Lars Reichow – Boomerland – 14.05.2025 – Eschweiler
Talbahnhof Eschweiler
Das Plakat zum Programm „Boomerland“ hing wohl schon etwas länger an der Litfaßsäule vor dem Theater und war ziemlich ausgeblichen. Ja, gut, in den letzten Wochen hatte oft die Sonne geschienen, aber dass damit unterschwellig vermittelt wurde, die Boomergeneration sei nicht mehr ganz frisch, empfand ich dann doch als unsensibel. Ich war selber eine Boomerin.

Lars Reichow war ebenfalls Boomer und gehörte damit zu den geburtenstarken Jahrgängen zwischen … tja, das war nicht genau definiert, beziehungsweise die Daten der Babyboomerjahre variierten in Angaben zwischen 1950 bis 1969. Am treffendsten kam mir der Bereich zwischen 1956 und 1967 vor. Gefühlt. Aber vielleicht stimmte da etwas mit meinem Boomer-Gefühl nicht.
Die meisten Zuschauer, die im Saal des Talbahnhofes saßen, sahen aus, als würden ihre Geburtsjahre zum Programmnamen passen. Gleich zu Beginn führte Lars Reichow singend und Klavier spielend in die Thematik ein. Das Lied handelte von Boomern, von den vielen Geburtsschreien, die damals einer nach dem anderen zu hören waren, zittrigen Einträgen von Hebammen, die zur nächsten Geburt eilen mussten, von einer Generation, die immer „viele“ waren, die gearbeitet und Urlaub gemacht hatte und jetzt die Reisen lässig digital buchte, die Tickets aber noch ausdruckte. „Wir sind nicht nur viele, wir sind die meisten“, war der Refrain.
Abgesehen davon, dass die Zuschauer immer wieder auflachten, weil der Text so genau zur Situation passte, schmolz ich schon wieder weg. Ach, diese Singstimme! Diese raue, sanfte, wunderbare Stimme! Ich wusste, wie gut sie mir gefiel, aber ich war doch immer wieder überrascht, dass sie mir unmittelbar in Herz und Seele ging und ein seliges Grinsen auslöste.

In der Begrüßung erklärte Lars Reichow den Begriff „Boomer“ und fragte nach Zuschauern aus dem Jahrgang 1964, der nicht nur sein eigener, sondern auch der geburtenstärkste der Boomergeneration war. Es meldete sich niemand. „Keiner von 1964 da?“, fragte er ungläubig. Jedenfalls keiner, der sich meldete. Ich wartete, ob er auch andere Jahrgänge abfragen würde, denn dann hätte ich aufzeigen können, aber das war ihm wohl zu detailreich.
Die Boomer hatten inzwischen zum großen Teil eigene Familien und die Kinder waren groß. Lars Reichow schilderte einen Restaurantbesuch mit seiner Familie und klagte über das Interesse mancher Menschen, das Essen zu teilen oder zumindest beim Tischnachbarn zu probieren. Er formulierte so treffend, dass ich mir jedes Detail sofort vorstellen konnte. Dabei gestikulierte er, regte sich auf, erklärte, übertrieb und es war besonders lustig, weil er dabei ernsthaft und seriös wirkte. Das Publikum lachte vergnügt und ich grinste inzwischen nicht mehr selig, sondern ziemlich breit und wischte mir die erste Lachträne aus dem Auge. Er hatte es einfach drauf mit dem Erzählen von Familiengeschichten, bei denen er sich empört über die anderen beklagte, selber aber nicht gut wegkam.

Die Boomergeneration hatte in sechs Jahrzehnten eine schnelle technische Entwicklung miterlebt. Eine manchmal vielleicht zu schnelle. „Gestern Nacht ist mein Computer verstorben“, hieß ein Lied und enthielt den Dialog zwischen dem ratlosen Vater vor dem Computer und den um Hilfe gebetenen Sohn am Telefon. Anscheinend konnte sich ein Großteil des Publikums in der Rolle des Vaters wiedererkennen. Ich mich auch. Treffer. Aber das war kein Zufall: Die Boomer waren gleichzeitig aufgewachsen und hatten ähnliche Sachen erlebt. Und sie waren nicht selbstverständlich mit Computern großgeworden, sondern mussten sich meist mühsam nachträglich damit beschäftigen. „Die Kinder wohnen inzwischen auch weit weg“, seufzte Lars Reichow. „Wenn man fragt: Ich brauche Hilfe, kannst du vorbeikommen, antworten sie: Ja, in zwei Wochen.“
Auch wenn es im Programm viele lustige Erzählungen gab, bei denen sehr gelacht wurde, gab es auch ernstere Themen. Die Boomer waren eine Generation, die in ihrer Jugend eine weite, offene, angenehme Zukunft vor sich liegen hatten. Alles schien immer besser, größer und erfolgreicher zu werden. „In der Zukunft war immer alles besser als in der Gegenwart“, erinnerte sich Lars Reichow. „Nur alte Leute sagten: Früher war alles besser.“ Angesichts der derzeitigen Krisen und des Klimawandels stellte er aber fest: „Jetzt stimmt es, dass früher vieles besser war.“ Er verlangte, dass die Boomer, die die Klimaprobleme mitverursacht hatten, jetzt auch bereit für Veränderungen und Einschränkungen sein mussten, um den nächsten Generationen mit der Bewältigung der Folgen zu helfen. „Das überlasse ich den Jungen und gehe erstmal auf Kreuzfahrt“, sei nicht die Lösung.
Ich fand es immer wieder gut, dass Lars Reichow auch politisch klare Aussagen machte. Die FDP und der CSU-Söder bekamen Kommentare ab, über die Dreistigkeit und Dummheit von Trump reagierte er fassungslos und die AfD bezeichnete er angewidert als rassistische, klima- und menschenfeindliche Partei, was ja nicht mal eine persönliche Beurteilung, sondern eine Tatsache war. In politischen Ansichten schienen Herr Reichow und ich generell keinen Diskussionsbedarf zu haben.
Wenn er am Klavier spielte und sang, was er wechselnd mit den Wortbeiträgen machte, schmolz ich weiterhin weg. Ich dachte plötzlich: „Egal, was für einen Text er singt, ich bin immer gebannt von dieser Stimme. Selbst wenn er das Telefonbuch runtersingen würde, wäre ich verzückt und würde lächeln.“ Es war nicht so, dass ich nicht auf die Texte gehört hätte, im Gegenteil. Aber wenn zur gleichen Melodie ein völlig anderer Inhalt oder eine mir unverständliche Sprache gekommen wäre, hätte ich auch alles wunderbar gefunden.

Inzwischen waren die ersten Boomer in der Rentnergeneration angekommen. „Das Alter hat – habe ich gelesen – wohl Vorteile …“, begann Lars Reichow, dann fiel ihm aber keiner ein. Außer vielleicht den der Erfahrung, die in den vielen Jahren angesammelt werden konnte. Die gab er gerne an die jüngeren Generationen weiter, wie er anschaulich schilderte und mit der dabei zu erkennenden Penetranz den Saal zum Lachen brachte. Erzählen konnte er großartig. Selbst zwei Witze, die ich beide schon kannte, waren so gut gebracht, dass ich sehr vergnügt über sie lachen musste und alleine die Erzählweise mir Spaß machte. Ach, ein Abend mit Lars Reichow war lachtränenlustig, ernsthaft, berührend und immer sehr gut. Er konnte zwischen größtem Blödsinn und ernsthaften Themen hin und her wechseln und nahm das Publikum auf dieser Achterbahn einfach mit.
Am Ende des Abends forderte er angesichts der Autokraten, Kriege – vor allem dem in der Ukraine – und angesichts der Klimaprobleme mehr Mut. „Ich bin dabei“, sollte jeder sagen können und etwas tun. Das letzte Lied war ernsthaft und ein eindrücklicher Abschluss. Sehr gut. Der Abschluss, aber auch der ganze Abend. Ganz besonders für Boomer.