Rainald Grebe – Die fünfte Jahreszeit – 11.11.2014 – Köln
Schauspielhaus, Köln
Karneval im Rheinland – damit bin ich aufgewachsen. Es gibt den Straßenkarneval und eine bunt dekorierte elterliche Wohnung, in der es früher laute Karnevalspartys gab. In den Supermärkten läuft Karnevalsmusik in Dauerschleife, und an den Kassen sitzen Kassiererinnen mit Zöpfchen oder Teufelshörnchen und tippen mit konzentriertem Gesicht die Preise ein. Jedes Jahr Parallelwelt und Ausnahmezustand von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch. „Die fünfte Jahreszeit“, werden die Karnevalstage im Rheinland genannt.
Rainald Grebe, auch im Rheinland aufgewachsen, konnte dem Karneval als rheinisches Kind ganz sicher nicht entgehen. Kaum erwachsen, zog er nach Berlin und damit weit aus dem karnevalistischen Einzugsbereich heraus. Trotzdem muss etwas in ihm hängen geblieben sein, das ihn jetzt kitzelte. Was war das Phänomen des Kölner Karnevals? Zur persönlichen Recherche war er zur Karnevalszeit tief in die Kölner Feierstimmung eingetaucht und hatte Eindrücke und Momentaufnahmen gesammelt. Ein neugieriger Blick von außen auf den Kölner Karneval mit seinen vielen Facetten. Ich war ein wenig besorgt. Trotz frühester Kindheitsgewöhnung war mir der Karneval inzwischen zu laut und zu alkoholisiert, und ich flüchtete vor Karnevals-Mitklatschmusik, die an den “jecken” Tagen aus jedem Loch zu klingen schien. Hoffentlich gab es bei Rainald Grebe nicht „Wenn dat Trömmelsche jeht“ zu hören, oder noch schlimmer: „Viva Colonia“!
Nachdem ich mir das Stück im März, kurz nach der Premiere, schon angesehen hatte, fand ich den 11.11., den Beginn der Karnevalszeit, einen wunderbaren Termin, noch einmal hinzugehen. Das Schauspielhaus war wegen Umbauarbeiten schon länger in eine große, alte Fabrikhalle verlegt, was ich großartig fand. Außerdem passte das räumlich zum ersten Bild der Inszenierung: Auf der riesigen Spielfläche standen lange Tischreihen mit Luftschlangenresten und leeren Gläsern. Die dort stattgefundene Karnevalssitzung war sichtlich schon beendet, die letzten vier kostümierten Besucher hingen benommen herum. Hinten ein Podest mit einem kopflosen Elferrat, daneben die bunten Pulte einer Tanzkapelle, an denen die letzten drei Musiker gerade zusammen packten. Am Bühnenrand ein großer, begehbarer Totenschädel, daneben eine Reihe Dixiklos. Das war wiedererkennbar und stimmungsvoll. Ich hatte das Gefühl, die schalen Kölschreste in den Bechern zu riechen. Ein müdes Rotkäppchen, eine in Gedanken versunkene Biene Maja, ein Offizier vom Raumschiff Enterprise und ein alkoholisiertes Huhn lallten abwechselnd karnevalistische Liedgutfetzen vor sich hin, „Kölle, do bes e Jeföööhl …“. Ein bärtiger Gandalf torkelte unkontrolliert auf eine Tischreihe zu, fiel zwischen den Stühlen laut krachend zu Boden und blieb regungslos liegen. Die Zuschauer hatten gleich zu Beginn Spaß und lachten leise. Ja, das war Karneval. Zumindest ein Teil davon.
Von irgendwoher erklang sphärisch ein mehrstimmig gesungener Choral, der an die Gesänge in einem Nonnenkloster erinnerte und ruhig und erhaben wirkte. Kam das vom Band? Ein seitliches Rolltor öffnete sich und ein singender Chor, gekleidet in eine Art graubrauner Gardeuniform, kam langsam hereingeschritten. Jens Carsten Stoll, der musikalische Leiter des Abends, dirigierte, währenddessen rannte Gandalf polternd zum Dixiklo, wo er sich lautstark übergab. Der Chor, der fast nur aus Frauen bestand, klang sehr harmonisch und brachte eine wunderschöne, friedliche Atmosphäre, auch wenn sich immer wieder die Würgegeräusche aus der Plastiktoilette darüber legten. Der Text dieser gebetsartigen Gesänge war: “Bei uns in Kölle.” Es war der Auftakt einer bunten Revue, die nicht nur lustige, sondern auch vertraute, seltsame und besonders für Nicht-Rheinländer vermutlich befremdliche Szenen aufzeigte.
Während die Chormitglieder zu den Besen griffen, leise „Am Aschermittwoch ist alles vorbei“ sangen und in exakten 90-Grad-Wenden durch den Saal liefen, um die Überreste der großen Feier zu entsorgen, demonstrierte das Huhn dem Publikum, wie man mithilfe eines Schlauches und eines Trichters schnell größere Mengen an Alkohol in den Körper bekam. Auf den Alkoholpegel kam es an. Rainald Grebe kam verkleidet als Dom – oder war es der Dreikönigsschrein? – und mit Domspitzen auf dem Kopf herein. „Einmal im Jahr ist alles erlaubt, es gibt keine Regel“, erklärte er den Karneval und wirkte mit der großen Brille wie ein Wissenschaftler, der das Phänomen des rheinischen Brauchtums erforschte. „Mit Alkohol alleine ist es nicht zu erklären“, stellte er fest.
Er verließ den Schauplatz und die fünf vorher kostümierten Schauspieler stürzten abwechselnd mit neuen Verkleidungen aus den Dixiklos und ließen die Zuschauer in schnellem Tempo Kostüme raten. „Was bin ich?“ schrie das frühere Enterprise-Mitglied, trug eine weiße Zopfperücke und rollte über den Boden. „Mozartkugel“, fand das gut gelaunte Publikum schnell heraus. Knalltüte, Himmelszelt und Flashmop waren weit schwieriger. Nachdenklicher wurde es, als das frühere Rotkäppchen laut überlegte, was das Besondere am Verkleiden war, wenn man doch auch im Leben ständig eine Rolle spielte. Sie als Schauspielerin ja sowieso. Das mochte ich so an den Inszenierungen von Rainald, dass die Show plötzlich die Fassade verlor und es privat wurde. Vermeintlich privat, denn auch die persönlichen Bemerkungen waren ja Teil der Show, und es war nie klar, was davon ganz echt und was vorgegeben war.
Auf der Videowand war Kardinal Meißner bei einem Treffen im Dom mit Kölner Funken zu sehen, im Schauspielhaus stieg ein würdiger Kardinal im Hubwagen nach oben, während ein Messdiener alles mit einer Nebelmaschine vollnebelte, und unterdessen der Chor einen wunderschönen Choral sang. Der Text des Chorals war tatsächlich der Liedtext von „Viva Colonia“! Da hatte ich es! Allerdings so sanft und wunderschön gesungen, dass es mir richtig gut gefiel und ich nicht mal an der Reimstelle von „Lust“ auf „Durst“ zusammenzuckte. Ich lächelte stattdessen höchst zufrieden. Der Kardinal fuhr zum Vergnüngen der Zuschauer immer höher, bis er mit dem Kopf in den Deko-Stoffbahnen hing, und unten behauptete das Rotkäppchen, dass man in Köln nur mit einer Liedzeile anfangen musste und alle Rheinländer würden mitsingen.
Fing sie wirklich an mit „Wenn et Trömmelsche jeht …“? Oder bildete ich mir das im Nachhinein ein, weil es genau das andere Lied war, das ich auf keinen Fall an diesem Abend hören wollte? Jedenfalls sang sie los, ich bin mir sogar sicher, es war das “Trömmelsche”, die dreiköpfige Band setzte ein, und das Publikum machte sofort mit. Nicht grölend und mitklatschend, sondern liebevoll, wie bei einem vertrauten, alten Volkslied. Es klang fast so schön wie vorher der Chor. „Drink doch ene mit“, „Mer losse d‘r Dom in Kölle“, „In uns’rem Veedel“ – es mussten nur die ersten Worte erklingen, schon ging es wie von alleine vielstimmig weiter. Ich bin ja nicht so für Karneval, aber es hat schon was, mit einer großen Gruppe Leute gemeinsam ein regionales Lied zu singen. Und erstaunlicherweise sang ich es nicht nur mit, weil ich kein Spaßverderber sein wollte, die Worte und Melodien waren einfach da und wollten raus. Tief innen bin ich wohl doch viel zu stark vom Karneval geprägt. Bei den „Eingeborenen von Trizonesien“ war der Text in den Publikumshirnen allerdings schon brüchig, was nicht nur daran lag, dass das Lied aus der Nachkriegszeit war, sondern auch, weil es heute nicht mehr in der Supermarktbeschallung lief. Hieß es in der Zwischenzeile eigentlich „Heidi-schibbela-„ oder „Heidi-tschimmela-bumm“? Ich sang irgendetwas mit „schiddela“. Ach, kam schon hin.
Eine Tanzmariechengruppe kam zur Trainingsstunde auf die Bühne, und während die Tänzerinnen und Tänzer unerwartet professionell die typischen Schritte tanzten, brüllte die bezopfte Tanzmariechen-Trainerin fordernd: „Lächeln! Wir haben Spaß!!“ Dem Publikum berichtete sie, dass sie das erste türkische Tanzmariechen war, aber aus Konkurrenzgründen fallen gelassen wurde – im wahrsten Sinne des Wortes. In der Schlusspose mit richtigen Hebefiguren – ich war erstaunt, was Schauspieler und Statisten alles leisten können – eilte Rainald Grebe auf die Bühne, erzählte lustige Sachen und beobachtete mit Freude, wie das Lächeln in den Gesichtern der Tanzmariechen immer gezwungener wurde, weil sie nicht aus der anstrengenden Endposition kamen. „Das sieht alles so leicht aus!“, lobte Rainald und grinste breit. Dem Tänzer, der das Trainer-Mariechen minutenlang auf den Schultern stehen hatte, brach der Schweiß aus. Ganz in echt. Das Publikum litt mit, lachte aber trotzdem.
Zu Bildern des im Krieg zerstörten Kölns sang das frühere Huhn ganz zart und berührend „Heile, heile, Gänschen, es wird bald wieder gut“, glitt dabei nach Mainz ab, was aber nicht weiter störte. Ein schleimiger, selbstgefälliger Präsident führte den jetzt nicht mehr kopflosen, aber trotzdem willenlosen Elferrat durch das Karnevalsprogramm, es gab ein gar nicht lächerliches Männerballett – das Publikum gab Sonderapplaus -, einen grandiosen, grünen Marsmenschen, der „Ich bin ene Räuber“ mit starkem marisanischen Akzent brachte, „ich bebeben enenene Räää-uuuu-brrrrrrrr“, und den Auftritt des Dreigestirns, das stumm blieb und mit seltsamen Sprüngen über die Bühne eilte. Was soll so ein Dreigestirn gegen Ende der Session auch schon Originelles sagen? Es reichte, wenn es einmal grüßend durch den Saal lief.
Der Chor kam vor das Publikum und die Mitglieder stellten sich dem Publikum einzeln mit dem Echt-Namen vor und erzählten eine kurze Hintergrundgeschichte. Sie kamen aus Taiwan, der Schweiz, Hannover, Schwaben, lebten erst kurz oder schon einige Jahre in Köln. Alles Imis, wie der Kölner die zugewanderten Nicht-Kölner nennt. Der Iraner mit dem persischen Namen sprach mit saarländischem Akzent, weil er in Saarbrücken aufgewachsen war. Nur die Letzte sagte kurz und knapp: „Hallo, ich bin Theresa und ich komme aus Köln“, was ganz unerwartet war und darum Gelächter und Applaus auslöste.
Rainald kam und sagte: “Ich bin aus Frechen”, zog ein Klavier auf die Bühne und spielte „Frechen“, ein Lied über die Stadt, die keine Vorzüge hatte, aber trotzdem die Heimat seiner Kindheit war. Kaum war er fertig, wurde er weggeräumt. Der Karneval war vorbei. Während sie gezielt und schnell Tische und Müll wegräumten, erzählte ein Sanitäter des Roten Kreuzes von „hilflosen Personen“ und wie schwierig es oft war, durch die Menschenmenge in der Innenstadt zu kommen, eine Kellnerin von Leuten, die tagelang in der Kneipe standen und von Sex auf der Toilette, die Dame vom Ordnungsamt von ihren Touren, bei denen sie auf der Suche nach Glasflaschen und nach Minderjährigen mit Alkohol war. Sie alle trugen typische Arbeitskleidung, waren an den Karnevalstagen mitten im Geschehen, feierten aber nicht. Sie erzählten beiläufig und sehr authentisch, wie in einem privaten Gespräch. Ich konnte glatt vergessen, dass sie Schauspieler waren. Ein Straßenkehrer in orangefarbenem Anzug berichtete stolz, dass er mit den Kollegen in einer Kolonne dem Karnevalszug folgte, und es ein schönes Gefühl sei, wenn die Zuschauer ihnen zujubelten und sie “Mandarinen-Funken” nannten. Während die Elferratkörper nachlässig in einen Container geworfen wurden, wo sie wie ein Haufen Leichen übereinander lagen, wurden schon die Banderolen für die nächste Veranstaltung in der Halle bereitgestellt, eine Eisenwarenmesse.
Die Biene Maja setzte sich mit einem Akkordeon in das große Totenschädelauge der Dekoration und spielte das Lied vom treuen Husar. Der Refrain war normalerweise ein Mitklatschmarsch der guten Laune, in dieser Version mit allen Strophen, ganz sanft und schön gesungen, eine traurige Ballade. Zwei Balletttänzerinnen tanzten währenddessen im Spitzentanz grazil um die leblos auf dem Boden liegenden Feieropfer, und das Publikum war ganz still und gerührt. Wunderschön und wie aus der Zeit gefallen.
Aber wer war verantwortlich für alle Regelübertretungen in der verdrehten und eigentlich regellosen Zeit? Wer war schuld an allem? Das war der Nubbel, eine Stoffpuppe, die zum Ende der Karnevalszeit als symbolischer Sündenbock verbrannt wurde. Mit Fackeln, die mich immer sofort an mittelalterliche Szenen denken lassen, erschienen die Jecken, um gemeinsam den Nubbel anzuklagen. „Wer ist schuld?“ wurde gerufen, und alle brüllten: „Der Nubbel!!“ Sie marschierten ab, und Rainald Grebe blieb alleine zurück und blickte ihnen hinterher.
Ganz sanft begann er ein Lied über die Heimat zu singen. Was ist Heimat? Der Saxophonist spielte ein sehr schönes, weiches Solo, und Rainald sang vom Immer-unterwegs-Sein, schilderte Momentaufnahmen, sang vom überall gleichen Starbucks, McDonalds, Sanifair. Die Musik wurde schneller, drängender, lauter, es war wie eine schnelle Fahrt auf der Autobahn mit blitzartigen Eindrücken, kurzen Aufenthalten und ohne Endziel. Heimat war, was vertraut war. Waren also Starbucks, McDonald und Sanifair Heimat? Am Ende fiel die große Stoffdeko halb herunter, das Licht ging an und alles war vorbei.
Es gab starken Applaus vom Publikum nach diesem eindrucksvollen Abend. Die Darsteller verbeugten sich unter viel Beifall, das Dreigestirn fuhr eine Runde auf dem Transportwagen und warf „Kamelle“(Bonbons) in die jubelnde Menge, und ich lächelte liebevoll. Da hatte ich doch plötzlich ein warmes Gefühl im Herzen für das Rheinland und den Karneval, weil es ein vertrautes Stück Heimat für mich war. Auch wenn ich beim Karneval nicht aktiv dabei war und mich eine ganze Menge daran sehr störte, berührte mich diese Inszenierung doch, weil ich mit ihm aufgewachsen war und er ein Teil meiner Biographie blieb.
Was für eine schöne Inszenierung. Rainald Grebe hatte mit offenen Ohren und Augen Material gesammelt und verschiedene Seiten des Karnevals gezeigt, ohne irgendeine Wertung abzugeben. Distanziert wie ein Wissenschaftler, der einen Bildervortrag über eine andere Kultur hielt, berichtete er über den Straßen- und Sitzungskarneval, über zu viel Alkohol, den Spaß am Verkleiden, Rituale und das Gemeinschaftsgefühl. Die Drei-Mann-Kapelle, Jens-Carsten Stoll und der Chor machten tolle Musik, es gab berührende Momente, schöne Bilder, wiedererkennbare Atmosphären, Tempo und eine große Spielfreude. Ein toller Abend, der mir sehr gefiel und mich berührte, der aber sogar Karnevalisten gefallen müsste, wenn sie nicht gerade Sitzungspräsidenten waren oder Dreigestirn. Ich persönlich hätte den 11.11., den Beginn des Kölner Karnevals, nicht besser als bei der “Fünften Jahreszeit” im Schauspielhaus feiern können.