnung - Sommer spezial - 03.06.2010 - Köln

Gloria, Köln

Mit Rainald Grebe, Marcus Baumgart und Martin Brauer

Ich steh zwar auf Stehkonzerten, aber ich steh nicht so auf Stehkonzerte. Man könnte es auch kürzer sagen: Ich hätt’ gerne einen Stuhl.

Es liegt nicht am Alter. Ich höre einfach konzentrierter zu, wenn ich sitze und kann den Inhalt der Konzerte viel intensiver aufnehmen. Wenn ich mich zur Musik stark bewegen will, geh ich tanzen und da reicht mir eine laut abgespielte CD. Trotzdem wollte ich unbedingt zum “Sommer spezial”, das ein Stehkonzert war. Und nicht nur ich. Die Schlange der Anstehenden vor dem Gloria-Theater reichte die Straße entlang bis zur Kirche und dann noch ein Stück um sie herum.

“Ihr geht auch zu Rainald Grebe?”, fragte eine matte Stimme die Letzten in der Reihe, denn es bestand ja die vage Möglichkeit, dass die vielen Anstehenden zufällig ein anderes Ziel hatten. Nee, die wollten alle rein. “Ich hab noch nie so ‘ne lange Schlange gesehen”, sagte eine andere Stimme verwundert, und die daneben wunderte sich: “Komisch, ne?” Nein, nicht komisch, Rainald Grebe war eben nur kein Geheimtipp mehr. Komisch fand ich persönlich nur, dass sich alle Anstehenden sauber und ordentlich hintereinander in Zweierreihen aufstellten und überhaupt nicht drängelten. Dafür, dass Rainald Grebe den Ruf eines Anarchisten hatte und als durchgedreht und unkonventionell galt, war das Publikum sehr brav.

Und dafür, dass ich recht weit hinten in der Schlange gestanden hatte, stand ich nachher sehr nahe an der Bühne. Das lag daran, dass viele Leute lieber im hinteren Saalbereich in Tresennähe bleiben wollten und wohl keine Lust auf das Gedränge vor der Bühne hatten. Die Folge war, dass es vor der Bühne gar kein Gedränge gab und es zwar im ganzen Saal schön voll war, aber locker blieb. Kein aggressives Vorgedrängel, kein Kämpfen um den Platz. Das lag vermutlich daran, dass es hauptsächlich erwachsene Leute waren, die Rainald Grebe hörten, hektische Teenies dagegen kaum anzutreffen waren. Es war richtig nett. Jetzt nur noch ein Stuhl, und ich wäre vollkommen glücklich gewesen.

Mit etwa zehn Minuten Verspätung - die einem bei Stehkonzerten, bei denen man zuerst in der Warteschlange und dann im Saal steht, doppelt so lange vorkommen, lieber Herr Grebe und Kapelle - betraten die drei Herren die Bühne und wurden sofort sehr freudig begrüßt. Sie setzten sich hin und Rainald Grebe murmelte dabei vernehmbar glücklich: “Setzen - mmmmmmh”, was vom stehenden Publikum mit Gelächter kommentiert wurde. Ein Herr rechts hinter mir rief grinsend: “Arschloch!” Fand ich zwar etwas hart ausgedrückt, vom Grundansatz her aber nachvollziehbar.

Das “Sommer spezial” sollte eine Art ‘Best of’ sein. Mit Perlen aus drei gemeinsamen Programmen von Rainald Grebe und der Kapelle der Versöhnung (Marcus Baumgart an der Gitarre und Martin Brauer am Schlagzeug) und einigen Stücken, die in letzter Zeit entstanden waren. Kein rundum neues Programm also, dafür ein Wiederhören mit vielen Klassikern. Dass ich inzwischen bei Rainald Grebe schon von “Klassikern” schreiben konnte, freute mich besonders. Dass die Zuschauer mehr und die Säle größer wurden, freute mich für Herrn Grebe und die Kapelle, ich selber hätte Geheimtipp-Atmosphäre vorgezogen. War eben doch ein Unterschied, ob 200 oder 800 Leuten zuhörten. Oder wie bei meinem ersten Rainald-Grebe-Konzert gerade mal 70. Das war allerdings sechs Jahre her und der Saal so klein, dass er knackevoll und ausverkauft war und 80 Zuschauer nicht reingepasst hätten.

Rainald und seine Kollegen hatten sich gerade mal sitzend auf der Bühne verteilt - die Kapelle hinter ihren Instrumenten, Rainald vorne am Bühnenrand auf einem umgedrehten Bierkasten - da stimmten sie sofort das erste Lied an. Rainald sang: “Vor meinem Vaterhaus ...” und viele Grebe-Kenner im Saal setzten lautstark ein “... steht eine Linde!” Rainald zuckte bei dem gewaltigen musikalischen Rückstoß erschrocken zusammen, brach ab und grinste mit leuchtenden Augen freudig ins Publikum. Hey, die waren gut drauf. Er versuchte es nochmal und brach mit Einsetzen des erneuten lauten Mitsingens wieder erschrocken ab. Inwieweit er gespielt überrascht zusammenzuckte, war mir dabei völlig egal. Inzwischen musste ihm das bei der immer weiter wachsenden Anzahl von Fans ja eigentlich häufig passieren, aber es machte einfach Spaß zu erleben, wie die Zeile aus vielen Kehlen freudig mitgesungen wurde. Außerdem saß er so gut gelaunt auf seinem Bierkasten, dass es ansteckend war.

Nach dem Volkslieder-Medley, das in einigen Bereichen so stark gekürzt war, dass von manchen Liedern nur noch wenige Takte angespielt wurden, was dem Ganzen eine neue Form der Komik gab, durften die Zuschauer laut einrufen, was sie hören wollten. Für Rainald Grebe war es einfach, sich die passenden Lieder auszusuchen, denn natürlich wurden gleichzeitig alle bekannten Titel gerufen und irgendwer rief schon den, den Rainald spielen wollte.

Während die Zuschauer sich über ihr vermeintliches Mitgestalten freuten, spielten Rainald und die Kapelle viele Sachen nur sehr kurz an und hörten gleich nach dem ersten Refrain wieder auf. Manchmal auch schon nach drei Zeilen. Ein geniales Vorgehen, das sicher schon die Römer bei ihren taktischen Schlachten eingesetzt hätten, wenn dort damals Grebe-Lieder gesungen worden wären. Damit waren nämlich sofort die nervigen Titel-Reinrufer gestoppt, die ansonsten den ganzen Konzertabend über immer wieder “Dörte!!”, ”Brandenburg!” und “Thüringen!” brüllten, denn die Lieder waren diesmal schon gespielt und konnten eigentlich nicht nochmal verlangt werden.

Unerwarteterweise machte gerade dieses kurze Anspielen extrem viel Spaß. Es war nicht so, dass mir die Lieder sonst zu lang waren, aber nach kurzem Reinhören schon fertig und Schluss, das war witzig. Nur beim Wunsch “Ich bin der Präsident!” weigerte sich Rainald heftig: “Nein! DAS spiele ich NICHT!” Gerade war überraschend Bundepräsident Horst Köhler zurückgetreten und hatte dem Stück, das vermutlich das bundesweit einzige Lied über die Aufgaben eines Bundespräsidenten war, eine ganz neue Wertigkeit und Aktualität gegeben.

Die Stimmung im Gloria war vom ersten Augenblick an sehr gut, sowohl im Publikum als auch auf der Bühne. Rainald wirkte, als hätte er nach der längeren Tourpause ganz besonders viel Spaß wieder auf der Bühne und mit den beiden Kollegen unterwegs zu sein. Marcus Baumgart und Martin Brauer waren als Kapelle wie immer hervorragend und ich mochte ihre Art Musik zu machen sehr. Ganz große Klasse. Allerdings musste Martin einige hämische Bemerkungen zu seinem “Gehöft” hinnehmen, das er sich in der Zwischenzeit gekauft hatte. Für Rainald, der in einigen seiner Lieder darum kreiste, ob es nun Stadt- oder Landleben sein sollte, und dabei immer wieder den endgültigen Entscheidungen auswich, ein naheliegendes Thema. Passend dazu auch das Lied vom Städter, der aus der Anonymität aufs Land flüchtet und von dort genervt in die Stadt zurück geht. Ein Lied, das von der Kapelle präzise und knallig begleitet, ein Highlight des Abends war. Oder eines der vielen Highlights.

Die Lieder waren aus verschiedenen Programmen und bunt gemischt. Von der “Mitte des Lebens”, über “Single in Berlin”, “Bengt” bis zu den “Chinesen in der Wohnung”. Dazu Lieder über die Großstadt, das Landleben, das Ausleben, die Anonymität, den Burn Out und die Massenkompatibilität. Laut, leise, komisch, nachdenklich. Klischees, die auf Wahrheiten treffen und manchmal mitten im Lachen ernste Erkenntnisse bringen. Dazwischen ein echt kaputter Bass, samt defektem Kabel, der mitten im Programm unterhaltsam ausgewechselt werden musste, witzige Zwischenstorys und ein Planschbecken. Und gegen Ende natürlich doch noch der “Präsident”. Der ganze Abend war rund, voll und abwechslungsreich, und mir hat nichts gefehlt, auch wenn es natürlich noch viele weitere Lieder gäbe, die ich gerne gehört hätte. Aber das sind meistens nicht die, die laut reingerufen werden.

Solche konzeptfreien Konzerte von Rainald mit Marcus und Martin könnte es gerne öfter mal geben. Die gemischte Zusammenstellung hatte sogar den schönen Effekt, dass die harten Fans fast alles kannten und sich über einige ältere Schätzchen freuten, die neueren Fans immerhin einen Teil der Lieder kannten, und Neuhörer, von denen es nicht wenige gab und die am überraschten Gelächter bei vielen Textstellen erkannt wurden, gleich eine Art Best-of-Abend erlebten. Wenn es dann noch Stühle gäbe, wäre es der Hammer. Ich muss aber zugeben, dass der Spaß weit größer als die Anstrengung des stundenlangen Rumstehens war. War ein bisschen ermüdend für die Beine, aber äußerst schön für Augen, Ohren und die Seele. Angenehm auch, dass dämliche Zwischenrufer und Pointenvorwegnehmer nur äußerst gering vertreten waren, dass die Zuschauer so viel Spaß hatten und ich mit einem entspannten, glücklichen lazy-summer-Feeling aus dem Gloria kam. Sehr gerne wieder! Wenn’s sein muss, auch ohne Stühle.