Rainald Grebe - Das Rainald Grebe Konzert - 17.01.2012 - Wuppertal

Oper, Wuppertal

Es war noch ganz frisch, hatte erst vor einer Woche Premiere gehabt, da sah ich mir das neue Programm von Rainald Grebe an. Es hieß „Das Rainald Grebe Konzert“, was nicht nur bedeutete, dass es von und mit Rainald Grebe war, sondern auch, dass es inhaltlich um ihn ging. Das neue Plakat zeigte ihn nackt, ein wenig trotzig und provokant in die Kamera blickend, in einer sitzenden Pose, in der auf jugendschützende Balken so gerade noch verzichtet werden konnte. „Ich zieh mich vor euch aus, ich zeig euch alles“, schien es sagen zu wollen, aber trotzdem zeigte die Körperhaltung einen Schutz, an dem man nicht vorbeikam. Da wollte jemand viel zeigen, aber trotzdem genau bestimmen, wie viel.

Rainald Grebe hatte aufgeräumt. Die vielen Kisten und ungeordneten Stapel der Kindheits- und Jugenderinnerungen durchgesehen, ausgewertet und digitalisiert. Sein Leben abrufbar auf Sticks gebannt, die er wie ein Schwarzmarkthändler im Innenteil seines Jacketts trug. Die Originaldokumente waren nach der Digitalisierung im Container oder Schredder gelandet, jetzt fehlten ihm nur noch Ereignisse, die damals nicht als Foto oder Film festgehalten worden waren. In jeder Vorstellung sollten darum einige undokumentierte Szenen nachgestellt werden. Herr Schumacher, der am Mischpult saß, zeichnete auf, so dass sie in den digitalisierten Lebenslauf eingefügt werden und ihn lückenlos machen konnten.

Es war wie ein privater Besuch bei Rainald Grebe, der gerade seine Erinnerungs-Stapel durchging, Anekdoten erzählte und Fotos hervorkramte, die dann auf einer Leinwand gezeigt wurden. „Hier, links, das bin ich als Baby.“ Er sprang herum, führte vor, erzählte sprudelnd, und nach einer Viertelstunde dachte ich schon, was der hyperaktive Rainald Grebe in dieser kurzen Zeit an einem Feuerwerk von Zitaten, Stimmungen und Erkenntnissen loslässt, daraus bauen andere Künstler ein abendfüllendes, vollwertiges Programm.

Es knallte durch Ohren und Augen in mein Hirn und manchmal wünschte ich kurz, dass ich den gerade erhaltenen Eindruck mal in Ruhe verarbeiten und genießen könnte, weil ich den doch gerade so nachdenkenswert fand, aber da sauste schon der nächste heran. Einfach mal persönlich abschalten ging auch nicht, denn ich wollte ja auch den Fortgang nicht verpassen. Merken! Merken! Merken!, sagte ich mir immer wieder eindringlich, aber schon war es weg. In der Reizüberflutung durchgespült, ohne dass ich es genau betrachten und sicher in MEINEM Hirn ablegen konnte.

Während die Babyfotos vom Publikum noch mit dem typisch liebevollen „Ooooooh!“ kommentiert wurden, gab es bei den Kinder- und Jugendfotos freudiges, manchmal sehr amüsiertes Gelächter. Ja, die Fotos sahen oft zwangsläufig etwas komisch aus, aber manchmal empfand ich den Blick auf einen schlaksigen, viel zu braven Rainald als beklemmend. Diese Augen, die so ruhig und ernst in das Objektiv blickten. Kam es mir nur so vor, dass er auf manchen Bildern wie falsch dazu gestellt aussah? Und warum fand ich den Blick in seine private Jugend einerseits so interessant und hatte gleichzeitig das Gefühl, ich dürfte nicht zu genau hingucken, um nicht zu viel zu erkennen? Vielleicht berührte mich auch die Emotionalität des Programmes. Es war schnell, übersprudelnd, aber dann auch wieder ganz ruhig und sanft. Vom großen Lacher zum gerührten Schlucken.

Lustig, aber auch liebe- und respektvoll erzählte er von seinen Eltern, und ihr Schutz wurde auch nicht zerstört, wenn witzige Fotos seines Vaters zu sehen waren. Rainald Grebe war aus dieser behüteten Welt bewusst und radikal weggegangen, aber sie war Teil seines Lebens und wichtig für seine persönliche Entwicklung gewesen. Sogar das Blockflötenspielen. Und die Teller an den Wänden im Treppenhaus.

Er erzählte, wie er als Jugendlicher nach vielen klassischen Klavierstunden ein dickes, teures Notenbuch von Billy Joel gekauft hatte. Wie er es aufgeschlagen und vorsichtig die Noten des Liedes abgespielt hatte. Im Hintergrund erschien ein Foto vom ihm als Jugendlicher am Klavier, während er live auf der Bühne am Flügel vor dem Billy-Joel-Notenbuch saß, zögernd und vorsichtig die Akkorde von „She’s got away“ griff und stockend dazu sang. Er erzählte, wie beeindruckend es damals für ihn war, die Akkorde nacheinander einfach abzuspielen, ohne ihren Zusammenhang zu kennen, und das Lied war da. Eine sehr berührende Situation, und für ihn vermutlich ein wichtiger Augenblick im Leben. Dass ihm das Notenbuch wie schon früher immer wieder zuklappte, machte die Szene nur authentischer.

Rainald Grebe spielte seine Jugend-Hörspiele an, kramte sein Panini-Fußball-Album von 1981 hervor, rasselte die früher auswendig gelernten Daten über Fußballspieler, Pflanzen und Vögel herunter, und gab sehr persönliche Einblicke in seine Kinder- und Jugendzeit. Es war vermutlich nicht alles ganz wahr, manchmal vielleicht ein bisschen für das Programm zurechtgeschliffen, aber es ergab ein rundes, nachvollziehbares Bild über die behütete Zeit in einer bildungsbürgerlichen Umgebung mit einem Rainald Grebe, der äußerlich so brav und unauffällig war, während es in ihm unruhig wurde. Ich konnte den extrovertierten Rainald Grebe auf der Bühne manchmal nur schwer mit dem introvertierten Jungen auf den Fotos in Verbindung bringen, aber genau das war faszinierend. Außerdem ist die Bühnenfigur nur in seltenen Fällen auch der private Mensch.

Zwischendurch sang Rainald Grebe über Themen, die mit seinem Leben zu tun hatten. „Die Zeit vor meiner Geburt“, „Frechen“, „Das erste Mal“ und „Das ist meine Familie“. Und über „Krümel“, den pickeligen, zurückhaltenden Jungen, für den alles da ist und doch nichts. Und über Träume: „Ich wollte immer Künstler werden, doch die Grebes sind das nicht.“

Trotz lauter Töne, Gelächter und total abgedrehter witziger Szenen war das neue Programm gefühlt leiser als andere Grebe-Programme. Es war oft emotional und immer wieder sehr rührend. Manchmal war es ganz ruhig im Saal, weil die Szenen so sentimental machten. Es war deutlich zu spüren, dass Rainald Grebe bei der Beschäftigung mit seiner Kindheit und Jugend, bei aller Distanz, auch einen Zugang gefunden hatte. Seine Persönlichkeit war geprägt durch seine Familie, das Aufwachsen in genau dieser Gesellschaft, die Auflehnung und nicht zuletzt durch die Förderung und Bestätigung, die er immer erhalten hatte, wenn es um Wissen und Kultur ging. Blockflöte und Vogelstimmen.

Mir gefiel das Programm ausgesprochen gut und traf mich voll. Selten hat mich ein Bühnenprogramm noch Tage danach so beschäftigt und berührt. Es war eine schöne Mischung aus bunten und schnellen Szenen, Assoziations-Gehopse, treffend beschriebenen Situationen, Brüchen und ganz viel Gefühl. Und zum Glück wurde es bei allen tiefen Einblicken dann doch nie zu privat. Hätte mich auch gewundert. Ein Röntgenbild zeigt zwar alles, dann aber doch wieder nichts. Gemeinsames Blättern in Erinnerungsstapeln, inszeniert von Rainald Grebe. Wunderschön.