Rainald Grebe – WildeWeiteWeltSchau – 27.03.2011 – Leipzig
Centraltheater, Leipzig
“WildeWeiteWeltSchau” – schon der Name reichte, um meine Augen vor Verzückung strahlen zu lassen. Das roch nach Abenteuer, nach Sägespänen und nach längst vergangenen Zeiten, als es auf den Landkarten noch weiße Flecken gab, die nicht der Nordpol waren, sondern völlig unbekannte Gebiete. Und als es hier Jahrmärkte und Zoos gab, die neben wilden Tieren und Sensationen auch Völkerschauen zeigten.
Allen voran Hagenbeck, der noch vor hundert Jahren Afrikaner ausstellte, die damals noch ganz unbedarft „Neger“ genannt wurden. Diese waren Angestellte und bekamen ein kleines Gehalt, um tagtäglich vor den Augen des Publikums Körner zu mörsern und sich in afrikanischen Kulissen authentisch zu verhalten. So authentisch wie Karl May seine Romane schrieb. Da das Reisen an die Originalschauplätze nur sehr wenigen Leuten möglich war, waren die Völkerschau-Szenen für viele Menschen die einzige Möglichkeit sich ihrer Abenteuerlust und Neugier auf fremde Welten hinzugeben.
Im Leipziger Centraltheater erwartete die Zuschauer der heruntergelassene eiserne Vorhang. Es blieb nur ein schmaler Streifen Bühne übrig, auf dessen Rand ein Mann mit Laptop auf den Knien hockte. Die langen Rastalocken, der wilde Bart und die Fußschlappen ließen ihn wie einen vor Jahrzehnten nach Gomera ausgewanderten Europäer aussehen, die Gesichtsbemalung und die halblange, indische Wickelhose machten ihn zu einem Inder. Vermutlich war es völlig egal, ob er Inder oder Aussteiger sein sollte. Hauptsache exotisch. Und mit der Welt vernetzt, denn ein von seinem Laptop projiziertes Bild zeigte seine aktuellen Gesprächspartner per Skype in London, Istanbul und Los Angeles. Globaler Smalltalk, den alle mithören und mitsehen konnten. Früher hätten Briefe Monate gebraucht, um beim Empfänger am anderen Ende der Welt zu sein. Die Vorstellung hatte noch nicht mal richtig angefangen und ich war schon fasziniert und merkte, wie sich ein freudiges Grinsen in meine Mundwinkel setzte.
Der indische Aussteiger – ich hatte die ganze Zeit im Sinn, dass genau so auch Robinson hätte aussehen können, wenn er damals seinen Laptop vom Schiff gerettet hätte, nur dass er dann kein Tagebuch geführt, sondern einen Blog getippt hätte – packte seine Sachen, der glatte Eisenvorhang hob sich und dahinter zeigte sich der geschlossene rote Bühnenvorhang. Ein etwas abgerissener Jahrmarktschreier (Martin Brauer) kam und kündigte mit vielen Spannungspausen das Erleben von Sensationen, Exotik, Tieren und fremden Ländern an. “Vergessen Sie den Alltag!” Das hatte ich schon.
Er versprach schwarze Menschen, die wir ohne Zäune erleben sollten. “Frei wie in der Natur. Echt und unverfälscht.” Leider war die angekündigte Tellerlippenfrau dann doch nicht da, stattdessen öffnete sich der Vorhang und ein kleingewachsener Mann (Klaus-Dieter Werner), der genau wie der kleine Muck gekleidet war und damit ungeheuer märchenhaft wirkte, kam heraus. Er versuchte den Jahrmarktschreier ins Bein zu beißen und war anscheinend nicht ganz ungefährlich.
Eine kleine sorbische Gesangs- und Tanzgruppe brachte die nächste Darbietung, und der befrackte Moderator erklärte geheimnisvoll, dass sie in der Ober- und Niederlausitz beheimatet seien. “Ihr Brauchtum ist nicht durch die Zivilisation verdorben.” Ah ja, unverfälschte Kulturgebräuche, diesmal nicht aus Afrika, sondern aus Sachsen und Brandenburg. Aber eigentlich ebenso fremdartig.
Rasant ging es weiter, über Grönland und Hawaii bis zu einer Gruppe Maoris, die mit wilder Gesichtsbemalung und in Baströcken einen Tanz aufführten. Passend bemalte Hintergründe und Pappkulissen deuteten jeweils eine naturgetreue Szenerie an, und es war sicher kein Zufall, dass sie wie Kulissen aussahen. Als vor einem Bild der Sphinx Bauchtanz aufgeführt wurde, musste ich lachen. Hey, ich war gerade mitten in Leipzig und die ganze Welt kam für kurze Augenblicke auf die Bühne. Und ich guckte auch noch interessiert auf die klischeehaften Szenen und nickte zustimmend. “Iglu und Fellkleidung – klar, Grönland! Palme und tanzende Mädchen, deren Arme Wellenbewegungen machen – klar, Hawaii!” Es war alles so einfach.
Mitten in die altertümlich wirkenden Vorführungen stürmte Rainald Grebe im hellen Anzug und mit Brille und brachte alles ins Hier und Jetzt. “Herzlich willkommen zur Tourismus-Messe in Leipzig!”, sprudelte er im Vertreterton los, entdeckte in den Zuschaueraugen “die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies” und rasselte Pauschalurlaubsangebote herunter, die bis zum Weltraumtourismus gingen.
Der Inder-Aussteiger (Manuel Harder) wurde auf einem Nagelbrett liegend hereingezogen, zwei Tänzerinnen begannen mit indischen Tänzen und plötzlich gab es die ersten Brüche im Bild. Ein Pinguin watschelte herein und machte Fotos, und ein Asiate, bei dem ich nicht entscheiden konnte, ob er Japaner oder doch eher Koreaner war, trat nach vorne. Er trug – völlig unasiatisch – weder ein Seidengewand, noch eine Reisschale mit Ess-Stäbchen. Stattdessen hatte er einen dunklen Anzug an und sang mit Tenorstimme “In Blandenbulg, in Blandenbulg, ist wieder jemand voll in die Allee gegulkt.” Das Publikum jubelte. Na, immerhin konnte er, wie alle Asiaten, kein R aussprechen, wenn er schon so unecht im europäischen Anzug da stand. Danach schmetterte er einen Refrain von “Dein ist mein ganzes Herz” aus der Operette “Land des Lächelns”. Da konnte er plötzlich das R wieder, dabei hätte es, kontinentmäßig passend, fehlen dürfen.
Eigentlich war ein tenorsingender Asiate im Anzug völlig falsch. Aber was war denn nun authentisch? Der deutsch singende Tenor-Asiate war es jedenfalls, denn der sang so was anscheinend öfter und stand nicht nur als verkleideter Schauspieler auf der Bühne. Der war so. Die Grenzen der Authentizität waren verwaschen. Vorher war doch alles so klar gewesen. So sicher in Klischees verpackt.
Eine Schweizerin im Dirndl (Melanie Schmidli) pries ihr sauberes Berg- und Schoki-Land vor einer Matterhorn-Kulisse an, schwenkte dann aber plötzlich um und regte sich über die Zuschauer auf, die als Touristen in die Schweiz kamen und dort Klischee-Bilder sehen wollten. “Wir haben keine natürlichen Feinde!”, brüllte sie. “Wir sind neutraaaaaal!!”
Urlaubsbilder und Super-8-Filme liefen im Hintergrund ab, während vorne vom Türkeiurlaub gesprochen wurde. “All inclusive, Animation, abgesperrter Strand, Türken nur zum Putzen der Anlage.” Werbeanzeigen für den “Safaripark Hodenhagen” und “Safari Mark Brandenburg” holten Afrika ganz nah, reizten das Publikum aber doch eher zum Lachen. Rainald Grebe setzte sich ans Klavier und spielte bei wallendem Bodennebel “Oben”. Vor ihm auf dem Klavier stand ein Globus.
Zuerst dachte ich, das Lied passt ja gar nicht ins Thema, auch wenn ich es total gerne höre, aber es war zumindest voller Klischees. Und er blickte von weit oben auf die Welt herunter. Wenn ich will, kann ich mir da schon was interpretieren. Als er nachher mit dem Globus in der Hand auf der Bühne stand und sich um ihn herum, wie in einem Traum, touristische Fotomotive bewegten, war ich wieder mal alleine vom Bild total hingerissen.
Die weit entfernten Ziele waren nah gerückt und gar nicht mehr unbekannt, denn es gab alles auf Youtube zu sehen. Man kannte New York, bevor man hingefahren war. Nichts war mehr fremd. “Ich habe im Fernsehen mehr gesehen, als Humboldt in seinem gesamten Forscherleben”.
Gerade die eingeschobenen, anscheinend privaten Urlaubserinnerungen der Schauspieler, die oft mit Fotos oder alten Super-8-Filmen bebildert wurden, waren sehr berührend. Sie erzählten vom Skiurlaub mit den Eltern und dem viel zu kaltem Schnee, oder von einem Urlaub auf Thailand, bei dem eigentlich nicht viel vom Land gesehen wurde, aber die Zeit in der Hütte am Strand immer noch als der schönste Urlaub des Lebens in Erinnerung war. Das ging ans Herz. Allerdings war das Problem bei den exotischen Urlaubszielen, dass sie als Pauschalangebote auch von den anderen Touristen besucht worden waren, die ihrerseits sofort von ihren Erfahrungen berichteten. Ich dachte an das Abhaken einer To-Do-Liste. Wo musste man gewesen sein, was durfte man als Urlauber nicht verpassen? Hatte man schon alle Kontinente durch?
Rainald Grebe erzählte, unterstützt von privaten Videoaufnahmen, vom Handpuppenworkshop in Daressalam und ließ die Schauspieler hinter einem schwarzen Vorhang mit ihren Händen Szenen spielen. Im Hintergrund war das Taj Mahal zu sehen und zwei indische Tempeltänzerinnen drehten sich synchron. Puppenspiel war international und auch ohne Sprachkenntnisse zu verstehen. Es endete trotzdem im Chaos.
In “TIA”, this is Africa, traf Rainald Grebe als Tourist auf einen Afrikaner, und aus der freundlichen Annäherung wurde schnell ein Verkaufsgespräch mit aggressivem Unterton, vor dem der Tourist in seine gesicherte Ferienanlage flüchtete. Das war kein Kennenlernen von Kulturen, sondern Pauschaltourismus in einem Urlaubsgebiet.
Der Aussteiger-Inder zog sich plötzlich seine Rastaperücke und den Bart ab und wurde authentisch. Dabei hatte er vorher authentischer ausgesehen. Er erzählte von den Sentinelesen, einem noch unerforschten Volksstamm auf einer indischen Inselkette, der sich mit Pfeilen gegen Besucher wehrt und in der konsequent verteidigten Isolation unbeeinflusst von anderen Kulturen bleibt. Rainald Grebe verloste eine echte Reise nach Bautzen zu den Sorben. Die Lausitz war für die meisten Zuschauer vermutlich ebenso exotisch und unbekannt wie die indische Inselgruppe mit den Sentinelesen. Wobei anzunehmen war, dass man dort als Besucher nicht mit Pfeilen beschossen wurde. Vermutlich aber auch nicht gerne integriert, da die Sorben viel Wert auf ihre eigene Kultur legten.
Kaiser Franz Josef spielte Klavier, Nietzsches Schwester war mit ihrem Mann nach Paraguay gegangen, um dort eine deutsche Siedlung zu gründen, Grzimeks Serengeti-Auto kurvte über die Bühne und der Wiener Opernball traf auf Afrika. Es wurde immer bunter.
Andreas Keller erzählte von seinem Haus in Mecklenburg-Vorpommern, sein Paradies in Zeiten der DDR-Grenzen, die die Reise-Welt stark beschränkten. Er fühlte sich dort “akzeptiert von den Einheimischen” und zeigte Fotos, auf denen er glücklich lächelte. Das war wieder so ein Moment, der emotional berührte. Das war echt. Die Aussteiger-Insel war ganz nah, mitten in Mecklenburg-Vorpommern, aber trotzdem weit weg von allem.
Auf leerer Bühne, hinter sich einen hohen, blauen Sternenhimmel, sang Rainald Grebe “Lonely Planet”. Es war optisch voller Kitsch und traf trotzdem. Ich steh ja voll auf sowas. Wie klein war man in der großen Welt und wo lagen die Ziele, wenn doch alles schon erforscht und erlebt war? “Jetzt steh ich hier auf dem Dach der Welt mit meiner Mastercard.”
Vor ihm versanken die Mitspieler, die gleichzeitig Musiker waren, langsam im Orchestergraben, und am Ende des Liedes kamen Menschen mit leuchtenden Planetenköpfen auf die Bühne und drehten sich tanzend. Klaus-Dieter Werner als Stephen Hawking sprach metallisch über seinen Sprachcomputer und wurde per Mini-Kamera als Livebild auf die Leinwand übertragen.
Das Licht ging an, der hintere Vorhang wurde halb hochgezogen, und die Zuschauer blickten auf den sonst verdeckten Teil der Bühne, in dem Kabel liefen und die Kulissen standen. Das Matterhorn neben dem Dromedar. Alles war Schau.
Das Publikum applaudierte sehr begeistert. Ich auch. Es war ein Abend voller Einzelszenen, die immer neue Aspekte zum Thema Kulturen, Klischees und Authentizität zeigten und zusammen ein stimmiges Ganzes ergaben. Am Anfang war alles in übersichtlichen Schaubildern geordnet, am Ende zeigte sich, dass die unverfälschten Kulturen selten waren und oft das echt war, das nicht echt aussah. Oder dass das Kleine, eigentlich Unspektakuläre, viel berührender als die große Reise ans Ende der Welt sein konnte.
Ich fand den Abend wunderbar, freute mich über die vielen schönen Bilder fürs Auge, genoss die spannungsvolle Abwechslung und die gelungene Mischung. Phantasievoll, bunt, laut, leise, berührend, immer wieder neu und unerwartet. Spannend.