Wise Guys - 02.09.2007 - Kulturzentrum - Lindlar

Lindlar liegt etwa 35 km von Köln entfernt im Bergischen Land. Die letzten Kilometer nach dem Verlassen der Autobahn fährt man durch Wiesen, Wälder und kleine Ortschaften bis zum Kulturzentrum in Lindlar, dem Namen nach ein Mittelpunkt für alles Kulturelle. Nach der Fahrt durch die ländliche Idylle erschien es gar nicht so abwegig, dass am Hintereingang des Gebäudes ein laut knatternder Traktor stand, der den Stromgenerator der Halle antrieb. Zum Glück war der Lärm, den er neben dem Strom erzeugte, nicht bis in den Innenraum zu hören, so dass für den normalen Saalbesucher der Eindruck entstand, auch in Lindlar käme der Strom einfach aus der Steckdose.

Es herrschte freie Platzwahl, was den Einlass etwas hektischer machte, als es bei festen Platznummern der Fall war. Durch den verwinkelten Grundriss des Saales und die oben umlaufende Empore, war es schwierig Freunde und Bekannte in dem Gewusel der etwa 800 Zuschauer wiederzufinden. Es war ausverkauft und der Saal war dicht voll. Eine Dame suchte erfolglos etwa 20 Minuten lang nach ihrem Schwager, der ihr irgendwo einen Platz freigehalten hatte, fand aber weder den Schwager, noch den freien Platz. Kurz vor Verlöschen des Saallichtes sah ich sie etwas mutlos den Weg hoch auf die Empore nehmen. Ich hoffe, dass sie erfolgreich war. (Den letzten Satz finde ich völlig überflüssig, aber er drängte sich mir geradezu auf.)

Das Publikum in Lindlar zeigte sich freudig und erwartungsvoll, klatschte um 18 Uhr, der üblichen Konzertanfangszeit an Sonntagen, auffordernd los und war gespannt, als die Begrüßungsansage von Band kam. “Prring-prring- Handys aus,... keine Filme, “oooiiiink”. keine Tonaufnahmen... “uaaaah!”” Ich liebte diese Ansage sehr, weil sie mich an Durchsagen in Freizeitparks erinnerte, die kurz vor Abfahrt der Achterbahn kamen und die ein nervös-kitzeliges Gefühl auslösten.

Dann ging es los. Auf der Bühne erschien Eddi, und im Saal brandete langer, lauter Applaus auf. Blitzlicher erhellten die Zuschauerreihen, und in Reihe 3 hielten zwei eifrige Fotografiererinnen ihre Digital-Apparate mit den hellen Displays so oft in die Höhe, dass ich sofort ahnte, dass sie damit ein ganzes Konzert lang ihre Hinterleute nerven würden. Eddi hatte noch nicht einen Muckser gesungen und wurde umjubelt, als hätte er einen neuen Rekord geschafft. Manchmal wundere ich mich ja, mit wie wenig Aufwand man einen erfolgreichen Bühnenauftritt haben kann. Sogar “Zugabe!” wurde gerufen, ein Wunsch, den Eddi sofort erfüllte, indem er weiter so still stehen blieb wie vorher und ins Publikum lächelte. Als es endlich erwartungsvoll ruhig wurde, sang er mit dem Opener A los, und ich fand es rührend, wie er so einsam dort stand und mit fester Stimmer davon sang, dass der Abend nur mit ihm alleine nicht so gut wäre. Süß!

Auch Sari, Clemens und Ferenc, die nacheinander dazu kamen, wurden jedesmal laut jubelnd begrüßt und mussten etwas warten, ehe sie lossingen konnten. Als Letzter tauchte Dän auf, und die Zuschauer johlten auf und klatschten im Takt los, was aber, ehrlich gesagt, nicht nur an Dän lag, sondern auch an der Musik, die ab da in den Opener B überging, der rhythmisch schneller war und zeigte, dass die Show nun wirklich begann.

Der Klang war ziemlich gut, die Lichtshow schön bunt und das Publikum klatschte in den Refrains fröhlich mit. Draußen vor der Halle tuckerte der Traktor gleichmäßig und zuverlässig vor sich hin. Alles also bestens. Auch die Wise Guys machten im lauten Endapplaus zufriedene Gesichter und lachten gut gelaunt in den Saal. Dän freute sich, dass sie mal wieder in Lindlar waren, wo sie “seit zwei Jahren - oder mehr als einem Jahr? - Ziemlich lang jedenfalls nicht mehr! - Oder drei?” nicht mehr gewesen waren. Aus dem Publikum wurden ebenfalls unterschiedliche Angaben gerufen, woraufhin Dän kurz erklärte: “Es kommt uns vor, wie Ewigkeiten.” Sofort verriet er, dass es ein ganz besonderer Ort sei, denn an diesem Abend würde dort der Strom über einen Traktor generiert. “Es ist kein Witz!” bekräftigte er, als das Publikum loslachte, und ergänzte etwas besorgt: “Gewisse Schwankungen sind also durchaus möglich.”

Er erklärte, dass sie gerade zwei Wochen in Südfrankreich gewesen waren, wo sie für die nächste CD aufgenommen hatten. Mit ernster Miene, fast ein wenig klagend erzählte er: “Wir sind vorgestern erst wieder gekommen, waren in der Nähe von Nizza, waren da zwei Wochen, da war immer um die 30 Grad, strahlend blauer Himmel...” Die Zuschauer lachten mit neidischem Unterton los und er sagte aufatmend: “Das waren schon andere Zeiten. Wir sind froh, dass wir wieder da sind. Schön kühl hier.” Das Publikum lachte noch, da klagte er weiter: “Und davor hatten wir zwei Wochen eine Inseltour, wo wir Konzerte gegeben haben auf Sylt und Borkum und Norderney und Föhr. Zwei Wochen lang, an denen wir auch ganz oft am Strand gelegen haben.” Lautes, jetzt schon fast empörtes Gelächter unterbrach ihn und er strahlte zufrieden: “Endlich wieder Lindlar. Mainz. Euskirchen.” Beiläufig setzte er hinterher: “Vor dieser Nordseetour war vier Wochen Urlaub...” Daraufhin hatte das losplatzende Zuschauerlachen einen sehr empörten Unterton, eine junge Frau rief energisch: “Is gut jetzt!!” und Dän grinste mit urlaubsbraun gebranntem Gesicht hochzufrieden: “Es ist ein harter Job.”

Weil die neuen Lieder aus Frankreich noch so neu waren, dass die Wise Guys sie noch gar nicht konnten, wie Dän erläuterte, “wir haben sie erstmal aufgenommen und jetzt üben wir sie”, gab es an diesem Abend Songs vom noch aktuellen Album ‘Radio’. Von denen würden einige demnächst aber aus dem Programm fliegen, so zum Beispiel das nächste: Denglisch. Die Reaktion des Publikum war eine interessante Mischung aus Freudigkeit und Entsetzen. Es gab “Wow!”s in unterschiedlichen Modulationen von freudig: “Toll! Mein Lieblingslied kommt!” bis zu enttäuscht “Was?? Ihr werft das raus?”

Der Applaus nach dieser historischen Denglisch-Aufführung (die nur historisch war, wenn die Wise Guys das Lied nicht in den nächsten Konzerten doch noch singen würden), war so stark, dass es von der Publikums-Zustimmung her eigentlich nicht rausfliegen müsste. Aber lebendige Programme müssen sich verändern und auch der schönste Song muss irgendwann gehen.

“Wir möchten an dieser Stelle gerne unsere Zuschauerbefragung machen, wenn der Traktor das noch packt”, kündigte Dän danach an und freute sich, dass das Sallicht tatsächlich an ging. Er erwähnte, dass die Aula demnächst renoviert werden würde. “Komplette Decke raus, Wände raus, Tribüne weg, Stühle raus, Boden weg... alles komplett neu hier. Ist wahrscheinlich auch alles...”, er zögerte und brach dann ab. “Nee. Den Fehler hab ich schon mal gemacht. Ich hab mal irgendwo gesagt, dass eine Halle asbestverseucht gewesen sei. Das stimmte zwar, war aber nicht offiziell. Das gab ‘ne riesen lokalpolitische Krise damals.” Das Publikum, das zunächst laut gelacht hatte, war inzwischen recht ruhig geworden und begann wohl zu überlegen. Dän rieb mit dem Finger am Kinn, sah zur Decke hoch und verkündete mit sicherer Stimme, aber wenig überzeugend: “Also Asbest ist hier nicht drin.”

Die eigentliche Zuschauer-Umfrage war harmloseres Gebiet. Es gab erstaunlich viele Ersthörer, und auf die Frage, wer aus Lindlar kam, meldeten sich nur wenige Zuschauer, erst als Dän auf “oder so im Umkreis halt” erweiterte, schnellten deutlich mehr Finger hoch. Mehr als 100 km war jemand aus Österreich angereist. “Warum gerade Lindlar?” fragte Dän etwas verblüfft. Es hatte aber mit einer mehrtägigen Reise und einem Geburtstag zu tun und Dän versprach für den Afterglow ein Geburtstagsständchen.

“Stichwort Alter”, sagte Dän und begann breit zu grinsen. Ferenc hatte in der Woche davor, während des Aufenthaltes in Südfrankreich, Geburtstag gehabt und Dän nahm das zum Anlass, die Altersabfrage zu aktualisieren. Bisher hatte er immer nach Zeiträumen wie “zwischen 0 und 20” und “20 und 40” gefragt, was ganz nebenbei ein unscharfes Bild ergab, denn die Zwanzigjährigen konnten dann bei zwei Gruppen aufzeigen. Diesmal fragte er zunächst nach dem Altersbereich “0 bis 19”, dann nach “20 bis 39”. Sehr breit und zufrieden grinsend hob er bei der zweiten Gruppe selber genüsslich den Arm, seine drei Kollegen neben ihm machten das Gleiche, nur Ferenc musste ohne erhobene Hand stehen bleiben. Die diebische Freude in Däns Gesicht löste großes Gelächter aus.

“Wer ist zwischen 40 und 59?” fragte Dän in den Saal, guckte dann demonstrativ zu Ferenc rüber und gab einen glucksernden Lacher von sich, als dieser langsam die Hand hob. “Wunderbar”, freute sich Dän.

“Jetzt müssen wir den Traktor vom Gang her wahrscheinlich wieder runterschalten, damit das Licht da oben ausgeht”, vermutete Dän nach der beendeten Umfrage und behauptete: “Die Sanierung ist dringend nötig, aber nur wegen der Lichtverhältnisse, nicht wegen irgendwelcher Giftstoffe!”

Mit Aber sonst gesund ging es im Programm weiter, ein Lied, dessen Tempo und Inhalt meinen Neuhörer-Nachbarn die Münder offen stehen liess. Ich selber hatte mich schon erwischt, bei gesundheitlichen Problemen leise die passende Textstelle abzusingen, um anschließend in der Apotheke souverän das richtige Mittel verlangen zu können. Das zeigt Vertrauen in die medizinischen Kenntnisse des Textschreibers.

Ohne Ansage ging es sofort weiter mit Sie bricht mir das Herz. Es war wunderbar lässig und ich entspannte mich total. Vermutlich hatte ich höchstens noch 20 Pulsschläge in der Minute. Das reichte mir aber.

Eddi machte die nächste Ansage und erklärte vorher: “Mein Part ist nicht, frei zu sprechen, sondern Einwürfe zu machen wie “Prima!” oder “Jetzt alle!” Das fordert mich sprachlich schon ausreichend heraus.”

Trotzdem machte er eine sehr schöne Moderation zum nächsten Lied und kam nur einmal in etwas chaotisches Gewässer, als ihm einfiel, dass das Paar, von dem er sprach, nicht verheiratet war, sondern unverheiratet zusammenlebte, was er dann ordnungsgemäß genauer erklären wollte. Clemens deckte schon grinsend seine Hand vors Gesicht, aber Eddi war in diesem Moment eingefallen, dass das für die Moderation völlig unwesentlich war und er kam souverän zum eigentlichen Thema zurück. Das war auch gut, denn die Ansage war fast ebenso berührend wie die angekündigte Ballade: Wir hatten eine gute Zeit.

Die fünf Wise Guys stellten sich nah zusammen und begannen ganz ruhig. Wunderschön. Leider fiel genau bei diesem Lied einigen Leuten ein, dass sie den Saal verlassen oder betreten wollten. Das ging nur durch eine leicht quietschende Tür, die auch noch gut hörbar ins Schloß fiel. Zwischdurch fiel auch noch irgendwo laut klackernd eine Flasche um und mehrere Zuschauer mussten dringend nacheinander husten. Eigentlich war ich ziemlich sauer über die Nebengeräusche, die es verhinderten, dass mein Pulsschlag vor lauter Ergriffenheit auf unter 10 Schläge pro Minute abrutschten konnte. Der Puls wurde vor Ärger sogar eher höher als üblich, weil ich es nicht nachvollziehen konnte, dass man zum Verlassen und Betreten eines Konzertsaales nicht die lauten Applausstellen zwischen den Liedern nutzte. Dass Husten bei leisen Stellen besonders ansteckend war, wusste ich auch aus anderen Konzerten. Aber eigentlich war ich auch ein wenig dankbar, dass mich das Lied wegen der Störungen nicht so sehr persönlich packen konnte, wie es das sonst manchmal tat. Auf jeden Fall war mir klar, dass bei der Renovierung des Gebäudes als erstes mit dem Ölen der Türangeln begonnen werden sollte!

Ferenc war die Hauptperson im Seemann, und ich mochte es, wie er mit stolzer Haltung auf der Bühne stand und theatralische Schluchzer in der Melodie unterbrachte. Er zeigte eine wunderbare Ernsthaftigkeit, die im Gegensatz zur Erklärung seines seemännischen Jobs am Ende des Liedes stand. Das Publikum lachte bei der Pointe laut und fröhlich los, so dass Ferenc einige Takte lang abwarten musste, bis er weiter singen konnte, und die beiden Neuhörer neben mir schnappten völlig überrascht lachend nach Luft.

Großer Beifall schallte danach durch den Saal. Dän wies auf Ferenc: “Unser Bass. Man nennt ihn auch den Hans Albers der a-cappella-Szene.”

Bei Jeden Samstag sollte es eigentlich nach Reggae klingen, was es meiner Meinung nach aber nur in Ansätzen tat. Lockerer Karibiksound war einfach nicht Clemens’ Stilrichtung, der seine Leadstimme eher exakt, als lässig sang. Vielleicht könnte man unauffällig mal entsprechende Rauschmittel in den Kanister für die Nebelmaschine geben, so dass aus dem harten “tacke-tacke-tacke” nach einigen, über die Bühne gezogenen Schwaden, ein sanftes “diggediggedigge” würde? Ich schaute aber wie immer gebannt auf die Backgroundgruppe von Ferenc, Sari und Eddi, die wunderbar entspannt und lässig die Hüften im Rhythmus bewegten. Wenig Bewegung, viel Erfolg!

Es ging sofort mit Jetzt und Hier weiter, das ganz OK war, das ich aber schon treibender gehört hatte. Es hätte nicht schneller sein dürfen, aber es hätte mehr Druck haben müssen. Zwischendurch war der immer mal da, aber eben nicht durchgehend kräftig.

Bei einer Party hätte ich nachher gesagt: “War ganz gut. Nette Leute, gute Stimmung”, aber nicht: “Wahnsinn! Wir haben die ganze Nacht wie wild getanzt!” Das Lindlarer Publikum jubelte trotzdem laut und fand es wohl ziemlich gut.

Clemens kündigte das nächste Lied an, das mal nicht der Dän geschrieben hatte, sondern der Eddi. “Der Eddi ist so’n bisschen ein komischer Vogel”, meinte Clemens, spielte auf vor- und nachpubertäre Zeiten an und die Frage, in welcher Eddi steckte, und es begann Buddy Biber.

Das Publikum folgte gebannt dem gesungenen Geräusche- und Bewegungs-Comic, lachte immer mal wieder auf, und eine sehr schöne Reaktion war lautes Kindergelächter bei der Prügelszene von Eddi und Clemens. Klasse! Die Zuschauer klatschen noch begeistert nach dem letzten Ton, da begann auf der Bühne schon Wo der Pfeffer wächst. Spätestens jetzt wäre mir der niedrigste Puls wieder in die Höhe geschossen. Der antreibende Rhythmus des Liedes war genau richtig und im Wechsel mit den sanften Strophen perfekt.

Mich wunderte nur sehr, dass Dän den letzten, beleidigenden Satz immer in die linke, hintere Saalecke rief und auch mit dem Finger dorthin zeigte. Der Saal war in drei Teile geteilt und die Mitte war eindeutig woanders. Vielleicht hatten die Ton- und Bildtechniker aus der Saalmitte sich mal beschwert, aber Tatsache blieb, dass Dän immer linksorientiert war. Verlängerte man seinen Zeigefinger und seinen Blick mit einer gedachten Linie, saß am Ende ich. Hinter mir kam die Wand. Die konnte er nicht meinen. Aber warum sang er nicht auch mal nach rechts und zur Empore? Ich wusste, dass er mich nicht sehen konnte und nicht mal wusste, wo ich saß, aber ein zweifelndes Gefühl blieb.

Die anderen Zuschauer, die nicht so grübelten, weil sie mittig, oben oder rechts saßen, fanden das Lied klasse und gaben einen Riesenapplaus. Ich klatschte mit. Erstens, weil ich es auch klasse fand und zweitens, weil ich mir die Betroffenheit nicht anmerken lassen wollte. Beim nächsten Mal würde ich während des Liedes heimlich auf die andere Seite des Saales huschen und dann mal sehen, wie er reagieren würde. “Es macht immer wieder Spaß das Lied zu singen”, strahlte Dän zufrieden ins Publikum.

Kurz vor Beginn der Pause gab Sari noch schnell einen Kaufanreiz, indem er mit einem der neuesten Fanartikel, einem knallroten Sommertop, auf der Bühne erschien, das er sich stramm über sein T-Shirt gezogen hatte. Außerdem trug er auch noch eine Kappe auf dem Kopf, die den gleichen Schriftzug hatte: “Jetzt ist endlich wieder Sommer”. Es war September, das Wetter wurde herbstlich, die Sachen mussten weg. Sari gab sich viel Mühe die Wise-Guys- Summer-Collection professionell zu präsentieren und schritt hüftwackelnd wie ein Topmodel an den Bühnenrand. Sein Blick drückte aus, dass er sich für Claudia Schiffer hielt. Zack, Bein rausgestellt, Hände an die Kappe, Drehung - und hüftwackelnd mit einer exakten, zackigen 90-Grad-Drehung zurück hinter den Vorhang.

Eine grandiose Vorstellung, die vom Publikum mit schreiendem Gelächter kommentiert wurde. Bei der echten Claudia Schiffer waren die Reaktionen der Zuschauer am Laufsteg vermutlich anders. Sari musste etwas haben, das sie nicht hatte. Dän kommentierte: “Wenn es die richtigen Leute anhaben, sieht es wirklich toll aus. Ehrlich!”

Mit Schunkeln schloss die erste Konzerthälfte ab, und die Lindlarer zeigten sich als Kenner der Schunkelszene. Schon bei den ersten Zeilen wackelten viele Köpfe im Takt hin und her, im Refrain ging es in vielen Reihen richtig temperamentvoll los.

Clemens wurde immer energischer, beleidigte mit überschlagender Stimme das Publikum, das ihn wiederum strahlend anlachte und einfach weiter machte. Sehr schön! Würde Clemens auf der Straße jemanden aus dem Publikum so angiften, würde der wahrscheinlich aggressiv zurückfragen: “Was ist denn mit dir los, du Knallkopf?”, aber auf der Bühne schien er sich alles erlauben zu können.

Die Pause war wie immer. Pause eben.

Es dauerte allerdings etwas länger, bis alle Besucher danach wieder im Saal waren. Vermutlich hatten sie sich alle mal den Traktor angesehen, der immer noch hinter der Halle tuckerte. Bei dem war allerdings in der Zwischenzeit etwas kaputt gegangen und notdürftig repariert worden, so dass die Stromversorgung etwas spannender wurde. Spannende Spannung sozusagen.

Noch im Dunkeln kamen die Wise Guys auf die Bühne, waren kaum zu erkennen, wurden aber trotzdem als schemenhafte Umrisse schon beklatscht. Als die fünf hellen Stoffstreifen im Hintergrund strahlend blau beleuchtet wurden, blieben weiterhin nur die schwarzen Shilouetten zu sehen. Witzigerweise sahen sie, so schwarz und unbewegt, den vier schmalen Podesten mit den Strahlern darauf, die im Hintergrund der Bühne standen, verblüffend ähnlich. Neun hoch aufgerichtete Körper mit Köpfen oben drauf standen als dunkle Umrisse bewegungslos auf der Bühne. Ein grandioses Bild. Wieso gingen mir eigentlich bei einem so schönen, berührenden Lied wie Radio solche Gedanken durch den Kopf? Zum Glück wurde nach dem Intro Dän angeleuchtet, so dass mein Blick von den vielen Statisten im Hintergrund weg ging. Spätestens beim Refrain war dann sowieso klar, wer sich bewegen konnte, und wer nur leuchten musste.

Einige Zuschauer konnten es nicht lassen, den Refrain mit Klatschen zu begleiten, aber das war akzeptabel, so lange sie es nicht bei den Strophen versuchten. Die meisten Zuschauer lauschten aber gebannt und hörten nur zu. Ich auch, denn Radio war eines meiner Lieblingslieder.

In den lauten Applaus danach blies Sari den nächsten Ton an und es ging sofort mit Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf weiter. Ein Lied, dessen langer Titel schriftlich oft mit “D.g.m.n.m.a.d.K.” abgekürzt wurde eine Variante, die mir sprachlich nicht wirklich kürzer vorkamen, auch wenn sie es optisch war. Allerdings zeigte der lange Titel genau das, was auch im Lied vorkam: Viel, viel Text in kurzer Zeit.

Sari löste das Problem der vielen Silben pro Sekunde sehr souverän und musste keine Sorge haben, dass einer seiner Kollegen den Song mal übernehmen würde, weil er das besser könnte. Klasse.

Dän begrüßte das Publikum danach zur zweiten Halbzeit, blickte zu den strahlenden Bühnenscheinwerfern hoch und freute sich, dass noch Strom da war. “Es gab draußen einige Probleme mit der Stromerzeugereinrichtung”, erklärte er mit besorgtem Blick und fügte hinzu: “Es ist ein bisschen wie Kasachstan hier.” Das Publikum lachte mit Prostestton auf und er grinste schnell: “Aber es ist schön hier! Es hält ja auch noch alles. In diesem Fall sollte man durchaus mal den Tag vor dem Abend loben - und hoffen, dass alles gut geht.”

In der Anmoderation zu Relativ redete Dän ausführlich darüber, dass Frauen einen größeren Wortschatz hätten und den Männern Stress machten, weil sie, gerade bei Beziehungsfragen, von ihnen einen geschliffenen Vortrag erwarteten. So ein Quatsch! Aus Frauensicht kann ich sagen: Wenige Männer-Worte reichen, wenn es die RICHTIGEN sind. Kleiner Tipp: Meistens genügt ein einfaches ‘Ja’ als Antwort.

Das Lied Relativ, früher von Dän manchmal etwas locker als “Liedchen” bezeichnet, war ein kleines Sahnestückchen. Klein, fein, leicht und trotzdem eine charmante Liebeserklärung und dementsprechend beim Publikum sehr beliebt. Es müssen nicht immer die großen Hitwunder sein, die ans Herz gehen und das Positiv-Zentrum treffen.

Noch weltmännischer ging es bei Paris zu, das dann schon Sahnetorte war. Oder “tarte à la crème”, wie es passender heißen würde. Die “Tarte à la crème” habe ich übrigens im Wörterbuch nachschlagen müssen, da sie sich nicht in meinem französischen Grundwortschatz befindet, der eher aus “Bonjour”, “Au revoir” und “Je ne comprends pas” besteht.

Paris war wunderschön und fiel auch durch die auffällig exakte Choreografie auf. Sehr klasse. Ich saß mit einem sanften Lächeln und sehr verlangsamtem Pulsschlag auf meinem Stuhl und fand alles nur wunderbar. Dicker Applaus vom jubelnden Publikum war die Schlussreaktion.

Eddi forderte für das nächste Lied zunächst die Mädchen und die Frauen auf, erweiterte dann auf die “junggebliebenen Männer vor dem Stimmbruch”, ein begeistertes Kreischen zu üben. “Können wir das einmal gerade probieren, bitte?”

Der erste Durchgang war laut, schrill und kreischend, so dass Clemens zusammenzuckte und sich die Hände schützend auf die Ohren legte. Der zweite war gellend laut und entsprach vermutlich dem Gekreische der früheren Beatleskonzerte. Unglaublich, wie schrill und fast schmerzend diese hohen Töne sein konnten. Eddi war zufrieden und kündigte an, dass es beim folgenden Lied einen Zeitpunkt gäbe, an dem man an Saris Körperhaltung erkennen könne, dass ein Kreischen erforderlich sei. Ein bestimmter Zeitpunkt und Saris Körperhaltung? Einige Sari-Fans konnten vermutlich durchgehend kreischen, wenn sie Sari sahen, egal in welcher Körperhaltung.

Das Lied war Powerfrau und einige Fans kreischten schon bei den ersten Tönen los. Vielleicht fanden sie Sari sofort bekreischenswert, vielleicht freuten sie sich aber auch nur über das Lied, das ja schon so was wie ein Klassiker war. Die von Eddi ausersehene offizielle Kreischstelle war natürlich die, wo Sari das Bein einknickte und die Arme nach oben warf. Selbstverständlich schrieen die Zuschauer gellend los, obwohl ich ein wenig mäkelnd dachte, dass die Pose viel eindrucksvoller war, wenn Sari dabei nicht den Anzug, sondern Jeans und T-Shirt trug, weil dann immer der Bauchnabel so nett hervorblitzte. Nach dem letzten Ton ging das Bühnenlicht aus und die euphorisierten Fans kreischten sogar weiter, als sie Sari gar nicht mehr sehen konnten.

Sofort ging Sing mal wieder los, bei dem Eddi den Mitsingteil sehr anspruchsvoll gestaltete, Töne zog, seltsame Windungen brummelte und sehr quere Melodiebögen improvisierte. Das Publikum war durch das vorherige Kreischen aber stimmlich gelockert und hatte sowieso alle Hemmungen verloren, so dass toll mitgemacht wurde. Eddi rief zwischendurch: “Und jetzt alle aufstehen!” in den Saal und erreichte auf diese unauffällige Art, dass er am Ende Standing Ovation hatte.

Nicht nur das Publikum applaudierte begeistert, auch die Wise Guys gratulierten dem Publikum klatschend zu dessen Leistung. “Unglaublich!”, rief Eddi. “Lindlar rockt!!!” Als die aufgewühlte Stimmung wieder runterkam, trat Clemens an den Bühnenrand, blickte ernst auf die unruhige Zuschauermenge vor sich, die sich nach und nach wieder hinsetzte, aber immer noch lachend aufgedreht war, und sagte mit ruhiger Stimme: “Johann Sebastian Bach...”, was einen sofortigen Lachsturm auslöste, weil es so unerwartet und stimmungsmäßig völlig unpassend war. Clemens sprach mit ernster Stimme von der Symbolik im Lebenswerk Bachs und kam auf die Symbolik wichtiger Zahlen. Besonders eine Zahl hatte es ihm angetan, und er stellte Fragen, die immer nur diese eine Zahl zur Antwort hatten. Ganz zufällig war das die 40. Von “Wie hoch ist die Wattzahl einer mittelschwachen Glühbirne?” ging es zur Frage: “Wie alt muss ein Bass bei den Wise Guys werden... “, doch da wurde er von einem weiteren Lach- und Jubelsturm übertönt, so dass ich erst durch eine Nachfrage beim Afterglow erfuhr, wie er den Satz beendete: “... bis er bei ZWEI Liedern die Hauptstimme singen darf?”

Ferenc begann unter einem weiteren Jubelgeschrei der Zuschauer Tiefgang. Sofort setzten viele Klatscher ein, ganz vorschriftsmäßig auf die 2 und die 4, aber trotzdem störend, weil sie die Stimme von Ferenc zuklatschten. “Schschscht!” machte es überall und die Klatscher hörten auf oder verlegten sich aufs leise Schnipsen. Es war übrigens das erste Mal, dass ich dieses Lied von einem 40jährigen gesungen hörte. Bis dahin hatte ich es immer von einem Enddreißiger gehört, aber es gefiel mir in beiden Varianten sehr gut und ich hatte nichts zu meckern.

Wieder jubelte das Publikum im Anschluss los, und nachdem es in der ersten Konzerthälfte gut, aber nicht besonders lang oder extrem ausflippend geklatscht hatte, steigerte es sich jetzt in jubilierende Höhen. Hoffentlich hielt der Traktor durch. Dän freute sich mit Ferenc über den sehr langen Applaus und sagte freundlich: “Das wird ihm gut tun, zu Beginn dieser neuen Lebensphase”, was einen erneuten Lachanfall des Publikums auslöste.

Dän versprach, dass beim nächsten Lied alle Leute mitsingen durften, die davor beim Mitklatschen ausgebremst worden waren, allerdings nur, sofern sie den Text kannten. Da Clemens auf der Bühne nicht mehr zu sehen war, erwies ich mich als Kennerin des Programmes und erwartete Nur für dich. Eine Erwartung, die dann auch erfüllt wurde. War aber auch nicht schwer. Die vier Background-Guys begannen mit dem Intro, und unter dem kreischenden Gelächter der Zuschauer kam Clemens auf die Bühne geschlurft. Die Haare nass ins Gesicht gestrichen, die Miene extrem leidend. Er brauchte drei Introanläufe, bis er endlich einstieg, aber dann sang auch ein großer Teil des Publikums sofort mit. Im Refrain waren viele sanfte Mädchenstimmen zu hören, die überwiegend in leicht rheinischem Slang inbrünstig: “Nur für disch” sangen. War aber trotzdem schön.

Als Clemens die Anzugjacke auszog und sein aufgeknöpftes Hemd den Blick auf ein Stück Oberkörper frei machte, ging ein Aufschrei durch das weibliche Publikum. Wow! Das war ja fast nicht zu glauben, welche Verwandlung dieser Mann innerhalb von Sekunden durchmachte. Und erstaunlicherweise wirkte er als strahlender Frauentyp mit offenem Hemd völlig überzeugend, als würde er auch privat oft so durch die Gegend laufen. Wer weiß, vielleicht tat er es? Am Ende flippte Lindlar aus und jubelte laut.

Zum Abschluß des Programmes gab es Schiller. Am Anfang lachten die Zuschauer noch amüsiert über das vermeintliche Hundegeheul, aber irgendwie war dann doch alles gruselig und der Hund wurde als Wolf geoutet. Vielleicht sogar als Werwolf? Es trat eine gebannte Stille ein, die nur unterbrochen wurde, wenn Eddis tänzerische Bewegungen Gejohle auslösten oder wenn der Text besonders witzig war.

Ferenc rezitierte gegen Ende des Liedes mit unheimlicher Stimme Schiller-Verse und verängstigte die zuhörenden Kinder vermutlich total. Tolle Idee, abends mal schnell mit der Familie ins Kulturzentrum zum lustigen Wise Guys Konzert zu gehen und danach die halbe Nacht lang albträumende Kinder beruhigen zu müssen!

Das Publikum schrie am Ende des Liedes laut los. Angstschreie oder Begeisterung? Ich tippte auf Letzteres. Es hörte sich an wie 800 Leute gleichzeitig in der Achterbahn, die soeben in donnernder Abfahrt nach unten raste. Allerdings wären die Leute in der Achterbahn sitzen geblieben, während sie im Lindlarer Saal von den Stühlen sprangen und mit lautem, rhythmischen Klatschen Zugabe-Rufe brüllten.

Die Wise Guys verbeugten sich, strahlten in das jubelnde Publikum und gingen dann ab. Erwartungsgemäß kamen sie kurz danach wieder und begannen mit Ruf doch mal an. Die Zuschauer hatten sich gerade wieder erwartungsvoll hingesetzt und sprangen sofort wieder auf. Es wurde mitgesungen und mitgeklatscht, nur das Mitspringen fiel etwas vorsichtiger aus, weil überall Stühle standen. Ich hoffte trotzdem, dass das Gebäude nicht wegen seiner hohen Baufälligkeit renoviert werden musste, denn dann hätten ihm diese Erschütterungen den Rest geben können.

Es gab nur wenig Pause nach dem Lied - wenn Party, dann richtig - und die Wise Guys hängten noch Jetzt ist Sommer hinten dran. Das war nicht so anstrengend schnell wie ‘Ruf doch mal an’, dafür groovte es mehr. Die Zuschauer hatten sich zwischendrin auch gar nicht mehr hingesetzt und feierten anschließend jubelnd.

Mit lauten Zugabe-Rufen wurden die Wise Guys erneut auf die Bühne geholt. Und es war sensationell: Vom Publikum wurde kein lautstarker ‘Ohrwurm’ angestimmt! Ich konnte es kaum glauben, freute mich aber sehr. Das Kulturzentrum machte seinem Namenm alle Ehre. Am Vorabend in Mainz war noch lautstark nach ihm gegrölt worden, und Dän hatte gesagt, dass der Ohrwurm krank sei und sich wahrscheinlich nicht mehr erholen würde. Ich wünschte dem Ohrwurm eine schöne Zeit zur Genesung mit anschließend ganz langer Kur. Kurzbesuche auf Totalnächten oder auch mal einer Spezialnacht wären von mir aus in Ordnung, aber seine Zeit war einfach vorbei. Es gab doch so viel schönere Wise Guys Lieder!

Zum Beispiel, das nächste. Dän forderte das Publikum auf, Platz zu nehmen, kündigte für den Afterglow im Foyer ein ganz neues Lied an, und sagte, dass sie vorher noch ein Schlaflied singen wollten, das mit der Nordsee zu tun hatte. Unter intensiv blau leuchtendem Hintergrundlicht standen sie ganz ruhig nebeneinander und sangen Träum vom Meer. Ich habe ja recht viele Lieblingslieder der Wise Guys, aber das gehört wirklich zu meinen allerliebsten und geht mir tief ins Herz. Leider waren manche Bronchien bei den Zuschauern durch das vorherige Rumhüpfen und Jubeln gereizt und mussten abgehustet werden, und immer wieder knirschte und klappte die Saaltüre, weil jemand schon schnell zu den Toiletten oder ins Foyer wollte. Schade. Es beeinträchtigte die Stimmung ein wenig, aber trotzdem war es sehr schön. Ich versank und mein Pulsschlag war kaum noch zu spüren.

Es gab eine letzte Verbeugung, die Wise Guys gingen umjubelt ab und die Zuschauer sammelten sich fast vollständig im Foyer, um auf das versprochene Geburtstagsständchen und auf das ganz neue Lied zu warten. Außerdem natürlich, um Autogramme zu holen, Fotos zu machen und die Wise Guys mal ganz nah sehen zu können. Nach dem Geburtstagsständchen, das Ständchen hieß und vom Geburtstag handelte, kam das neue Lied, das Sonnenschein hieß, von einem Sonnenschein handelte und total schön war. Wenn das mal kein Klassiker wird!

Opener A
Opener B
Denglisch
Aber sonst gesund
Sie bricht mir das Herz
Wir hatten eine gute Zeit
Seemann
Jeden Samstag
Jetzt und Hier
Buddy Biber
Wo der Pfeffer wächst
Schunkeln

Radio
Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf
Relativ
Paris
Powerfrau
Sing mal wieder
Tiefgang
Nur für dich
Schiller
Ruf doch mal an
Jetzt ist Sommer
Träum vom Meer