Rainald Grebe – Die Weltmaschine – 21.09.2019 – Halle
Halle, Puschkinhaus
„Die Weltmaschine – Mechanisches Theater nebst Wunderkammer“ – der Titel hörte sich nicht nur nach vergangenen Zeiten an, im Mittelpunkt des neuen Theaterstücks von und mit Rainald Grebe stand ein altes mechanisches Theater, ein „Theatrum mundi“. Im 19. Jahrhundert waren die großen Guckkastenbühnen vorwiegend auf Jahrmärkten zu finden. Vor großen Hintergrundbildern konnten bunt bemalte Figuren und Requisiten auf Laufschienen von einer zur anderen Seite gekurbelt werden. Bedeutende Ereignisse aus der Weltgeschichte, biblische Szenen, Schlachten und Erdbeben wurden von Musik, Knall- und Raucheffekten begleitet, und die bewegten Bilder begeisterten damals die Zuschauer.
Es war die Premiere der „Weltmaschine“. Rainald Grebe, Tilla Kratochwil und Lars Frank waren die drei Akteure, die vor, in und neben dem großen, hölzernen Theatrum mundi und an dem daneben stehenden Harmonium agierten. Sie waren weiß barockig gekleidet, trugen weiße Lockenperücken und hatten hell gepuderte Gesichter mit rosigen Wangen. Ihr Aussehen und das antiquiert wirkende Guckkastentheater liessen die Zuschauer bereitwillig in eine andere Zeitzone rutschten.
Die Weltgeschichte begann mit der Schöpfung. Während Tilla Kratochwil durch eine überdimensionierte, blecherne Flüstertüte den Bibeltext von der siebentägigen Erschaffung der Erde deklamierte, stand Lars Frank wie der große Erschaffer hinter der Bühnenleiste und baute die Welt aus bemalten, flachen Sperrholzfiguren zusammen. Er hängte Sonne und Mond auf, stellte zuerst Pflanzen, dann Getier und am Ende Adam und Eva auf die Bühnenleiste. Auf der barocken Perücke trug er ein übergroßes Ei, das ich als „Beginn“ interpretierte. Die frische Erde schlüpfte aus dem Ei. Konnte auch etwas anderes bedeuten, das mir in meinem Wissensbereich fehlte, war mir aber schlüssig genug.
Nach ersten Szenen der griechischen Mythologie keuchte ein kleiner Läufer Runde um Runde weiter, bis er langsamer wurde und schließlich ermattet zur Seite und vom Laufband kippte. Das war der Botschaftsüberbringer nach der Schlacht von Marathon. Mehr Bild war nicht notwendig, die Reduzierung auf das Wesentlich funktionierte erstaunlich gut.
In Pompeji klappte die Spitze des Berges mit lauten Knall und etwas Dampf nach vorne weg und die kleinen, bis dahin gemächlich hin und her wandernden Figürchen, flüchteten unter viel Geschrei zu beiden Seiten aus dem Bild. Beziehungsweise sie wurden in Höchsttempo zu den Seiten gekurbelt und dort schnellstmöglich abgesammelt. Dann wurden zwei dicke Sperrholz-Lavaströme unter lautem Grollen von links und rechts ins Bild geschoben und verdeckten den Blick auf die kleine Stadt. Der Eindruck eines großen, schrecklichen Vulkanausbruchs war von den Zuschauern sofort zu erfassen. Einerseits wirkte es lustig, weil es so einfach dargestellt wurde und fast etwas von einem hemmungslosen Kinderspiel hatte, andererseits war es aber doch unerwartet beeindruckend und wegen des Geschreis der flüchtenden Figuren auch berührend.
Ich saß vermutlich ähnlich staunend wie eine der früheren Jahrmarktsbesucherinnen vor der Bühne und war fasziniert vor den kleinen, abgeschlossenen Welten, die sich mir zeigten. Schon Puppenstuben- und Miniaturlandschaften berühren in ihrer Verkleinerung und Perfektion, in dieser bewegten Form war es noch intensiver. Dass unter der Spielfläche Führungsräder und Laufbänder zu sehen waren und rechts und links immer wieder Hände ins Bild kamen, die neue Figuren auf die Bänder stellten, manchmal noch schnell den Stand korrigierten und dann nach anderen Figuren griffen, ehe diese am Ende des Bandes herunterfielen, störte nicht, sondern verstärkte den Reiz nur. Emsige Hände, echte Handarbeit, konzentriertes Arbeiten und ein hohes Tempo waren beim Bestücken und Kurbeln der Laufbänder notwendig.
Manchmal blieb mir beim Zusehen fast die Luft weg und ich fieberte atemlos mit, ob alles klappte. Wie erstaunlich, dass die Bilder der von Hand auf ein Laufband gestellten und dann handgekurbelten Figuren mich stärker berührten als hochauflösende, perfekte 3D-Animationen. Mir wurde plötzlich klar, wie beeindruckend damals die Vorstellungen für die Zuschauer gewesen sein mussten, als sie die einzige Möglichkeit waren, große Weltereignisse bewegt darzustellen.
„Ein feste Burg ist unser Gott“ spielte Rainald auf dem hölzernen Harmonium. Er fragte, warum nicht nur die Leute damals in Pompeji umgekommen sind, sondern einige Jahrhunderte später beim Erdbeben in Lissabon auch gläubige Christen, denen trotz ihrer Gebete kein gnädiger Gott half.
Im Schnelldurchlauf ging es durch die Weltgeschichte. Das Ei des Kolumbus tanzte hinter dem Schiff auf den Wellen, – das Meer dabei ganz wunderbar mit bemalten, wellig ausgesägten, hin und her geschobenen Brettern dargestellt, was im Publikum freudiges Raunen auslöste, weil es so nett war. Die Französische Revolution wurde mit ihren Schrecken nur einen kurzen Augenblick gezeigt, dann wurden die großen Klappen vor dem Bühnenausschnitt sofort wieder geschlossen. Stattdessen erklärte Tilla Kratochwil vor der Bühne an einem Modell die wunderbar geometrischen Formen und die Funktion einer Guillotine und köpfte anschaulich gekochte Eier im Akkord.
Zwischen den weltgeschichtlichen Szenen gab es Einblicke in die „Wunderkammer“, wie im 17. Jahrhundert die ersten privaten, naturgeschichtlichen Sammlungen genannt wurden. In gemächlichem Tempo wurden nacheinander Eier von großen und kleinen Vögeln oder verschiedene Steine in die Mitte der Bühne gekurbelt, hielten dort an und eine Stimme aus dem Off verkündete kurz und knapp Art und Fundort. „Quarz. Harz“. Die sonst so schnelle und oft atemlos machende Inszenierung wurde total entschleunigt. Konzentriert schauten die Zuschauer auf den langsam von links gekurbelten Gegenstand, warteten bei dessen Halt in der Bühnenmitte gespannt auf die Erklärung, und schauten ihm geduldig beim langsamen Entschwinden hinterher. Dann gingen alle Augen wieder nach links, von wo in aller Ruhe das nächste Exemplar kam. Zeit und Muße zum Gucken, Erkennen, Vergleichen.
In der Weltgeschichte war inzwischen das 20. Jahrhundert erreicht. Was früher „Schlacht“ war, hieß jetzt „Krieg“. Kleingruppen von sauber aufgereihten Plastikeiern bewegten sich in militärischer Ordnung über die Bühne, wurden beim Passieren eines Panzers von ihren Haltebrettern geschoben und fielen klappernd auf den Boden vor der Bühne. Klock-klock-klock-klock. Und die nächsten: Klock-klock-klock-klock. Unermüdlich wurden die weiterfahrenden Brettchen am Rand der Bühne eiligst mit neuen Eiermannschaften besetzt und erneut aufs Feld geschickt. Und ausnahmslos wurden die Eier auf ihrer Runde vom Panzer niedergemäht, fielen herunter, rollten klackernd über den Fußboden und blieben dann still liegen. Ein Bild, das in seiner Klarheit sehr ausdrucksstark war und sich mir fest in den Kopf setzte. Großartig!
Immer schneller geschahen weltgeschichtliche Ereignisse, die Erfindungen und Meldungen überholten sich auf den Laufbändern, es blieb keine Zeit, näher auf alles einzugehen. Lenin, Hakenkreuz, Josefine Baker. Alles war wichtig und musste gesammelt, bewahrt, erinnert werden. In der großen Weltgeschichte mit den bedeutenden Dramen und Ereignissen wurde für die drei Darsteller plötzlich Persönliches wichtig. Die eigene Geburt war doch ein bedeutendes Ereignis, oder das Fahrradfahren lernen, die Erlebnisse aus der Kindheit. Immer schneller erzählten sie aus ihrem Leben, unterbrachen sich gegenseitig, fielen einander ins Wort, wollten, dass diese wichtigen Ereignisse nicht vergessen und übersehen wurden.
Sie waren in der Jetztzeit angekommen. In einer Zeit mit Nachrichten-Apps, die auf dem Handy für sofortige Informationen sorgten. Ein Pieps, und die aktuellste Meldung zum Weltgeschehen war da. Wetter, Fußball, Politik, alles wurde sofort berichtet. Hektik brach aus. Rainald zückte sein Handy und machte eilig Fotos. Er vor dem Publikum, das Publikum mit ihm, ein Selfie mit seinen Kollegen. Was jetzt gerade passierte, war bald doch schon Weltgeschichte. Alles musste bildlich festgehalten und gespeichert werden. Alles musste dokumentiert werden … – Licht aus.
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Nach der Vorstellung warf ich einen kurzen Blick hinter die Bühne. Überall standen und lagen unzählige abgestellte oder nach ihrer letzten Szene rasch zur Seite oder nach hinten geworfene Figuren und Requisiten. Es war ein chaotisches Bild, das davon zeugte, in welchem Tempo und mit wie vielen Figuren die Szenen der Vorstellung zusammengestellt und gekurbelt werden mussten. Das gelang nur so gut, wenn nicht nur die Mechanik des Theatrum mundi, sondern auch das Zusammenspiel der Darsteller reibungslos funktionierte.
Was für eine schöne, kurzweilige und spannende Inszenierung! Wunderschön gemacht und mit einer ganz eigenen, ungewöhnlichen Atmosphäre. Sehr gut durchdacht, sehr gut gespielt, sehr schnell gekurbelt – klasse! Auch bei den stimmungsvollen Figuren, Puppen und Aufstellern passte alles. Es war ein außergewöhnliches, beeindruckendes Theatererlebnis.