Berichte

Arno Surminski – Lesung – 02.10.2021 – Wildeshausen

Kulturforum Wildeshausen

Bücher von Arno Surminski lese ich sehr gerne. Immer wieder bin ich fasziniert, wie er mit tiefer Liebe über seine frühere Heimat Ostpreußen schreibt, heftige Schicksale und schlimme Kriegserlebnisse schildert und trotzdem immer Versöhnung und Verständigung als Ziel hat. Er wurde 1934 in Ostpreußen geboren, als er zehn Jahre alt war, wurden seine Eltern von Russen verschleppt und er blieb alleine zurück. Durch Umwege kam er nach Norddeutschland, wo er aufwuchs. Trotz seiner eigenen harten Erfahrungen im Krieg teilt er nicht in Böse und Gut ein, sondern betont immer wieder, dass es gute und schlechte Russen, aber auch gute und schlechte Deutsche gab. Und so sehr er seine Heimat liebt – dass die Grenzen jetzt feststehen und es keinen deutschen Anspruch mehr auf die früheren Ostgebiete gibt, ist für ihn Voraussetzung für ein friedliches Miteinander.

Seit einigen Jahren möchte ich gerne eine Lesung von Arno Surminski besuchen. Die gibt es aber nicht so häufig und wenn, eher in Norddeutschland. Fast immer erfahre ich zu spät von einem Termin, so dass er schon ausverkauft ist. Doch dann wird für November 2020 eine Lesung in Wildeshausen angekündigt und ich kann tatsächlich per Mailanfrage an eine Karte kommen. Wildeshausen liegt bei Bremen, was von Köln aus eine weite Strecke für eine Lesung ist, aber diese Chance muss ich nutzen. Die Fahrt ist geplant, ein Hotelzimmer gebucht, ich freue mich auf den Abend, da kommt Corona und die Veranstaltung wird abgesagt. Oh, nein. Arno Surminski ist 85 Jahre alt. Wer weiß, wie lange er noch Lesungen machen wird. Und werde ich jemals wieder rechtzeitig an eine Karte kommen?

Unerwartet kommt im Juli 2021 aus Wildeshausen die Mitteilung, dass die abgesagte Lesung nun doch nachgeholt wird. In drei Monaten. Wieder plane ich die Fahrt und buche ein Hotelzimmer, freue mich aber nur verhalten. „Erst wenn er vor mir auf der Bühne steht, darf ich mich freuen!“, mahne ich mich und meine Freude zur Zurückhaltung. Der Lesungstermin kommt und wird nicht abgesagt. Knapp vier Stunden dauert die Fahrt nach Wildeshausen, und als ich im Ort ein Plakat zur Lesung sehe, traue ich mich immer noch nicht, mich zu freuen. „Erst wenn er vor mir auf der Bühne steht …!“ Corona, Erkältung, Stau, Abbrennen der Aula – was kann nicht alles passieren. 

Am Abend bin ich schon früh am Veranstaltungsort. Unbekannter Hinweg, Parkplatz finden, Eingang suchen – da komme ich mal lieber nicht erst im letzten Moment. Kaum stehe ich auf dem Schulhof und habe den richtigen Eingang im Blick, fährt langsam ein Auto an mir vorbei, auf dessen Beifahrersitz ich sofort Arno Surminski erkenne. Er ist da! Ich bleibe etwas entfernt stehen, denn ich will nicht auf ihn zueilen und ihn belästigen. Vielleicht signiert er nach der Lesung noch Bücher und ich kann ihn dann kurz begrüßen. Vielleicht ist er aber auch sofort weg, dann ist es eben so. Hauptsache, ich kann ihn – auch aus der Entfernung – endlich mal live erleben und lesen hören.

Arno Surminski ist gerade ins Gebäude getreten, und weil es noch etwas früh ist, stelle ich mich auf Warten vor der Tür ein. Doch da beginnt schon der Einlass für mich und die beiden anderen Zuschauer, die in diesem Moment zufällig ankommen. „Kommen Sie doch einfach schon rein!“, wird freundlich gesagt. Ich fülle einen Corona-Nachverfolgungszettel aus und werde beim Abgeben an der eingetragenen Adresse erkannt als „die aus Erftstadt!“ Mit einem freudigen „Kommen Sie mit!“, werde ich zu Arno Surminski gebracht. „Herr Surminski, das ist die Frau, die extra aus Erftstadt gekommen ist!“ Wir begrüßen uns und er ruft seine Frau, die etwas entfernt im Gespräch steht. „Kommst du mal?“

Während sie auf uns zukommt, sprechen wir kurz über mein Frosch-Kinderbuch, das ich ihm vor zwei Jahren schickte. Ich fand nämlich, dass der Frosch in meinem Buch ähnlich pragmatisch und mit dem Blick nach vorne mit seinem Lebensschicksal umgeht, wie Herr Surminski es mit seinem machte. Damals bekam ich per Brief eine sehr schöne Rückantwort von ihm, in der er sogar ein alternatives Ende der Froschgeschichte vorschlug. „Sie sehen, wie anregend Ihr Buch auf mich gewirkt hat“, schrieb er dazu. Seine Frau erreicht uns, bekommt gerade noch „Froschbuch“ mit und begrüßt mich mit: „Frau Drewitz …?“ Wie schön! Auch wenn das „r“ zu viel ist. Wir unterhalten uns, dann überlasse ich das Ehepaar Surminski anderen Leuten, die mit ihnen sprechen wollen und suche mir breit lächelnd einen Platz im Zuschauerraum. Wie toll, damit hatte ich nun gar nicht gerechnet.

Als Arno Surminski sich an den Lesungs-Tisch setzt, denke ich daran, dass ich mich jetzt endlich freuen darf, weil er tatsächlich vor mir auf der Bühne ist. Aber ich habe ich mich ja sogar schon mit ihm und seiner Frau nett unterhalten, besser geht es nicht, und ich freue mich die ganze Zeit schon.

An diesem Abend liest Arno Surminski aus vier verschiedenen Büchern. Dabei ist sein erstes, „Jokehnen“ von 1974, und sein neuestes „Irgendwo ist Prostken“ von 2020. Ich kenne alles, finde es aber wunderbar, dass ich es von ihm selber gesprochen höre. Vor allem, weil sich in seinen leicht norddeutschen Akzent beim Vorlesen einiger Szenen immer wieder die breite ostpreußische Aussprache einschleicht. „Er is in eiine schöne Jeejend jekommen.“ Hach, ich mag es. Als Kind habe ich ostpreußischen Dialekt in meiner Umgebung noch hin und wieder gehört, inzwischen gibt es ihn kaum noch.

Der frühere Leiter der NWZ-Kulturredaktion, Dr. Reinhard Tschapke, moderiert das anschließende Gespräch, bei dem auch die Zuschauer Fragen stellen. Eineinhalb Stunden sollen die Lesung und das Gespräch dauern, nach mehr als zwei Stunden ist erst Schluss und alle gucken erstaunt auf ihre Uhren und fragen: „Ist es tatsächlich schon Viertel nach Zehn?“ Kurzweilig, interessant, schön.

Ich lasse mir mein mitgebrachtes, schon gelesenes „Prosken“-Buch signieren und kaufe sogar noch die Neuauflage des „Jokehnen“-Taschenbuches, obwohl ich das schon in drei anderen Ausgaben habe. Aber es ist mein Lieblingsbuch von ihm, und genau heute als Erinnerung an den Tag, an dem ich Arno Surminski nicht nur beim Lesen zugehört, sondern mich auch mit ihm unterhalten habe, passt das.

Bevor er geht, kommt er nochmal zu mir, reicht mir die Hand – in Coronazeiten doppelt ungewöhnlich – und sagt verschwörerisch: „Bleiben Sie mir treu!“ Keine Frage! Nach diesem Abend sowieso.