Berichte

Rainald Grebe – Halleluja Berlin – 29.07.2023 – Berlin

Berlin, Waldbühne

Für den Tag des großen Waldbühnenkonzertes sind in Berlin starke Schauer und Unwetter angesagt. Die sind laut aktuellem Wetterbericht am Vormittag zu erwarten. Oder am Nachmittag. Oder am Abend. Es ist nicht vorauszusehen, wo und wann die Regenfelder runtergehen werden. „Aber doch nicht stundenlang am Abend über der Waldbühne, das wäre ja blöd“, denke ich optimistisch, nehme aber trotzdem Schirm und Regenjacke mit.

Das Programm soll um 19 Uhr beginnen. Als ich am Nachmittag ankomme, strahlt die Sonne und im Rund der Waldbühne läuft der Soundcheck. Schon auf dem Weg dorthin, noch hinter Büschen und Bäumen, höre ich Musik und eine Singstimme. Ich gehe langsam die langen Treppenstufen herunter in Richtung Bühne, wo Rainald Grebe gerade mit Bandbegleitung „Ich bin der Präsident“ ansingt. Seine Stimme klingt kräftig und dabei ganz entspannt. Ich lächle vor mich hin und freue mich. Eine momentan sonnige Waldbühne und ein singender Rainald. Gute Voraussetzungen für das große Waldbühnenspektakel.

Sowohl das Wetter als auch Rainald sind gerade nicht berechenbar. Er hat seit längerem eine chronische Krankheit, die immer wieder Schlaganfälle auslöst, durch die er sehr plötzlich komplett ausgebremst werden kann. Es hätte es sein können, dass deswegen das große Waldbühnen-Konzertspektakel einige Tage vorher hätte abgesagt werden müssen. Oder am Tag vorher. Oder noch jetzt, mitten im Soundcheck. Es ist alles nicht planbar. Sollte es ihm gesundheitlich nicht gut genug gehen, kann er so ein großes Konzert nicht durchziehen. Dass er kurz vor Beginn so fit, entspannt und sehr energiegeladen klingt, ist mehr als schön und freut mich. Vor allem für ihn.

Wie üblich bei einem Soundcheck für ein Konzert mit vielen Gästen, Künstlern und Gruppen, wird das komplette Programm in Kurzform durchgegangen. Weiß jeder an welcher Stelle er stehen muss? Sind die passenden Mikros rechtzeitig da, wer bringt sie, wohin kommen sie danach? Sind alle, die gebraucht werden, zum richtigen Moment auch da? Franz Schumacher sitzt am Tonmischpult und hat alles im Griff. Er dirigiert durch den geplanten Ablauf mit den vielen Programmpunkten, ruft die nächsten Künstler auf die Bühne und weiß, wann welche Mikrofone aktiv sein müssen.

Es geht mit kurzen Stichworten durch eine Moderation, die nächste Gruppe formiert sich währenddessen auf dem dafür vorgesehenen Platz, ein Lied wird angespielt, Schnelldurchlauf und Check. Die Stimmung ist gut, es wirkt stressfrei. Ich gucke zwischendurch zu Rainald, sehe ihn gelassen und aufmerksam und freue mich.

Gegen Ende des Soundchecks verteilen sich Ordner, die farbige Westen tragen, im weiten Zuschauerbereich. Auf den Rängen ist freie Platzwahl, nur der Innenbereich hat nummerierte Plätze, vor denen weitere Ordner darauf achten, dass nur Zuschauer mit Platzkarten dort hinkommen. Schwarz gekleidete Ordner, von denen die meisten Agenten-Sonnenbrillen tragen, stellen sich vor der Bühne auf und starren mit ernstem Blick in Richtung der Sitzplätze. Ihr grimmiger Gesichtsausdruck und ihre Haltung drücken überzeugend aus: „Hier kommt keiner vorbei!“ Dabei ist ja noch gar keiner da. Das wirkt so unpassend, dass es schon wieder witzig ist.

Nach dem Soundcheck leert sich die Bühne schnell und der Einlass beginnt. Über die oben liegenden Zugänge kommen die ersten Zuschauer herunter – mit sorgsamen Schritten, weil die langen Treppen krumm ausgetretene Stufen haben – und wählen sich eine Sitzbank. Kurz darauf zieht sich der bis dahin sonnige Himmel sehr schnell dunkel zu und es gibt erste Windböen, die die Bäume laut rauschen lassen. Die bis dahin angekommenen Zuschauer greifen nach Regenjacken und Plastikponchos und klappen Schirme auf. Die ersten Tropfen fallen, auf der Bühne werden eilig Instrumente und Boxen mit großen Plastikplanen abgedeckt.   

Zehn Minuten später prasselt ein Wolkenbruch los. Aber so richtig. Mit Donner und strömendem Regen. Die Zuschauer sitzen ergeben im von oben fallenden Wasser und wer keinen Regenschutz dabei hat, ist innerhalb von zwei Minuten nass. Sehr nass. Die gefährlich blickenden Ordner vor der Bühne behalten die still sitzenden Menschen weiterhin ernst im Blick, tragen jetzt aber durchsichtige Plastikponchos, was sie deutlich ungefährlicher aussehen lässt.

Nach einer Viertelstunde ist der dicke Regenguss ganz plötzlich vorbei. Auf den Bänken und Stühlen steht das Wasser. Nur unter den Besuchern, die schon saßen und sich während des Regens nicht rührten, sind die Sitzflächen trocken geblieben. „Scheiße!“, schimpfen einige Zuschauer und wringen ihre Jacken aus. Schräg vor mir hat eine Frau einen Lachanfall, guckt ihren nassen Begleiter an und lacht noch mehr. Und dann kommt tatsächlich die Sonne wieder raus. Die Waldbühne wird kurzzeitig zur glitzernden Pracht, weil die Sonne sich funkelnd in allen Regentropfen auf Bänken, Stühlen und Regenjacken bricht.

Unermüdlich kommen weitere Zuschauer an, auch wenn die Veranstaltung nicht ausverkauft ist. Die vorherige Verschiebung des ursprünglichen Termins, die Veränderungen im Konzertbesuchsverhalten nach der Coronazeit und das in diesen Wochen unbeständige Wetter tragen dazu bei. Karten werden jetzt oft spontan gekauft, bei einem Open-Air-Konzert mit unsicheren Wetterverhältnissen und angesagten Schauern lassen es dann viele.

Ein ausgestopftes, lebensgroßes Wildschwein wird auf die Bühne gerollt und dekorativ abgestellt. Es ist gerade erst eine Woche her, dass ganz in der Nähe der Waldbühne aufgeregt nach einem im Dunkeln gesichteten Löwen gesucht wurde, der im Nachhinein zum Wildschwein erklärt wurde. Die um mich herum sitzenden Zuschauer haben Spaß. „Is det ‘n Wildschwein oder is da ‘n Löwe?“ wird gefragt. Und feixend: „Sitzt da ‘n Löwe? Ick seh det nisch rischtisch.“

Es ist eine Viertelstunde vor Konzertbeginn, das mit einem bunten Vorprogramm starten soll. Rechts neben der Bühne machen sich Turner bereit. Sie tragen weiße Hosen und rote Achselhemden, hopsen auf und ab, strecken und recken die Arme und lassen sie kreisen. Währenddessen wird der Bühnenboden trockengewischt. Von den Instrumenten und Boxen werden die Planen entfernt. Neben den Turnern sammelt sich eine schwarz gekleidete Bläsergruppe, deren Instrumente golden funkeln. Noch immer kommen gemächlich weitere Zuschauer über Treppen nach unten geschritten. Der Mann hinter mir guckt auf sein Handy und teilt seiner Begleitung mit: „Das Regenband ist durch. Da kommt nichts mehr.“ Das wäre ja schön!


Es geht los. Pünktlich um 19 Uhr startet das Vorprogramm. Auf der Videoleinwand erscheint Thomas Hermanns, der grüßt und erklärt, dass er leider nicht kommen könne, weil er in New York weile, wo es auch schön sei.

Die Bläser gehen los in den Zuschauerbereich, werden schon alleine für diese Bewegung beklatscht, und spielen „Guantanamera“. Volksfeststimmung.

Auf der Bühne erscheinen bunt gekleidete Mädchen, die wie die mexikanische Malerin Frida Kahlo aussehen, und nacheinander große Luftballons fliegen lassen. Ein geschminkter Tod sieht zu. Das Publikum klatscht für jeden einzelnen abfliegenden Ballon. Da ist „Dia de Muertos“ zu erkennen, der in Mexiko bunt gefeierte „Tag der Toten“. Eine liebevolle, fröhliche Verbindung von Lebenden und Toten – nicht zufällig das Anfangsbild für dieses Konzert. Bei Rainald Grebe hat alles einen Zusammenhang, nichts ist zufällig. Hinter dem Flügel steht eine Statue des ägyptischen Gottes Anubis, der die Toten in die Unterwelt begleitet. An diesem Abend geht es um „Waldbühne – Wald – Leben – Tod“. Es soll auch biographisch werden, und da ist der Tod angesichts seiner Krankheit ein Thema, mit dem er sich beschäftigt. Und wie Rainald es eben macht, sehr ausgiebig und aus verschiedenen Blickwinkeln.

Die Kinder gehen ab, die Blaskappelle geht zum Ausgangspunkt zurück, setzt sich aber gleich wieder in Bewegung und spielt erneut los. Ein weiteres mexikanisches Lied, das die Fröhlichkeit eines Liedes der Augsburger Puppenkiste hat, löst sofortiges Mitklatschen aus. Währenddessen steht der bunt geschminkte Tod auf der Bühne und guckt ernst. Vier bunte Träger – eher Waldarbeiter in grünen Latzhosen und mit blättergeschmückten roten Helmen – tragen in langsamen Schritten einen Sarg über die Bühne. Auf dem Bühnensteg laufen die Mädchen mit großen Löffeln und balancieren darauf große Eier. Das Publikum klatscht über jeden geschafften Lauf und macht laut bedauernd: „Oooooh!“, wenn ein Ei herunterfällt und in zwei Hälften bricht. Die Mädchen gehen ab, die Träger mit Sarg auch, hinter ihnen läuft der Tod.

Auf der Leinwand erscheint Olaf Schubert, der unter Palmen steht und erklärt, dass er nicht komme, weil er lieber Urlaub mit der Familie mache. Es gehe um Prioritäten. „Ich wäre gerne gekommen, aber Familie ist einfach wichtiger.“ Die Kamera geht nach unten und ganz kurz ist ein Schild in seinen Händen zu sehen, auf dem steht: „Meine Familie hält mich gegen meinen Willen fest!“ Diejenigen Zuschauer, die es gerade noch lesen können, lachen auf.

Die Turner laufen in Reihe vor der Bühne auf, wo ein Barren steht. Sie werden als „Turnerriege der Berliner Turnerschaft von 1863“ angesagt, und unter ihnen ist der DDR-Jugendmeister von 1955. Nacheinander führen sie Übungen vor und jede wird vom Publikum beklatscht. Wenn spektakuläre Übungen zu sehen sind, wird wie bei einer Weltmeisterschaft gejubelt. Ein ganz wunderbares Publikum, das sich freudig auf alles einlässt und gut reagiert.

Nach wenigen Minuten gehen die Turner winkend ab. Im unteren Teil eines Zuschauerblocks steht ein ebenfalls winkender Mann auf, der, den Blick nach oben auf die Treppe gerichtet, laut: „Alex!“ ruft. Sofort stimmen andere Zuschauer ein: „Alex!!“ und dann ruft der halbe Block synchron: „ALEEEEX!!!“ Großes Gelächter, super Stimmung. Kein von Rainald ausgedachter Programmpunkt, aber trotzdem passend zur aufgeschlossenen und erwartungsvollen Spektakel-Atmosphäre in der Waldbühne.

Auf der Leinwand erscheint der Maulwurf von René Marik, in einer Hängematte liegend. Er nuschelt hektisch etwas eher Unverständliches, aus dem am Ende: „ … komm’n – neeee!“ zu verstehen ist. Er schluchzt, legt sich zurück in die Hängematte und schläft sofort wieder schnarchend ein.

Im Applaus für den Videoeinspieler stellt sich ein Chor links auf die Bühne. Die Sängerinnen und Sänger sind schwarz gekleidet und an Schultern und Köpfen mit grünem Laub umkränzt. Das sind die „Singing Shrinks“ stellt der Leiter sie vor, ein Berliner Chor, der aus Psychologen, Neurologen und Therapeuten besteht. „Tagsüber behandeln wir psychische Krisen, abends singen wir zusammen.“ Ein flottes niederländisches Leven (Leben) bringt das Publikum gleich wieder zum Mitklatschen. Der Chor singt dafür, dass es keine Profimusiker sind, ziemlich gut. Es macht Spaß, ihm zuzuhören. Der Refrain kommt gegen Schluss ein bisschen zu oft, so dass das Mitklatschen des Publikums nach und nach weniger wird, aber am Ende gibt es für den fröhlich lebendigen Chorauftritt großen Jubel.

Die kleine Stockung im Ablauf lässt sich daran erkennen, dass gerade mal gar nichts passiert. Die Bildregie nimmt zur Überbrückung die ausgestopften Tiere, die auf der Bühne verteilt sind, ins Bild und zeigt sie groß auf der Leinwand. Fuchs. Rabe. Als das Wildschwein zu sehen ist, gibt es ringsherum natürlich sofort wieder fröhliche Ausrufe: „Der Löwe!!“

Auf der Leinwand erscheint Bodo Wartke. Er verkündet, dass er nicht kommen könne, weil er in Bern sei. Er wünscht viel Spaß in der Waldbühne. Aus dem Publikum sind enttäuschte Töne zu hören. Och, nee! Der steht doch auf allen Plakaten. Schade.

Inzwischen hat sich der Chor am rechten Bühnenrand versammelt. Links, erhöht neben der Bühne, sind als große, bewegliche Spielfiguren ein großes Nashorn und ein mächtiger Wasserbüffel zu sehen. Sie werden verblüffend lebensecht bewegt.

Einige Jagdbläser aus Köllnitz kommen in grüner Jäger- oder Jagdbläserkleidung auf die Bühne, heben ihre Jagdhörner und blasen ein Signal. „Schwein tot“ oder „Reh weg“, ich kenne mich da nicht aus.

Sie sind gerade mittendrin, da werden sie mit einem lauten „Stopp!“ unterbrochen. Franz Schumacher betritt mit einem Mikrofon in der Hand die Bühne. Franz war und ist der Tontechniker, inzwischen aber auch Tourfahrer, Organisator und ein aufmerksamer Freund, der Rainald zuverlässig unterstützt, ihm Pausen verschafft und gut auf ihn achtet.

„Ja, hallo erstmal …“, beginnt er und berichtet, dass sie am gestrigen Tag bis Mitternacht und heute auch wieder bis kurz vor Einlass geprobt hätten. Links kämpfen derweil das Nashorn und der Wasserbüffel in gemächlichen Bewegungen gegeneinander. Mit ernster Stimme sagt Franz: „Rainald sagte eben: Ich kann nicht. Ich komme nicht.“ Es ist plötzlich still in der Waldbühne. Atemlos still. Das ist die Absage, die viele befürchtet haben. Ach, menno! Wie tragisch. Der arme Rainald. Ringsherum komplette Ruhe. Kein Ruf, kein Räuspern, alle starren auf Franz.

„Nein! Halt!!“, ist da die Stimme von Rainald aus den Lautsprechern zu hören, und auf der Leinwand wird er eingeblendet. Er sitzt in einem Krankenbett, das mitten im Grünen steht, trägt ein Krankenhemd und ist mit einer weißen Decke zugedeckt. Auf dem Kopf hat er einen grünen Häuptlings-Federschmuck. Großer Jubel und spürbares Aufatmen beim erleichtert lachenden Publikum.

Laute Winnetou-Musik beginnt, und unter weiterem Gejubel der Zuschauer sieht man auf der Leinwand, wie Rainald von den vier Waldarbeiter-Pflegern auf einer Trage Richtung Bühne gebracht wird. Auf einer kleinen Plattform rechts neben der Bühne tauchen sie auf. Die Decke ist weg, Rainald trägt einen grünseidenen Morgenmantel über dem Krankenhaushemd und eine grüne Jogginghose.

Der Auftritt löst sofort Erinnerungen aus. Bei seinem großen Waldbühnenkonzert 2011 kam er zu Beginn des Konzertes an genau dieser Stelle als federgeschmückter Häuptling auf einem Schimmel angeritten. Das eindrucksvolle Bild und die begleitende Winnetou-Musik machten einen Heldenauftritt daraus, auch wenn sich das nervöse Pferd dann ungeplant mit dem Kopf in die falsche Richtung drehte und lieber zurückwollte. Was für eine Größe, dass Rainald sich jetzt von der gleichen Winnetou-Helden-Musik untermalt – und anstatt auf dem Pferd sitzend, auf der Trage liegend – an diesen Platz bringen lässt. Erstaunlicherweise macht mich das nicht wehmütig. Oder nur ein bisschen. Die Zeiten haben sich geändert, und es ist beeindruckend, wie Rainald damit auch spielen kann. Er ist angeschlagen, aber er steht wieder auf.

„Hier!“, ruft er und winkt, um die Blicke der Zuschauer auf sich zu bringen. Er erhebt sich von der Trage und ruft laut: „Kennt ihr mich noch? Habt ihr noch Bock? Wollt ihr noch eine Nacht mit mir? Es könnte die letzte sein!“ Trotz des makaberen letzten Satzes jubelt das Publikum laut. „Dann fangen wir jetzt an“, verkündet Rainald.

Weil der Abend auch so etwas wie ein Rückblick auf sein Leben sein soll, erzählt er kurz vom Tag und Ort seiner Geburt. Dann weist er auf seine Mama hin. Die ist in diesem Fall Anna Mateur, die gerade vor der Bühne auf einem Personenlift nach oben fährt, während sie sich hörbar in Geburtswehen befindet. Vor ihr hängt ein weißes Laken bis auf den Boden, dass beim Hochfahren immer länger wird. Die Wehen werden stärker, ihr Gebrüll steigert sich und endet mit einem lauten: „Raiiinaaaaaaaald!!“ „Ich komme!“, ruft der laut zurück, verschwindet von der Plattform und macht sich auf den Weg zum vor der Bühne aufgebauten Steg. Währenddessen fährt seine Mama nach erfolgreicher Geburt von ihrem Gebärort herunter und schleppt sich erschöpft und auf allen Vieren über die Stufen auf die Bühne zurück. 

Der langjährige Gitarrist Marcus Baumgart und der dagegen noch neue Schlagzeuger „Onkel“ kommen mit Gitarre und afrikanischer Trommel ebenfalls auf den Steg. Mit Rainald zusammen spielen sie Volkslieder, beziehungsweise sie singen bruchstückhaft Textzeilen, suchen vermeintlich nach den Worten, beginnen immer wieder andere bekannte Mitsinglieder und brechen sie wegen des fehlenden Textes ab. Rainald ruft ins Publikum: „Und alle!!“, aber ehe überhaupt jemand einsetzen kann, starten sie schon das nächste Lied in Textteilstücken. „An meinem Vaterhaus, wächst eine … Blinde …“ Rainald klettert auf eine Kiste, leicht schwankend und dabei: „Mir wird schwindelig!“ ausstoßend, steht dann aber oben und singt mit voller Kraft, während er mit den Armen rudert. Das kostet Luft und er wird ein wenig schweratmig, was aber zur Hektik der schnell wechselnden Liederbruchstücke passt. „Aus! Das war’s!“, brüllt er am Ende und das Publikum jubelt laut los.

Währenddessen setzt er sich auf den Personenlifter und fummelt suchend an den Knöpfen herum. Auf einmal steigt der Lifter langsam nach oben. Zufrieden kommentiert er: „Man muss immer wissen, welche Knöpfe man drückt.“ Dann grinst er: „Nach dem fünften Schlaganfall hatte ich keine Höhenangst mehr. Es hat auch was Gutes.“ Ein bisschen mulmig scheint es ihm aber doch zu sein. Oben angekommen beginnt ein dumpfer Bass, das Publikum erkennt am Rhythmus das Lied und steigt sofort klatschend ein. Rainald beginnt zu singen: „Ich bin der Präsident.“ Auf dem Lifter stehend blickt er auf sein „Volk“ und singt von seinen Fahrten mit dem Hubschrauber über das Land. Das passt wunderbar.

Am Ende fährt Rainald unter Applaus wieder runter und wird von den Krankenpflegern empfangen, die ihm Holzkrücken und Gehhilfen anbieten. „Ich brauch das nicht! Ich bin topfit!“, ruft Rainald laut aus und schickt sie weg.

Er geht zurück auf die Bühne, wo sich Franz auf der Leinwand meldet. Der spricht den ersten großen Schlaganfall an, den Rainald einige Jahre zuvor in Düsseldorf hatte. „Ich will euch nicht langweilen, aber es gehört dazu“, sagt Franz. Nachdem sie abwechselnd und sich ergänzend vom Abend berichtet haben, sagt Rainald zu ihm: „Was soll NOCH passieren?“ Franz: „Ja, was?“ Rainald: „Vielleicht sterben noch?“ Sofort wirft er entschieden hinterher: „Nein!“, gefolgt von einem leicht lächelnden: „Na, warten wir’s ab.“

Der Bass muss laufen ist dran. Der Bassist Serge Radke steht im Brautkleid auf der Bühne, Rainald singt, es geht um die Biologie und das Älterwerden. Beim Refrain wird heftigst vom Publikum mitgeklatscht, das Tempo steigert sich immer wieder und wird von Rainald weiter hochgepeitscht, ehe es wieder abfällt. Es ist unglaublich, mit welcher Energie und Intensität er diesen Abend macht. Während des Applauses wird Klaus Dieter Werner, der kleinwüchsig ist und im Rollstuhl sitzt, von den Krankenpflegern auf die Bühne getragen. Er brüllt Gesundheitstipps: „Drei Mal am Tag trinken!“ „Fünf Mal am Tag auf einem Bein stehen!“ „Eine Banane essen!“ – „Raus!!“, ruft Rainald und will nichts davon hören. Der Mahner und Einschränker wird wieder rausgetragen.

Rainald singt Prenzlauer Berg, rechtzeitig kommt der „Singing Shrinks“- Chor dazu, um an der Blockflöten-Solo-Stelle mit vielen Blockflöten einzusetzen. Rainald hat ebenfalls eine Blockflöte und zusammen erzeugen sie den Klang eines schrill quietschenden 20-köpfigen Kinder-Blockflöten-Anfängerkurses. Grauenhaft schön. Es gibt Szenenapplaus.

Danach gibt es ein Mitmach-Lied, den Multitasker. Rainald probt mit dem Publikum den lauten Einwurf des Wortes „Mul-ti-tas-ker!“, und schon beim ersten Versuch schallt es rhythmisch perfekt und sehr laut von allen Seiten der großen Waldbühne zurück. Rainald strahlt: „Das ist geil! Das ist Arena!“ Weiteres Proben ist nicht notwendig, das Lied startet sofort und die Publikumseinwürfe kommen immer richtig, großartig und gewaltig. Das Tempo wird zunehmend schneller, der Text rast und Rainald hängt mit seinem unglaublichen Tempo das Publikum fast ab. Der letzte Ton verklingt und er lässt sich schwer atmend auf Hände und Knie fallen. Zwei „Sanitäter“ mit leuchtenden Ersthelferjacken und Köfferchen eilen herbei und hieven ihn in die Seitenlage. Schwer atmend keucht Rainald: „Geht gleich weiter!“, während die Sanitäter an ihm herumbehandeln.

Plötzlich ruft er aus: „Weg! Weg! Weg!!“, rappelt sich hoch, steht wieder und erklärt dem Publikum: „Wir erhöhen den Schwierigkeitsgrad. Ab jetzt wird nicht nur „Multitasker!“ gerufen, auch die Hände werden hochgerissen!“ Er macht es kurz vor. Das Lied geht weiter, die „Anarchisten“, eine vorwiegend mit Bläsern besetzte Musikband spielt wunderbare Bläsersätze dazu. Das Publikum ruft zum richtigen Zeitpunkt und hebt gleichzeitig die Hände, was in der Waldbühne eine große Dynamik hat. Super! Am Ende ruft Rainald laut: „Aus!“ und lobt: „Sehr gut!“ Es gibt viel Applaus, auch das Publikum ist mit der eigenen Performance mehr als zufrieden.

Die Sanitäter bringen Rainald einen Drehstuhl, auf den er sich fallenlässt. Er schickt sie weg und sagt mit Blick auf den Blätterschmuck an ihren Köpfen: „Grüßt den Wald!“ Im Stuhl sitzend singt er 20. Jahrhundert, und die Musik geht gut ab und ist mächtig. Ein toller Sound, der laut in der Luft ist, aber trotzdem klar und angenehm bleibt. Die Security vor der Bühne hat weiterhin ernste, bewegungslose Gesichter und scannt durch die Agenten-Sonnenbrillen die Umgebung ab.

Anna Mateur übernimmt, schreitet auf den Steg, stellt sich als Dresdnerin vor und wettert in hartem, kehlenverklemmten sächsisches Tonfall über „dos mossive Broblääm der Zühwondrung“ („Das massive Problem der Zuwanderung“ – falls meine Lautschrift nicht eindeutig ist). Sie schimpft erbost, dass jeder Dritte in Sachsen aus dem Erzgebirge sei! Im Publikum wird sehr fröhlich gelacht. Noch lauter, als sie sächsisch ausruft: „Mir sin in Doitschlond! Hier wörd Doitsch gschbrochn!!“ Anschließend singt sie Hier wird nicht gehutzt, bei dem es über Aue und das Erzgebirge geht und – sofern ich es verstanden habe – alles, was nicht aus Dresden und Sachsen ist, grundsätzlich fremd ist. Diejenigen Zuschauer, die alles verstehen, haben viel Spaß. Die anderen aber auch.

Anna geht als Backgroundsängerin auf die Bühne zurück und Rainald setzt sich an den Flügel. Der Chor stellt sich dazu. Rainald guckt ans andere Ende der Bühne auf die leeren Stühle und fragt: „Ist das Streichquartett schon da? Ich sehe es nicht.“ Franz schaltet sich ein: „Rainald, falsches Lied. Jetzt kommt Oben“. „Ach“, macht Rainald und setzt sich die bereitliegende Krone auf. Dem Publikum versichert er nach der unkomplizierten Krönung: „Das bin ja nicht ich, ich spiel das alles nur!“ Für niemanden überraschend beginnt Oben. Der Besen rührt auf dem Schlagzeug, die Begleitung ist lässig. Beim Refrain setzen der Chor und Anna Mateur ein, und es ist kraftvoll und klasse und ich mag das Lied sowieso sehr gerne.

Der Chor und die Band gehen ab, und Rainald sagt: „Franz, jetzt kommt es aber.“ „Jetzt kommt es“, versichert Franz. Wie geplant kommt das Streichquartett auf die Bühne und setzt sich hin. Meganice Zeit beginnt. Anna singt die zweite Stimme, das Streichquartett spielt sanft und gefühlvoll und hat einen warmen, sauberen Klang. Wunderschön.

Die Bühne leert sich. Rainald kommt nach vorne auf den Steg und erklärt: „Das meiste von mir ist ja vorbei. Ich hab‘ mein Lebenswerk auf dem Laptop.“ Hinter ihm auf der Leinwand ist ein Verzeichnis auf seinem Computer zu sehen.

Einer der Ordner heißt „Elfenbeinkonzert“. Rainald erzählt, dass das Elfenbein-Programm nach einem Aufenthalt über das Goethe-Institut an der Elfenbeinküste entstanden ist. Vor Ort hatte er mit einheimischen Schülern deutsches Liedgut gesungen. Franz folgt seiner Aufforderung und startet das dementsprechende Video. Laut und mit schrillen Stimmen singen die Kinder im Einspieler stolz „Atemlos“ von Helene Fischer, und Rainald ist zu sehen, der mitsingt. Während das Publikum lacht und Spaß hat, verdeckt Rainald in der Waldbühne scheinbar peinlich berührt das Gesicht.

„Ist eigentlich bekannt, dass ich Akademiker bin?“, fragt er danach. „Ich habe Puppenspiel studiert. Dipl.-Pup.“ Er kündigt einen früheren Mitbewohner aus der Puppenspielzeit an: „René Marik!“ Das Publikum jubelt los, da fällt ihm auf, dass es der falsche Programmpunkt ist. „Ach, so“, bremst er und korrigiert: „Mein Lehrer von früher lebt noch. Hans Krüger!“

Der kommt auf die Bühne gewuselt, trägt weite, verhüllende Kleidung, an der sich oben ein Schaumstoffkopf befindet, und hält mit jeder Hand einen weiteren Schaumstoffkopf, an dem jeweils ein Puppenkörper hängt. Er setzt sich auf einen Stuhl und es ist ein verwirrend buntes Bild, das nicht klarer wird, als er spricht und wechselnd die Puppenköpfe sprechen lässt. Es ist etwas chaotisch, bunt und skurril. Eine der hektisch nuschelnden Puppen soll anscheinend die Sprecherzieherin von Rainald Grebe darstellen.

Plötzlich ruft Hans Krüger unter der Kleidung hervor: „Leute, ich halt’s nicht mehr aus, ich krieg keine Luft mehr!“ und wuselt den eigenen Kopf aus der Kleidung hervor. Ist das die Nummer, etwas Spontanes oder tatsächlich Überlebenskampf?

Ehe ich das für mich klären kann, sagt er den nächsten Künstler an: „Uns verband eine Hassliebe, wobei der Fokus eher auf Hass lag.“ Vermutlich hatte sich das inzwischen geändert, denn der Grundton, in dem er René Marik ansagt, ist grundsätzlich freudig.

René Marik kommt aber gar nicht, stattdessen erscheint ein kleiner Eisbär auf einer Puppenspielleiste und moppert über Rainald: „Könnte doch selber spielen! Aber der feine Herr sitzt ja heute am Flügel.“ Die Zuschauer haben Spaß und jubeln noch lauter, als nach dem Abgang des Eisbären der Maulwurf hochploppt. „Hage!“, stammelt der. „Maulwurfn hier“, was die Zuschauer zu noch lauterem Jubeln bringt. Ein Pappschwert taucht von unten auf, auf dem in Großbuchstaben „Excalibur“ steht. „Ekschenkagu …“ versucht der Maulwurf abzulesen. „Ekschkagi-Pagi …“ Er wirft: „Moment‘n!“ hinterher und geht nach unten ab.

Das Publikum wartet kichernd und freudig, aber es passiert nichts. „Ächz, om, emm“ ist leise hinter der Spielleiste zu hören. Dann wieder nichts. Dann wieder leises Stöhnen und Ächzen. Es dauert zu lange, um geplant zu sein. Plötzlich ist René Mariks normale Stimme mit klagendem Unterton zu hören: „Das Teppichband ist feucht geworden!“ Eine Panne durch den Regen, die jetzt die Nummer beeinträchtig. Es ist eine lustige Situation. Zumindest für die Zuschauer, René Marik sieht das wohl anders.

Das Schwert bleibt weg, die Geschichte wird nicht aufgelöst, stattdessen kommt der Maulwurf zurück und will einen Witz erzählen. Irgendetwas über einen Hasen. Plötzlich erscheint eine Kuh. Die macht: „Määäh!“, was den Maulwurf erst in ein Rededuell mit ihr bringt – „Mäh!“ „Muh!!“ „Mäh!“ Muh!!“ – und dann verzweifelt: „Ne ne ne ne neeeee!“ rufen lässt. Vermutlich ist die Nummer schnell improvisiert, weil das Schwert oder irgendein Spielzubehör nicht klebte, aber die Zuschauer lachen vergnügt und ich vermute, dass viele die Nummer als genau so geplant annehmen. Beim Applaus zeigt René mit hilflosem Schulterzucken die Kleberolle.

Der geschminkte, in einem schwarzen Anzug steckende Tod kommt zurück auf die Bühne – er ist immer noch da. René Marik nimmt eine Gitarre, und mit seiner Band, den „Sugarhorses“, die aus einer Trompeterin und einem zupfenden Kontrabassisten besteht – in diesem Fall ist auch Onkel am Schlagzeug dabei -, singt er Creep von Radiohead. Eine sehr coole und wunderschön melancholische Version mit sehr schöner Gesangsstimme von René Marik. Ich mag es sehr.

Der Tod tanzt während des Liedes mit langsamen Bewegungen auf dem Steg vor der Bühne und zieht dabei die Jacke aus. Darunter trägt er eine weitere Jacke über dem ansonsten nackten Oberkörper. Dann zieht er die Hose aus, darunter trägt er einen weißen Tüllrock. Strippt er? Nee, oder? Ja, tatsächlich. Die Frage ist nur, wie weit.

Die „Sugarhorses“ spielen weiterhin das die Atmosphäre verzaubernde „Creep“. Die zweite Jacke wird abgelegt, der Tüllrock landet wie ein zurückgeschlagener Brautschleier auf dem Kopf des Todes, außer Strümpfen und Schuhen trägt er jetzt nur noch eine dicke Inkontinenz-Windelvorlage. Sieh an, auch der Tod ist nicht perfekt. Neckisch spielt er daran herum, öffnet die Enden – das Publikum guckt gespannt zu -, dann zieht er sie weg und hat sich am Ende des Liedes tatsächlich nackig gemacht. Das Publikum ist begeistert von der Nummer und klatscht laut. Dass er beim Abgang seinen Hut vors Geschlechtsteil hält, macht die vorherige Lässigkeit ein bisschen kaputt. Bis dahin war es souveräne Kunst, jetzt ist es verschämte Blöße.

Auf der Bühne stellen sich die Jagdbläser auf. Links oben hat sich ein großer, bespielbarer Elefant zum Wasserbüffel gesellt, das Nashorn scheint geflüchtet zu sein, ohne dass ich das mitbekommen habe.

Rainald fordert alle Zuschauer auf, sich von den Plätzen zu erheben. Es geht um den Respekt vor den Tieren, deren Tod die Jagdbläser verkünden werden. Zuerst das Signal „Die Sau ist tot.“ Die Bläser heben ruhig die Hörner und machen würdig: „Töteröö-terö-tötööö“. Rainald ruft den Zuschauern zu: „Bitte stehenbleiben! Jetzt kommt: Der Rehbock ist tot.“ Mit ernster Miene blasen die Jagdhornbläser: „Tö-tö-teröööö“. „Und jetzt: Der Hase ist tot!“, ruft Rainald. „Töteröö-töteröö“ erschallt. Für mich sind die Signale schwer zu unterscheiden, aber wird schon stimmen.

Weil ein Euro pro Ticket an ein Waldprojekt geht – Rainald weist auf das Wortspiel „Waldbühne-Wald“ hin und berichtet kurz, dass seit der Waldbühnenkonzert-Verschiebung vor zwei Jahren Bäume gepflanzt werden, – kommt der Oberförster von Starkow auf die Bühne und erzählt vom hoffentlich zukunftsstabilen Projekt der Mischwälder-Anpflanzung. Eine der Jagdhornbläserinnen sagt beim Abschied, dass sie jetzt nach Brandenburg zurückfahren werden, und Rainald sagt: „Brandenburg. Ich hörte davon.“ Es gibt spontan Gejohle im Publikum.

Mit kleiner Begleitung singt Rainald Aufs Land mit dem schnellen Großstadtteil, in dem die Zeile: „Anonymität, Anonymität!“ herausknallt, und dem sanften, ruhigen Landteil, der sehnsuchtsvoll klingt. Ach, ich mag das Lied sehr und außerdem mag ich es, wenn Rainald mit ruhiger Stimme singt. Eine Trompete spielt klar und sehr schön dazu, und als er vom „Sitzrasenmäher“ singt, muss ich traurig lächeln, denn mir fällt Martin Brauer, der frühere Trommler ein, über dessen Sitzrasenmäher oft Witze gemacht wurden. Beim großen Waldbühnenspektakel 2011 war er noch dabei und auch sonst mit Marcus Baumgart zusammen als „Kapelle der Versöhnung“ oft mit Rainald unterwegs. Es passt leider zu gut ins Programmkonzept, dass der Tod überall mitmischt und das oft auch unerwartet.

„Jetzt kommt Heimat, ist das richtig?“, fragt Rainald Franz, als der Applaus aufhört. „Das ist korrekt“, antwortet der sachlich. Marcus setzt sich an die Gitarre, Rainald singt, dann setzt von Jens-Carsten Stoll – auch ein langjähriger Begleiter von Rainald – ein wabernder Ton von der Orgel ein. Immer mehr Instrumente kommen dazu und es ist ein voller, schöner Klang. Der Chor tritt auf und singt das Ende beim a-cappella gesungenen DDR-Pionierlied Meine Heimat mit, das im Original schon ungewöhnliche Tonfolgen und diesmal auch einen abgeänderten Text hat. Der handelt vom überall in Deutschland gleich schmeckenden Essen in den Fastfood-Ketten. Sehr gut! Es gibt Gelächter und viel Applaus.

Dann spricht Rainald über den langjährigen Schlagzeuger und Begleiter Martin. „Unser Trommler Martin Brauer ist vor zwei Jahren gestorben. Er war der Fitteste von uns. Wir möchten ihm jetzt ein Lied singen, das er vielleicht hören wird.“ Sehr sanft beginnt Massenkompatibel, während auf der Leinwand langsam schwarz-weiße Bilder von Martin wechseln. Ich habe sofort Tränen in den Augen. Nicht nur ich. Es ist sehr berührend. Ich mochte ihn sehr. Ein großartiger Schlagzeuger, ein sensibler Mensch. Wie schön, dass Martin damit doch dabei und ganz nah ist bei diesem Waldbühnenkonzert.

Das Lied wird drängender und lauter, und dann stehen hinter Onkel, der an seinem Schlagzeug sitzt, plötzlich drei weitere Drummer an Schlagzeugen und schlagzeugen mit. Es ist sehr gleichmäßig und exakt, alle gemeinsam verstärken den Rhythmus. Ein kraftvolles, sehr gewaltiges Schlagzeuggetöse schallt in den Himmel, das laut, aber trotzdem klar und akzentuiert ist. Genau richtig für Martin. Ein liebevoller, laut knallender Gruß hoch an einen großartigen Schlagzeuger und langjährigen Weggefährten. Berührend, traurig und auch sehr schön.

Nach dem letzten Ton sagt Rainald nur: „Martin, für dich.“ Ein langer Applaus folgt.

Es geht an diesem Abend emotional hoch und runter, und nach dem traurigen Teil wird es gleich wieder leicht und lustig. Rainald lässt Bilder aus seinem „Landkalender“ zeigen, auf denen er eher spärlich bekleidet mit landwirtschaftlichem Gerät, Gartenschlauch und Motorsäge zu sehen ist. Das Publikum freut sich sehr und lacht laut.

Im Anschluss gibt es passend das Lied Handwerk, in dem es über die herausragenden Fähigkeiten handwerklich versierter Leute geht. Sehr witzig. Es gibt kraftvolle Bläsersätze, alle Schlagwerker sind dabei und das Ergebnis ist Rolling Stones. Wow! Was für ein Klang! Auch die Lichtshow ist ganz groß, wie den ganzen Abend über immer wieder.

Für den nächsten Programmpunkt gibt es einen Gast. Rainald kündigt ihn an: „Bodo Wartke!“ Das Publikum jubelt freudig auf, als Bodo auf die Bühne kommt, und ist überrascht, weil Bodo ja vorher im Einspieler sagte, dass er nicht da sei. Ich bin nicht so überrascht, denn ich habe ihn am Nachmittag beim Soundcheck schon gesehen. Da war eher Bodo überrascht, als er danach von der Bühne kam, mich sah und verblüfft fragte: „Was machst du denn hier?“ Ein Spektakel voller Überraschungen.

Bodo Wartke sieht über den Jubel erfreut aus. „Wie schön, in Berlin zu sein!“, sagt er, dabei wohnt er dort. Allerdings ist er jetzt nicht in Bern, wie vorher behauptet, und vielleicht meint er das damit. Er setzt sich an den Flügel und erzählt, dass er manchmal erkannt wird. Mit verstellter Stimme sagt er: „Sie sind doch der am Klavier! Rainald Grebe!“ Mit Bodo-Stimme sagt er: „Klavier stimmt, aber nein, ich bin Bodo Wartke.“ Dann wieder verstellt: „Ach ja. Sie singen Brandenburg.“ Er grinst.

„Ich spiele eines meiner Lieblingslieder von Rainald. Das passt gut in die Jahreszeit“, kündigt er an, Silvester. Ach, wie schön! Das ist auch eins meiner Lieblingslieder! Bodo singt ruhig: „Erster Januar, sechs Uhr früh. Da liegt ein Kondom – im Fondue …“ Die Zuschauer lachen und ich finde es wunderbar schräg, dass ich Bodo von einem Kondom im Fondue singen höre. Und es hört sich gar nicht falsch an, dass er ein Rainald-Lied singt. Es wird ein bisschen zum Bodo-Lied, bleibt aber trotzdem ein Rainald-Lied. Die „Anarchisten“ begleiten ihn sanft. Am Ende gibt es Gejubel und Gejohle.

Als er danach sein Liebeslied ankündigt, wird erneut gejubelt. Er singt die ersten Strophen, das Publikum hört aufmerksam zu und lacht. Dann fragt Bodo nach Vorschlägen für weitere Sprachen. Sofort schallt ihm ein wilder Mischmasch aus vielen Wörtern entgegen, aus dem für mich nichts zu verstehen ist. Für ihn anscheinend doch, oder er tut geschickt so, als hätte er etwas rausgehört. Es läuft auf Finnisch, Ungarisch und Latein heraus und wird sehr lustig. Die Zuschauer sind den ganzen Abend schon aufmerksam dabei, bleiben lach- und klatschbereit und mögen auch Bodo Wartke sehr. Ein gelungener Auftritt, der viel Applaus bekommt.

Nach Bodo kommt in kleinen, unsicheren Schritten ein seltsames, übergroßes Paar auf die Bühne. Auf den hohen Oberkörpern befinden sich Figurenköpfe. Die beiden Gestalten halten sich an der Hand und nur an den unten zu sehenden Hosen lässt sich vermuten, dass es sich um Hans Krüger und Rainald handelt.

Zur Musik drehen sich die Figuren mit vorsichtigen, steifen Bewegungen im Kreis, da kippt plötzlich der eine Figurenkopf von seinem Platz und fällt auf den Boden. Oh, Rainald hat den Kopf verloren. Vermutlich unbeabsichtigt. Fröhliches Gelächter im Publikum. Auf der Bühne zerrt die Gestalt mit dem Kopf hektisch am Pullover der kopflosen Figur und fragt dazu mit hoher Stimme: „Kommste raus? Kriegste noch Luft?“ Hans Krüger, der unter seiner Hülle vermutlich selber nicht viel sieht, zupft und zieht am anderen Pullover, um Rainald zu befreien. Der hängt aber innen irgendwo fest und kommt nicht raus. Das Publikum hat Spaß. „Der kriegt die Schnalle nicht ab!“, stöhnt Hans Krüger, zerrt und rupft weiter hektisch am Pullover und versucht, von seiner eigenen Umhüllung behindert, seinen ehemaligen Schüler auszugraben. Es ist sehr komisch. Endlich klappt es. Die Heiterkeit im Publikum ist groß.

Hans geht ab, das Streichquartett kommt. Rainald sagt: „Ist ja heut‘ mein letzter Arbeitstag.“ Es wird still. Bedrückend still. „Das weiß meine Agentur noch gar nicht“, sagt er. Oh, nein! Zur Erleichterung der Zuschauer – und meiner – ist das aber nur die Ansage zur Flugbegleiterin, die ihrerseits ihren letzten Arbeitstag hat. Das Cello und die Streicher machen einen schönen Klang, Anna Mateur singt im Background. Aber dann verliert Rainald bei der ungewohnten mehrstimmigen Streicherbegleitung den rhythmischen Überblick. Er setzt leicht verfrüht ein, was den Streichern Stress macht, die als Quartett nicht so einfach synchron hinterherspringen können. Das Tempo geht etwas auseinander. Kaum haben die Streicher sicher die Anschlussstelle erreicht, versucht Rainald selber seinen Einsatz zu korrigieren und es driftet schon wieder auseinander. Links singt Rainald, rechts streicht das Quartett und das Zusammenspiel beginnt zu schwimmen. Noch nicht ganz falsch, aber etwas unbestimmt und so, dass ich angespannt gucke. Vermutlich fällt es vielen Zuschauern gar nicht mal auf, weil auf der Bühne alle professionell weitermachen. Da greift aus der Mitte Anna Mateur ein. Erst zögernd, dann entschlossen. Sie singt die Backgroundstimme etwas lauter und sehr betont, die Streicher richten sich nach ihr und Rainald sieht ebenfalls zu ihr rüber und nimmt den vorgegebenen Rhythmus auf. Sie hält alles zusammen und gibt Sicherheit. Super Aktion! Sehr klasse!

Rainald wird anschließend wieder in das auf der Bühne stehende Krankenbett gepackt, während eine grüne Blätterfrau auf dem Steg steht und Alphorn bläst. Er erzählt, und sie unterbricht ihn immer wieder mit sanften Tönen. Das ist eine schöne Atmosphäre, die Ruhe bringt. Das Spiel mit den Sanitätern und dem Bett wirkt etwas makaber und passt sehr gut ins Konzept des Abends und dem offenen Umgang mit Rainalds Krankheit und seiner Verletzlichkeit. Fast nebenbei gibt es ihm die Gelegenheit zu kurzen Liegepausen, aus denen er immer wieder mit Kraft auf die Bühne stürmt. Sehr schlau und geschickt gelöst, finde ich und lächle anerkennend.

Für das nächste Lied bittet Rainald die Zuschauer um Handylichter, und während Anna Mateur wundervoll Knocking on heavens door röhrt, begleitet von der Kapelle und später auch noch vom Chor, funkeln die leicht hin und her bewegten Lichter im weiten Rund der Waldbühne. Rainald wirkt tatsächlich gerührt.

Er liegt im Bett und spricht über seine Situation mit der chronischen Gefäßerkrankung: „Das Hirn zersetzt sich.“ Es ist nicht leicht für ihn. „Manchmal ist alles schwarz.“ Es ist eine fast schon private Atmosphäre in der großen, von der städtischen Umgebung abgesonderten Waldbühne. Der Himmel wölbt sich in einem dunklen Blauton über dem runden, von Bäumen umgebenen Amphitheater, die Handylichter leuchten, die vielen Zuschauergesichter sind nur als Punkte zu erkennen.

Rainald erwähnt, dass er schon über ein Ende nachgedacht habe. Er guckt auf die Ränge der Waldbühne und sagt mit ruhiger Stimme: „Ich hab ne tolle Freundin und ein Kind. Ich werde mich nicht umbringen.“ Es ist berührend – auch das liebevolle Jubeln, das ihm von den Zuschauern nach diesem letzten Satz entgegenkommt. Kurz darauf steht er aus dem Bett auf und sagt mit Nachdruck: „Ich mache weiter!“ Damit meint er das Programm, das Leben und auch das Aushalten und Akzeptieren der Krankheit. Ich lächle, bin aber auch traurig und im Innersten berührt.      

Weiter geht es mit einem weiteren Lieblingslied von Martin Brauer, Ausleben. Die Band begleitet ihn, und auch Jens-Carsten Stoll ist wieder dabei, der Rainald schon bei vielen musikalischen Projekten begleitet hat. Sein hoher grüner Hut erinnert mich die ganze Zeit schon an den Hutmacher bei Alice im Wunderland. Das passt gut zur Jahrmarktatmosphäre. „Hallo! Hallo? Ich will mich ausleben!“, singt Rainald erst sanft, dann immer entschlossener, während die Musik stärker und drängender wird.

Als der Applaus endet, ruft er: „Jetzt bringen wir es hinter uns!“ Er setzt sich auf einen Hocker in der Bühnenmitte und singt Der Tod. Ein Lied, in dem er sich mit seiner Krankheit und dem Tod, der jederzeit zuschlagen kann, auseinandersetzt. Das ist schon heftig, aber auch sehr gut.

Die „Anarchisten“ spielen mit und vorne auf dem Steg tanzt der – jetzt wieder in einem schwarzen Anzug gekleidete – Tod. Es ist faszinierend, es ist schön, der Text und das Bild gehen sehr nah. Und obwohl es traurig macht, obwohl es bewegt, zieht es das Publikum und die Stimmung nicht runter. Rainald vermittelt, dass der Tod zum Leben gehört und – mit oder ohne Krankheit – jederzeit da sein kann. Mit diesem Bewusstsein leben und weitermachen, ist die Antwort. Es ist traurig und tröstlich zugleich. Alles endet irgendwann. Wie schön, dass wir gerade in diesem Moment dieses intensive Konzert erleben können, denke vermutlich nicht nur ich.

Es gibt großen, warmen Applaus, und Rainald erhebt sich vom Hocker und ruft lächelnd: „Vielen Dank! Das war’s von unserer Seite!“ Dann stockt er und korrigiert: „Ach, nee, geht doch noch weiter! Jetzt kommen ja die Zugaben.“ Die Zuschauer lachen freudig auf. Inzwischen ist es fast 22 Uhr. Das Konzert läuft – nach der halben Stunde Vorprogramm – seit zweieinhalb Stunden, in denen Rainald fast durchgehend auf der Bühne war. Voll konzentriert bei den Liedern und mit so großem Einsatz, dass kaum zu ahnen ist, dass er krank sein könnte. Das ist wunderbar. Einzig bei der Reihenfolge irrt er mal, aber das ist völlig egal und dafür hat er Franz, der alles im Blick behält. Es ist ein großes Fest, diesen Konzertabend und Rainald zu erleben.

Rainald möchte ein „Taschenlampenkonzert“ haben und bittet darum, die Handylichter wieder anzumachen. Es beginnt erneut überall zu funkeln und sieht wunderbar aus. Rainald sieht die vielen Leuchtpunkte und sagt fast staunend und spürbar erfreut: „Oooh. DAS ist die Waldbühne!“

Er setzt sich an den Flügel, die Band und die „Anarchisten“ begleiten, und der Mann ohne Gefühle findet in einem Lichtermeer unter dem jetzt fast schwarzen Himmel statt. Wunderschön. Tausend-Sterne-Konzert.

Zum Gitarrensolo kommt Alligatoah auf den Steg, der sofort bejubelt wird. Das Publikum wird bei diesem abwechslungsreichen und durchgehend spannenden Programm überhaupt nicht müde. Am Ende des Liedes wird laut und lange geklatscht.

Während auf der Bühne die „Anarchisten“ ab- und die Streicher aufgehen, begibt sich Rainald zu Alligatoah auf den Steg. Es stellt sich heraus, dass das Handmikro, das Alligatoah bekommen hat, nicht funktioniert. „Du kannst auch ins meins sprechen“, sagt Rainald. „Ich kann auch das nehmen, was du am Mund trägst“, meint Alligatoah und rückt nah an dessen Headset. „Aber dann müssen wir uns küssen.“ Das Publikum johlt los. Sie zögern, ich erwarte schon einen Knutscher, aber Alligatoah meint: „Später vielleicht.“

Beide setzen sich nebeneinander auf Kisten, die auf dem Steg bereitstehen. Alligatoah hält das funktionierende Mikrofon und ist bereit, es hin und her zu wechseln. Da eilt von hinten ein Techniker zu ihm und drückt ihm ein zweites Mikro in die andere Hand. Rainald guckt gerade nach vorne und bemerkt es nicht. Alligatoah will Rainald eines der Mikrofone reichen, aber Rainald, der ja keine Ahnung hat, dass es inzwischen zwei Mikros gibt, missversteht das Hinhalten und beugt sich nur darüber, um hineinzusprechen. Das Publikum lacht und auch Alligatoah grinst amüsiert, hält das zweite Mikrofon unauffällig zur Seite, um dort selber hineinzusprechen und hält Rainald weiterhin das andere Mikro hin. Eine ungeplante, aber sehr gelungene Situationskomikeinlage.

Endlich bemerkt Rainald, dass Alligatoah schon lange in ein eigenes Mikro spricht und nimmt das andere Mikrofonin die Hand. Es beginnt Der Rabe, begleitet von den ruhigen, schönen Streichertönen. Abwechselnd singen Alligatoah und Rainald die Strophen. Die warme, volle Stimme von Alligatoah gefällt mir sehr. Das zweitstimmige „Krah, krah!“ des Raben hört sich schräg und spitz an, ist aber so ein gutes Rabengekrächze, dass die Zuschauer losjubeln. In den Refrains geht es tonmäßig ein bisschen daneben, aber bei den Strophen ist alles wieder richtig. So ein schönes Lied. Es gibt am Ende sehr viel Applaus für das Duo.

Rainald und Alligatoah möchten nach den gemeinsamen Liedern „Rabe“, bei dem Alligatoah mitgesungen, und „Mann ohne Gefühle“, bei dem er das Gitarrensolo gespielt hat, etwas Lustiges haben. Rainald sagt: „Du hast doch das Lied über den Tod, das ist lustig.“ Während er sich auf die Bühne zurückbegibt und von den Sanitätern ins Krankenbett verfrachtet wird, singt Alligatoah vorne auf dem Steg Trauerfeier Lied, das er nach eigener Aussage für seine Beerdigung geschrieben hat. Viele Zuschauer kennen es und singen mit. Auch Rainald setzt im Refrain mit: „Ihr schafft den Rest alleine!“ ein und hebt den Arm im Takt hoch und runter.

Alligatoah wird mit viel Applaus verabschiedet, und Rainald strampelt sich aus der Bettdecke und geht zum Flügel.     

Er greift in die Tasten und singt an: „Döörte, Dööööööörte …“ Natürlich jubelt das Publikum los. Rainald bricht ab und stellt fest: „Ich hab alles gespielt“. Er beginnt mehrere kurze Anfänge eigener Lieder, die er immer schnell abbricht. Doch dann spielt er Die Fete. Schon bei den ersten Tönen wird von vielen im Publikum mitgesungen, es gibt aber auch Gelächter, dem anzuhören ist, dass der Text nicht bekannt war. „Bernd kommt leergekotzt vom Klo und sagt: Die Deutschen sind doch gar nicht so steif. Ich könnt jetzt wieder essen. Spiel noch mal: „I will survive“. Ach, so schön liebevoll und melancholisch, ich mag es sehr.

Zum Gitarrensolo steht auf einmal René Marik auf der Bühne und wird auch bejubelt.

Passend zum Liedtext, aber auch zum Thema Leben, Krankheit und Tod, geht das Lied in I will survive über. Anna Mateur röhrt es mit Wahnsinnsstimme. Der Rhythmus drängt, reißt mit, Musik und Stimme füllen die Waldbühne, und die Zuschauer flippen fast aus. Rainald reckt mit triumphierendem Gesichtsausdruck im Takt die Arme hoch und runter. I will survive! Es wird gejubelt, geklatscht, mitgesungen. Von Erschöpfung keine Spur, weder auf der Bühne noch im Publikum. Es könnte noch lange so weitergehen.

Als sich alle wieder beruhigt haben, fragt Rainald: „Haben wir noch Zeit, Franz?“ „Ja“, bestätigt Franz ruhig und knapp. „Kommt jetzt der Nikolai?“, fragt Rainald. Franz antwortet: „Das ist der Plan.“ Ein Ohr abquatschen tut er nicht, der Franz. Aber ein stabiler Fels ist er. „Der Nikolai“ kommt mit einem Knopfakkordeon, setzt sich neben Rainald auf die Treppe und sie spielen Atlantik. Ein Schifferklavier passt perfekt zu einem ruhigen Lied über den Atlantik. Es ist sehr schön. Von volle Dröhnung Rockkonzert zu zarten, verspielten Akkordeontönen ist an diesem Abend alles drin und alles richtig.

Dann hat das Akkordeon ein Solo. Die Finger fliegen über die Knöpfe und Rainald guckt amüsiert, weil er anscheinend – und sehr nachvollziehbar – die Orientierung verliert, wo sich das Solo gerade rhythmisch befindet und wann er wieder mit dem Singen einsetzen soll. Wilde Noten, wildes Solo, kein erkennbarer Takt. Dass „der Nikolai“ nicht ruhig sitzt, sondern den Kopf hin und her wirft, viele schnelle Noten spielt und ganz in der Musik lebt, macht es nicht einfacher. Als Rainald eine möglichst passende Stelle erkennt, setzt er einfach wieder ein, das Akkordeon beruhigt sich und es geht gemeinsam weiter. Sehr gelassen, musikalisch passend zum weiten Ozean, und sehr schön.   

„Und jetzt Bühne frei für Hans!“, kündigt Rainald das große ökologische Holzfeuerwerk von Hans Krüger an. Der eilt mit Holzzeug in den Armen auf den Steg, läuft auf dessen Ende zu und sagt dabei hektisch: „Ich kann nichts sehen. Wo ist denn das Ende hier?“ Ehe er im Schwung über die letzte Kante fällt, stoppt er doch und wurschtelt mit den Hölzern herum. Wie kann ein Mann solch eine Hektik und so spürbares Chaos verbreiten? Er hält ein kreuzweise verbundenes Holzleistengebilde in der Hand und kommandiert mit nuscheliger Sprache das Publikum: „Wenn die Rakete hoch ist, macht ihr Peng!“, und brüllt: „Habt ihr kapiert?? Erst uuuuuuuuuh, dann Peng!“ Er bewegt die Holzlatten, die sich dabei nach oben entfalten und schreit: „Uuuuuuu!“ Die ersten Zuschauer rufen „Peng!“ und er brüllt: „Nein!! Erst wenn sie oben ist! Uuuuuuuh – Peng!“ Er macht es nochmal vor, und diesmal steigen die Zuschauer richtig ein. „Uuuuuuuuh – Peng!“ rufen sie im Tempo der Rakete.

Mehrfach lässt Hans die Holzlatten hochschnellen. Gewaltig kommt der begleitende Ton von den Zuschauerrängen. „Und jetzt eine Fontäne!“, ruft er und greift nach einer anderen Konstruktion. „Jetzt heißt es uuuuuuuuuuh – Fontääääne!“, kommandiert er und flippt fast aus, als es nicht sofort funktioniert. Das Publikum lacht laut und macht bereitwillig mit. Die Frau vor mir hat einen massiven Lachanfall. „Nein,“ japst sie, „das meint er nicht ernst!“, und versucht gleichzeitig „Fontäääne!“ zu rufen, was an ihrem zuckenden Lachen scheitert.

Hans Krüger verteilt rufend, kommandierend und maßregelnd Holzfeuerwerkzeuge an einige Zuschauer, die auf Kommando Raketen abschießen müssen. „Hey!“ muss das Publikum passend rufen. Es ist so abgedreht, so hektisch und laut, dass der Blutdruck vermutlich bei allen Anwesenden steigt. Die Stimmung ist super. „Jetzt fängt die Musik an!“, ruft Hans laut kommandierend. Die setzt gehorsam vom Band ein, er brüllt: „Nein, jetzt noch nicht!!!“, weil er mit seinen Vorbereitungen noch gar nicht fertig ist. Als Abschluss werden alle hochschnellenden, drehenden und gekreiselten Holzfeuerwerke gleichzeitig betätigt, und Hans Krüger brüllt: „Schönes neues Jahr! Umarmt euren Nachbarn!“ und „Das war das geilste Silvester in meinem ganzen Leben!!“ Puh!

Auf der Bühne finden sich schon wieder Rainald, Band, Chor, Anarchisten und Anna Mateur für die nächste Nummer ein, da sucht Hans Krüger rufend und kommandierend immer noch auf dem Steg nach den letzten Feuerwerksgebilden, die er wieder einsammelt. Rainald grinst und wartet geduldig.

Es ist 22:44 Uhr. Um 23 Uhr muss Schluss sein. An der Waldbühne geht es streng zu. Für den Abend gibt es schon eine Ausnahmegenehmigung, denn normalerweise muss um 22 Uhr Ruhe sein. Kaum zu glauben, dass das Konzertspektakel schon seit fast vier Stunden läuft und alles immer noch spannend, frisch und voller Energie ist. Auch Rainald sieht fit aus. Gab es mal eine Frage, ob der das Konzert schaffen kann? Er wirkt stark, souverän und in sich ruhend, vermutlich eine Mischung aus Adrenalin, Lichtergefunkel, Freunden, Kollegen, Musik und einem freudig jubelnden Publikum. 

Das Lied Brandenburg könnte ausbleiben, gerade weil es so erwarrtet wird, die Zuschauer freuen sich aber sehr, dass es am Ende doch noch kommt. Die erste Strophe singt Rainald mit sorbischem Text. Den liest er von einem Zettel ab, was sich nicht immer flüssig anhört. Vielleicht wird Sorbisch aber auch stockend gesprochen. Ich vermute, dass echte Sorben etwas an der Aussprache zu korrigieren hätten, aber da ich sowieso außer dem Wort „Brandeburg“ nichts verstehe, ist mir egal, ob es perfekt ist. Die Idee ist super.

Das Ende der Strophe ist wieder in Hochdeutsch, zum Refrain „Berlin, Hallelujah, Berlin!“ fallen an den Bühnenseiten lange Berlinflaggen herunter und die Zuschauer setzen lautstark singend ein.

Die zweite Strophe übernimmt Anna, die sie mit sächsischem Akzent und laut krächzend singt und eine aktuelle Textänderung einbringt: „In Brandenburg soll’s mittlerweile Löwen geben!“ Das gibt spontanen Szenenapplaus und Jubel. Die Musik ist finalmäßig kräftig, voll und laut, das Publikum singt mit, Arme werden in die Höhe gereckt und die Atmosphäre ist sensationell. Rainald Grebe in der Waldbühne. Was für ein Abend! Ein großartiges Konzert und ein großes, passendes Finale.

„Ihr Lieben, das war’s“, sagt Rainald am Ende des Liedes. Der Schlussapplaus ist laut und lang, die Zuschauer stehen auf, es gibt Standing Ovation. Es wird geklatscht, gepfiffen und gejubelt. Auch die mitmachenden Musiker und Gäste kommen auf die Bühne und applaudieren Rainald.

Rainald sagt in seiner typisch ruhigen Art: „Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen – sag ich mal“, und setzt etwas leiser hinterher: „Wäre schön.“ Ach, das tut schon weh, ich muss mal tief Luft holen.

„Zugabe!“ wird gerufen. „Zu-ga-be!“ Rainald fragt Franz: „Wieviel Uhr haben wir?“ „Noch acht Minuten“, sagt Franz. Die nutzt Rainald. Er setzt sich an den Flügel und spielt: Es ist gut, das sanfte Schlaflied mit dem nimmermüden Hammerwerfer und der Welt, die er wieder nicht gerettet hat. So wunderschön.

Das Lichtermeer der Waldbühne funkelt wieder und es ist genau das richtige Lied, das den Abend sanft beendet.

Und dann ist wirklich Schluss. Es wird geklatscht und gejubelt.

Die Hauptmusiker verbeugen sich gemeinsam mit Rainald. „Kommt gut nach Haus, gute Nacht!“, verabschiedet der sich mit sanfter Stimme. Er winkt zum Abschied „Ich muss in ein Sauerstoffzelt.“


Was für ein grandioser Abend! Mit einem Rainald, der so stark wirkte, dass Zuschauer die Vermutung haben könnten: „So krank ist der doch gar nicht!“. Das wäre zwar falsch, aber angesichts der Energie und Präsenz von Rainald zu verstehen. Es war ein berührendes und großes Erlebnis über Leben und Tod, von und mit Rainald. Er war nicht der laute, wilde Spektakelmacher, der beim Waldbühnenkonzert 2011 so voll mit unerschöpflicher Energie schien. Er war aber immer noch Rainald, der bis an die Grenzen und auch noch ein Stück darüber hinaus ging. Der ein buntes, lautes, leises, berührendes Spektakel inszenierte, selber aber sensibler und zerbrechlicher war. Seine Offenheit und das Trotzdem machten den Abend ganz besonders. Die Zuschauer blieben vier Stunden lang intensiv dabei, bejubelten, klatschen, waren berührt und gaben am Ende Standing Ovation.

Es bleibt das Gefühl, dass es kein Abschied und ein allerletztes Mal Waldbühne war, sondern dass es ein großes Waldbühnenspektakel von und mit Rainald Grebe nochmal geben könnte. Gegen alle Vernunft. Vielleicht. Wäre schön.


Leven (Singing Shrinks)
Volkslieder singen
Der Präsident
Der Bass muss laufen
Prenzlauer Berg
Multitasker
20. Jahrhundert
Hier wird nicht gehutzt (Anna Mateur)
Oben
Meganice Zeit
Creep (Sugarhorses)
Auf’s Land
Heimat
Massenkompatibel
Handwerk
Silvester (Bodo Wartke)
Liebeslied (Bodo Wartke)
Flugbegleiterin
Knockin on heavens door (Anna Mateur)
Ausleben
Der Tod
Mann ohne Gefühle
Der Rabe (Rainald und Alligatoah)
Trauerfeier Lied (Rainald und Alligatoah)
Die Fete + I will survive
Atlantik
Brandenburg
Volkslieder singen
Der Präsident
Der Bass muss laufen
Prenzlauer Berg
Multitasker
20. Jahrhundert
Hier wird nicht gehutzt (Anna Mateur)
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Meganice Zeit
Creep (Sugarhorses)
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Heimat
Massenkompatibel
Handwerk
Silvester (Bodo Wartke)
Liebeslied (Bodo Wartke)
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Ausleben
Der Tod
Mann ohne Gefühle
Der Rabe (Rainald und Alligatoah)
Trauerfeier Lied (Rainald und Alligatoah)
Die Fete

I will survive (Anna Mateur)
Atlantik
Brandenburg
Es ist gut