Beobachtung einer Konzertbeobachterin - von j.

Düsseldorf, 30. November 2002

Es ist nicht mein erstes Wise Guys-Konzert, aber ich habe an diesem Abend ausnahmsweise freie Sicht auf eine mir wohlbekannte Konzertbesucherin, und das will ich schamlos ausnutzen. Alle folgenden Beobachtungen sind höchst subjektiv, ich hoffe, meine teils wilden Schlussfolgerungen sind wenigstens ansatzweise richtig ...

Wir befinden uns im Jahre 2002, es ist zwanzig v. Chr., ähm, vor acht. Der Konzertsaal ist noch ganz leer. Ganz leer? Nein! Eine sich dem Diktat der spät eintrudelnden Platzkartenbesitzer nicht beugende Konzertbesucherin sitzt schon auf ihrem Platz und trifft ihre Konzertvorbereitungen. Wir sitzen schon um zwanzig vor acht auf unseren Plätzen, eigentlich, weil es langweilig wurde, draußen vor der Tür zu warten – dann lieber schon einmal den Konzertsaal begutachten, erste Vermutungen über zu erwartende Akustikverhältnisse anstellen und gebrannte Mandeln vom Weihnachtsmarkt futtern! Anette sitzt auch schon um zwanzig vor acht auf ihrem Platz, weshalb weiß ich nicht genau.

Die wichtigsten Vorkehrungen sind getroffen, die Bedingungen stimmen: Sie sitzt in der Nähe des Mischpultes, wo man den Sound so mitkriegt, wie er auch gedacht ist, hat schon den Notizblock und Stift griffbereit auf dem Schoß. Sie unterhält sich angeregt mit ihrer Sitznachbarin, ihr zwischen ihnen sitzende Lebensgefährte versucht, sich taktvoll rauszuhalten und nicht zu laut zu atmen, und Anette wird vermutlich die letzten Minuten vor dem Konzert zum Austausch wahrscheinlich höchst wichtiger Informationen nutzen. Ich sitze leider viel zu weit weg, um von dem Gespräch etwas mitzubekommen, ich denke es geht um Backrezepte (Pizza á la Anette, Riemchenkuchen oder Chocolat Chip Cookies ...) oder um letzte Anweisungen für das Konzert ... “beim Frühlingslied musst Du unbedingt Clemens beobachten, und bei Träum vom Meer bitte nicht atmen, und bei den Ansagen bitte nicht stören, und wenn klatschen, dann auf zwei und vier, und ...“ Aber ganz sicher bin ich mir da auch nicht.

Das Licht geht aus, und Anette sitzt kerzengerade. So wie wir es in der Schule beigebracht bekommen haben – Füße parallel, Rücken gerade, und den Notizblock im Anschlag – Showtime erklingt, und ich bin mir nicht sicher, was sie sich aufschreibt – wie viele Konzerte haben schon mit diesem Stück angefangen …?

Ich habe mich nicht vorbereitet und leider selber keinen Notizblock dabei, und kann nicht mehr genau rekapitulieren – deshalb muss ich etwas allgemeiner werden bei den folgenden Liedern: die ersten Takte erklingen – man sieht Anette und Rüdiger im Geiste abhaken: gut ausgeleuchtet? Hört man jeden der Fünf gut? Ist die Hauptstimme gut ausgesteuert? Zu viel Hall? Zu wenig? Wie vertragen sich Abmischung und Zuhörer-Reaktionen? Was ist neu an der heutigen Choreographie? Reagieren die Zuhörer wie gewünscht? Wo sitzen die potentiellen Mordopfer des heutigen Abends? (Räusperer, dreiste Schnarcher, kommunikationssüchtige Menschen usw.) Eine kurze, geflüsterte Unterhaltung mit dem Gatten, ein Nebensatz – ein kurzes Nicken, und Anette notiert etwas.

Die Zwischenmoderationen nehmen auch mich manchmal so in ihren Bann, dass ich dann doch den Blick auf die Bühne wage – und wieder nicht mitbekomme, wann Anette die Details der Moderationen aufgeschrieben hat. Ob sie Steno beherrscht …?

Es gibt aber auch Momente, da sieht man eine völlig normale, von der Musik in den Bann gezogene Konzert-Besucherin – da wird gewippt, gezuckt, gelacht, geklatscht, mitgesungen, oder auch nur ganz ruhig in den Stuhl zurückgelehnt und mit halb geschlossenen Augen geträumt. Das tiefe Seufzen bei manchen Liedern kann ich beinahe fühlen, auch wenn ich gute dreißig Meter entfernt von ihr sitze. Ich seufze mit.

In der Pause traue ich mich nicht, sie anzusprechen. Sie hat den Notizblock nicht auf dem Platz liegen gelassen, also muss der sich irgendwo in Reichweite befinden – und bevor sie sich Einzelheiten unserer Konversation merkt und mit in den Konzertbericht packt ...

Ich werde beim nächsten Mal genau drauf achten – lässt sie vielleicht doch ein Tonband mitlaufen? Und die Notizen würden mich auch mal interessieren – hat sie in der Zwischenzeit vielleicht schon eigene Kürzel wie „2/5TvM– 2R7H,Bd“? (könnte in diesem Fall heißen „zweite Konzerthälfte, fünftes Lied: Träum vom Meer – zwei Räusperer, sieben Huster, Bass zu dumpf“ oder so.) Beim nächsten gemeinsamen Konzert werde ich Notizblock und Stift mitnehmen, vorher nach ihr Ausschau halten, mich dann strategisch platzieren und mitschreiben … Muss nur vorher noch Steno lernen.