Rainald Grebe – 04.11.2010 – Berlin
Das Orchester der Versöhnung. Mit Marcus Baumgart, Martin Brauer, Buddy Casino, Serge Radtke, DJ Smoking Joe und einem Streichquartett.
Admiralspalast, Berlin
Seit einigen Jahren war Rainald Grebe solo oder mit der “Kapelle der Versöhnung”, die aus dem Gitarristen Marcus Baumgart und dem Schlagzeuger Martin Brauer bestand, unterwegs. Jetzt sollte es ein Programm mit dem “Orchester der Versöhnung” geben, in dem es sogar ein Streich-Quartett gab. Ich fand’s spannend. Vor allem, als ich hörte, dass er auf keinen Fall seine größten Hits mit Orchester runterspielen wollte, sondern dass es viel Neues geben würde.
“Ja, klar, da komme ich mit”, meinte mein Gatte, was nicht nur für mich, sondern auch für die Leser meiner früheren Grebe-Berichte überraschend sein musste. Mein Gatte war doch der, der mit Rainald- Grebe- Programmen nicht so viel anzufangen wusste. Dem das alles zu wirr war und der sich über nicht ordnungsgemäß aufgebaute Liedstrukturen ärgerte. Allerdings hatte er inzwischen festgestellt, dass ihm die von Rainald Grebe gesungenen Lieder meistens gefielen, wenn die Kapelle mitspielte, und das angekündigte ‘Orchester’ versprach noch mehr Musiker als die Kapelle, so dass der musikalische Teil vermutlich im Vordergrund stehen würde. Und so fuhr er aus eigenem Willen, erstaunlich offen und gut gelaunt mit zum Berliner Admiralspalast.
Dass Rainald Grebe nicht einfach ein komplettes Philharmonie-Orchester ausgeliehen und auf die Bühne gesetzt hatte, war mir klar. Das ‘Orchester’ wann dann auch viel kleiner als erwartet. Neben den Kapelle-Musikern Marcus und Martin gab es den Bassisten Serge Radtke, der auch Tuba und Alphorn spielte, Buddy Casino an der Hammondorgel, DJ Smoking Joe -, der Sounds mixte und ein Streichquartett, bestehend aus pensionierten Berufsmusikern. Lange Lichterketten spannten sich über der Bühne leicht durchhängend nach oben und erweckten den Eindruck eines Zirkuszeltes. Später sagte mir irgendjemand, es solle ein Beduinenzelt darstellen, was auch sein konnte, von mir dann aber nicht erkannt wurde. Vermutlich, weil ich öfter in Zirkus- als in Beduinenzelten saß. Vielleicht fehlte mir auch einfach nur ein liegendes Kamel vor dem Eingang.
Abgesehen von einem Geiger, der noch während der Wartephase vor Konzertbeginn auf die Bühne kam, Noten ordnete, sich dann auf seinen Stuhl setzte und minutenlang fast regungslos wartete, begann das eigentliche Konzert mit einer verschleierten Braut, die nach vorne an den Bühnenrand kam und ein langes Alphorn in die Zuschauerreihen schob.
Das Alphorn bestand aus dicken, grauen Plastikwasserröhren und als die Dame in das Mundstück blies, brummten tiefe Töne durch den Raum. Ich hatte keine Ahnung, ob das was bedeuten sollte, hatte aber auch überhaupt keine Lust, mir darüber Gedanken zu machen. Ich saß im wunderschönen Admiralspalast, vor mir stand eine Braut im Scheinwerferlicht und trötete durch Abwasserrohre ins Publikum. Es war abgedreht, aber auch faszinierend schön. Gerade als ich dachte, jetzt reicht es, kam Rainald Grebe langsam auf die Bühne, schickte die Braut weg und ging zum Flügel.
Grinsend sah ich seinen indianischen Federschmuck, den er auf dem Kopf trug. Früher hatte er ein armseliges, dünnes, wie angefressenes Ding gehabt, jetzt war es ein prachtvoller Häuptlingsschmuck. Da war die Karriere doch ganz schön voran gegangen. Interessanterweise hatten die früheren Indianderfedern wie eine jämmerliche Karnevalsverkleidung gewirkt, während der neue Federschmuck wie angegossen passte, seriös aussah und wie ein echtes Zeichen von Macht und Würde rüberkam.
Am Flügel kurze Passagen anspielend, suchte Rainald Grebe nach einem Hit. Mal spielte er bekannte Refrainzeilen an, mal sang er neue, eigene Kreationen, nach denen er meistens den Kopf schüttelte: “Nee, das ist kein Hit.” Das Publikum hatte Spaß und es war zu merken, dass die meisten Zuschauer nicht mehr von Rainald Grebe überzeugt werden mussten, sondern kamen, um ihn und sein neues Programm zu erleben. Schließlich drehte er sich langsam zu dem Geiger um und fragte freundlich: “Na, Gerhard. aufgeregt?”, was besonders komisch war, weil Gerhard so ruhig und unendlich geduldig auf seinem Stuhl saß.
Im Plauderton monologisierend gab Rainald Lebensweisheiten preis, die er angeblich von Gerhardt gelernt hatte, und sang dann einige Zeilen über neue Schokoladensorten wie Litschi-Amsel und Spatz-Crunch. Aufschreiend schreckte er hoch, als er plötzlich Serge, den Bassisten sah, der demutsvoll vor dem Flügel stand. Serge trug zur langen Jacke einen Turban und erinnerte mich damit an einen indischen Diener. “Du hast mich überrascht, Serge, Turban ab!”, rief Rainald anerkennend.
Serge setzte sich in die Musikerecke und begann funkig Bass zu spielen. Rainald klimperte auf dem Flügel und sprang erschrocken hoch, als hinter ihm plötzlich ein Mann mit Pappmaché- Fischkopf und ein schwarzer Eingeborener mit blonden Kräuselhaaren stand. “Ah, Gäste!”, rief er erfreut, küsste dem einen die Hand, dem anderen das Fischmaul und bat sie Platz zu nehmen. Fischkopf-Martin setzte sich ans Schlagzeug und Eingeborenen-Marcus zur Gitarrensammlung.
Es war schön zu sehen, wie Rainald mal seriös plaudernd auf seinem Stuhl saß, mal aufgekratzt wie ein kleiner Junge über die Bühne sprang, und für den Zuschauer ganz offenblieb, was als nächstes kommen und wohin das Programm denn nun führen würde. Es war völlig unberechenbar, was einerseits genau die Art von Rainald Grebe und andererseits klasse war.
“Komm, lass uns angeln geh‘n!”, schlug Rainald Grebe vor, setzte sich an den Flügel, nahm den Kopfschmuck ab und sang, dezent begleitet von Bass und Gitarre, vom Angeln. Teile des Liedes hatte ich vorher schon mal als kurze Zugabe gehört, vor einigen Wochen beim 3sat-Festival in längerer Form, jetzt war es ausgereift. Was machen Angler? Sie sitzen stundenlang am Wasserrand und es passiert anscheinend nichts. Genau diese Stimmung gab das Lied wieder. Mein Blutdruck fuhr sofort runter und beinahe hätte ich mit leerem Blick auf die immer wiederkehrenden kleinen Wellen vor mir auf dem Teich gestarrt. Es gab nur keinen.
DJ Smoking Joe kam während des Liedes in weißer Uniform auf die Bühne und enterte seinen erhöhten Platz, der ihn wie einen Kapitän auf der Brücke aussehen ließ. Wobei seine Uniform mehr an einen nordafrikanischen Diktator als an einen Traumschiffkapitän erinnerte. Sollte man Diktatoren die Oberaufsicht geben? Na, Rainald Grebe würde schon wissen, was er sich dabei gedacht hatte.
Das Angellied war immer noch dran, und Buddy Casino, ganz in Rot gekleidet und mit einem beeindruckenden Federkranz auf dem Rücken, glitt langsam und sehr elegant auf einem kleinen Roller an Rainald vorbei bis zur Orgel. “Kompliment, Buddy!”, lobte Rainald den Auftritt. Ich fand die Kleidung und das würdevolle Hineinschweben wunderschön und lächelte entzückt. Solche Bilder hauen mich immer um.
Von der Seite kamen die drei fehlenden Streicher quer über die Bühne, setzten sich ruhig auf ihre Plätze und warteten auf ihren Einsatz. Als er kam, spielten sie eine kurze Sequenz, standen auf und überquerten mitten im Lied in aller Ruhe die Bühne, um wieder abzugehen. Das Publikum lachte sehr amüsiert auf. Trotz oder wegen der Entschleunigung war das Angellied sehr komisch und es wurde viel gelacht.
Nach dem Angeln sang Rainald Grebe, temperamentvoll unterstützt von Buddy Casino, Refrainzeilen bekannter Melodien und fiel dann tanzend in den Rhythmus des Pata-Pata-Liedes von Miriam Makeba. Temperamentvoll, aber wenig elegant wackelte er mit dem Hinterteil und die Zipfel seines hellen Seidenmorgenrockes wehten im Wind. Im Publikum gab es Gelächter, und Rainald gab ein fiktives Gespräch von sich: “Und wie war’s beim Grebe?” – “Geiiiiil. Der hat Pata-Pata gespielt.”
Die Streicher würden nun ein Mozartstück in drei Sätzen spielen, kündigte Rainald Grebe wenig später freundlich an und ging einfach ab. Das Quartett fiedelte los. Zum Glück nur das Finale von nicht mal einer Minute. Ich hatte mich innerlich schon darauf eingestellt nicht unter zehn Minuten wegzukommen. Nichts gegen Mozart, aber mir stand der Sinn an diesem Abend mehr auf Grebe.
Das Publikum klatschte nach dem Endton laut, die Streicher standen auf, verbeugten sich kurz, setzen sich dann wieder hin und stimmten kurz und laut ihre Instrumente. Dann wurde es still. Ups. Herr Grebe kam nicht zurück. Mit gelangweilten Gesichtern warteten die Musiker ab. Im Publikum erst beklemmende Ruhe – oh, eine Panne! – dann ein wenig verlegene Unruhe mit Räuspern und Husten, und als der Bassist Serge plötzlich einen Papierflieger über die Bühne gleiten ließ, vorsichtiges Gelächter.
Gerade hatte ich mich noch gefreut, dass es nicht ewig lange Mozart gab, jetzt blickte ich auf eine Bühne, auf der gar nichts passierte und grinste breit. Das Programm hatte gestoppt, der Schwung war weg und es war ein Gefühl des totalen Stillstandes. Alle warteten darauf, dass es weiterging. Und eigentlich war das gestoppte Programm, die Zeit in der überhaupt nichts passierte, auch Programm. Faszinierend. Irgendwann begannen die Musiker auf der Bühne kurze Musikerwitze zu erzählen. Nicht immer Knallerwitze, aber als Publikum war man dankbar über alles, was von der Bühne kam und annähernd als Programm gelten konnte.
Natürlich gingen die Witze auch über Rainald. “Was ist 12-Ton-Musik?” – “Wenn Rainald versucht zwölfmal nacheinander den gleichen Ton zu singen.” Mit schnellen Schritten erschien dieser plötzlich auf der Bühne. “Und, habt ihr Spaß?”, fragte er beleidigt, lief zum DJ-Podest, an dem groß “OdV” prangte, und riss das V ab. “So, die Versöhnung ist gestrichen!” Ich riss die Augen leicht auf und dachte: “V. Wie Versöhnung. Ich weiß endlich, was das OdV bedeutet. Orchester der Versöhnung. Ist doch ganz einfach. Wieso hab ich das nicht vorher kapiert?” Leider hatte ich nämlich zu Beginn der Vorstellung grübelnd auf die Buchstaben geguckt und war einfach nicht drauf gekommen, was das heißen sollte. Im Nachhinein kam mir das ziemlich doof vor. Naja, zum Glück hat’s ja keiner gemerkt.
Wieder auf Tour zeigte die gleichförmige Unbeständigkeit der langen Tourneen und all das, was dabei auch mühsam sein konnte. Immer unterwegs, immer woanders und doch immer gleich. Sehr ernsthaft ruhig gesungen und sehr schön.
Gleich danach ging es weiter mit dem 20. Jahrhundert. Satz für Satz kam in meine Ohren, und ich fand zunächst keinen Zusammenhang. Aber dann wurde mir klar, dass es Geschichte WAR. Sätze aus Politik, Werbung und dem Alltagsgeschehen, die ich alle kannte, waren aneinandergereiht. Eine Stichwortsammlung des 20. Jahrhunderts. Es musste nichts weiter erklärt werden, jeder Satz hatte seinen eigenen Hintergrund und war mehr oder weniger wichtiges Zeitgeschehen.
Als Rainald auf seinen Kopf zeigte und hämmernd sang: “Ich hab das alles auf meinem Stick. Ich kann’s nicht löschen, ich werd verrückt”, machte es auch bei mir Klick. Das war es! Auch auf meiner Festplatte lagen diese Sätze und konnten nicht entfernt werden. Löschen ging nicht, die waren einfach immer da. Ich fand das plötzliche Erkennen, dass ich viele Daten nicht aus meinem Kopf bekommen kann, erschreckend. Und erst recht, dass es bei mir auch Daten gibt, die ich ganz sicher drin habe und die sich nicht mehr öffnen lassen.
Am Ende fiel Rainald völlig erschöpft von seinem Drehstuhl, stand stöhnend wieder auf und erzählte von seinem Burn Out im letzten Jahr. Dass er ärztlich verordnet nichts machen durfte, sich sofort in einem Hip-Hop-Kurs angemeldet hätte, dann aber nicht hingegangen wäre. Er durfte ja nicht. Genüsslich eine Zigarette rauchend, erzählte er dann von den kunstvoll verzierten sorbischen Ostereiern aus dem Gurkenwald der Sorbei. Das Publikum quietschte immer wieder vergnügt auf und hörte aufmerksam zu. Ich beobachtete fasziniert, wie er die Spannung halten konnte. “Und jetzt kommt’s …”, kündigte er an, und während die Zuschauer fast atemlos auf seine Erklärung warteten, zog er erstmal ganz in Ruhe an seiner Zigarette, ehe er weitersprach. Großartig.
Mit Holzspielzeug und Biofeuerwerk ging es beim Prenzlauer Berg weiter, der lustig, aber punktgenau treffend viele Einwohner des Stadtteils beschrieb. Familien, die sich schöne Altbauwohnungen leisten konnten, in Bioläden einkauften und die Kinder früh mit dem Fagott in die Musikschule schickten. Im Zwischenteil spielte Rainald auf quietschiger Blockflöte mit den Streichern, was sehr an pädagogisch wertvolle musikalische Früherziehung erinnerte. Sehr gelungen.
Weil ich es vorher noch nicht erwähnt habe: Die Lichtshow an diesem Abend war ebenfalls sehr gelungen. Mal volle Beleuchtung mit imposanten Lichtkegeln, mal kleine, sanfte Lichtinseln, sehr abwechslungsreich und immer zur Stimmung passend. Mir machte es richtig viel Freude die Bühne anzusehen. Das Auge hört mit. Und auch der Ton war super. Rainald war immer sehr gut zu verstehen, auch wenn Schlagzeug, Orgel und die Streicher volle Kanne mitmachten. Ein sehr ausgewogener Klang, der nicht sumpfig wurde und bei ganz leisen Stellen ebenso gut war wie bei der vollen Dröhnung.
Die Zusammenstellung des Orchesters fand ich auch sehr gelungen. Martin und Marcus waren schon als Kapelle toll, und besonders Buddy Casino an der Orgel gefiel mir in dieser musikalischen Zusammenstellung sehr. War Hammondorgel nicht schon lange out? Wenn ja, warum? So wie Buddy sie spielte, fand ich den Klang supergut. Das war kein wabbernder Alleinunterhalter- Klang, das jazzte, swingte und gab dynamische Wellen genau da, wo sie passten. Lag aber vermutlich nicht alleine an der Hammondorgel, sondern an den Fähigkeiten des Spielers.
Dass die Streicher, im Gegensatz zu den anderen Darstellern, früher eher im Orchestergraben oder unauffällig in einer dunklen Anzug-Ecke einer großen Orchestergruppe versteckt waren, merkte man ihnen an. Sie waren auffällig normal und hatten ein nur sehr gering entwickeltes Bühnensau-Gen. Meistens lachten sie schon kurz vor der Pointe vorfreudig los und konnten auch ansonsten oft nicht ernst bleiben, weil sie eigentlich mehr Zuschauer der Show als Darsteller waren. Sie saßen zwar zufällig mit auf der Bühne, weil sie hin und wieder Musik machen mussten, aber ansonsten hatten sie nicht viel mit den anderen zu tun. Gerade dieser Kontrast, diese karierthemdige Normalität mitten in der Show, machte es aber besonders schön.
Der DJ war nicht oft rauszuhören, auch wenn er deutlich sichtbar an seinen Plattentellern scratchte. Wobei ich da zugeben muss, dass ich Gescratche meistens als störend empfinde, weil das für mich unmusikalische Geräusche sind, die jemand im Rhythmus der Musik macht. Zu viel davon stört mich beim Musikhören. Von daher fand ich den DJ optisch klasse, es sah einfach nett aus, dass da jemand in weißer Uniform über der Bühne thronte und augenscheinlich was machte, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ihn auch deutlicher hören müsste. Mir reichte es, dass er hin und wieder durchkam und ansonsten passende Einspieler ablaufen ließ.
Als der erste Teil beendet und das Publikum in die Pause entlassen war, war ich schon sehr begeistert vom Programm. Der Gatte sagte grinsend: “Ist doch gut. Also mir gefällt’s!”, und das meinte er völlig ernst.
Der zweite Teil ging mit sanften, eingespielten Zeilen der Gruppe Silbermond los: “Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit”. Die diesmal unverschleierte Braut kam mit ihren Alphorn- Wasserrohren an den Bühnenrand gelaufen, trötete aber nicht, sondern ging gleich wieder ab. Hinter ihr erschienen langsam ein Mann mit Anzug und Pferdekopf und der vorherige Eingeborene, diesmal mit ungeschminktem Gesicht, schwarzen Kraushaaren und großen Engelsflügen.
Vor ihnen glitt schwerelos der rotgekleidete Buddy Casino auf seinem kleinen silbernen Roller die Bühne entlang und entschwand hinter dem DJ-Podest. Ganz wunderbar sein im Fahrtwind nach hinten wehender Schal. Zur selben Zeit überquerten drei Streicher die Bühne, um zu ihren Stühlen zu kommen. Buddy, der einmal um den Bühnenaufbau herumgefahren war, schwebte erneut vorne vorüber, und der Engel nahm das Pferd an die Hand und ging mit kleinen Schritten hinüber zur Musikerecke, wo er ihm seine Flügel umhängte. Es war ganz nahe am Kitsch, aber ich lächelte selig und fand es märchenhaft schön. Ein sanfter, bunter Traum, eine völlig irreale Szenerie. Silbermond sang von einer Welt, in der nichts sicher scheint, und die Welt auf der Bühne war nicht einzuordnen, gefiel mir aber sehr und ich hätte gerne länger hineingesehen. Ging aber nicht. Dabei war ich so neugierig, wie es dort weiterging.
Das Publikum klatschte am Ende der Szene gerührt, da kam Rainald Grebe in einem Schwall Bodennebel auf die Bühne geeilt und blieb in wahrlich königlicher Haltung stehen. Die Krone auf seinem Kopf wäre gar nicht nötig gewesen, um zu sehen, dass er selbstverständlich der König war und Huldigungen seines Volkes angemessen entgegennahm. Dazu passte auch das nächste Lied: Oben. Ein Lied über den Erfolg. Wie einfach und schön das Leben war, wenn man oben war, und wie leicht es einem gemacht wurde, wenn man es erstmal bis dahin geschafft hatte. Mit Sicherheit in einigen Bereichen selber von ihm erlebt. Oder wenigstens so ähnlich. Oder ansatzweise.
Wunderschöne Musik, witziger Text und sehr nachvollziehbar, auch wenn manche Zeilen vermutlich arrogant oder überheblich ausgelegt werden konnten. Aber schon dass Rainald Grebe so einen Text schrieb, zeigte, dass er sehr realistisch und bewusst mit Erfolg und allem, was damit zusammenhing, umgehen konnte. Ich fand es toll, wie er breit und zufrieden grinsend, zappelnd wie ein bestens gelauntes Kind den Erfolg genoss und sich – zumindest im Lied – von allen “normalen” Leuten unten freudig entfernte. Lieblingslied-Favorit.
Ein Aspekt einer Afrika-Reise wurde bei T.I.A. gezeigt. Ein Tourist (Rainald) trifft auf einen Einheimischen (Mgunga). Das nette Gespräch in einfachem, gebrochenem Englisch bekommt plötzlich eine aggressive Wendung, als der reichte Tourist sich weigert Geld für ein Andenken auszugeben. Zum Glück wartet auf ihn die Sicherheit seines abgeschirmten Hotelbereiches. Die Musik unterstützte den Wandel vom lässigen Afrika-Gefühl zur beklemmenden Gefahr und ich war sehr fasziniert, wie Rainald die Geschichte nur aus der Sicht des Touristen spielte. Eine komplette Kurzgeschichte in erzählter Liedform.
Ein bisschen peinlich war nur, dass ich schon wieder keine Ahnung hatte, was T.I.A. bedeuten sollte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich intellektuell überfordert war. “T.I.A. – This is Africa” sang Rainald Grebe, und ich grübelte, ob T.I.A. das Kürzel für einen afrikanischen Flughafen war. So wie JFK für den New Yorker Flughafen oder CGN für den Kölner. Erschien mir logisch und eigentlich auch sehr wahrscheinlich. Das war’s bestimmt. Leider schüttelte mein Gatte, als wir später darüber sprachen, aufseufzend den Kopf und erklärte mit langsamer Betonung (als wäre ich blöd!): “This is Africa. T, i, a.” Ähm, ja.
Mit sparsamer Musikbegleitung von Tuba, Ukulele und Schlagzeug kam der Diktator der Herzen und sang von seinem Leben. Ein lässiger, lächelnder, wenn nötig brutaler Herrscher schlenderte in selbstbewusster Haltung über die Bühne. Großartig. Schon die Hand in der Hosentasche war ein Detail, über das ich mich freute. Da stimmte alles. Mir fehlten nur noch die zehn langhaarigen, stark geschminkten Lieblings-Super-Frauen, die sich in knappen Uniformen und mit Maschinengewehren zu seinem Schutz neben ihm positionierten. Hätte inhaltlich und optisch gut gepasst.
Sehr gut fand ich in diesem Lied auch die perfekten Pausen, für die der Diktator mit knappen Gesten die Musiker stoppte. Es war mir völlig klar, dass Köpfe rollen würden, wenn nur ein Ton in die Pause klingen würde. Spannend.
Mike aus Cottbus über einen ostdeutschen Stripper war musikalisch mitreißend, die kurze Tanzeinlage bei Stroboskoplicht auch sehr witzig, aber das Lied hatte bei mir wenig Chancen auf den Titel des Lieblingsliedes. Vermutlich stand ich nicht so auf Stripper.
Auch das nächste Lied drehte sich um einen Mann und ich war zunächst unsicher, ob es mir gefiel. Es hieß Rolf und ging nicht nur um irgendeinen Rolf, sondern um den “fetten Rolf”. Fett – das war unangenehm und abwertend. Den Text empfand ich an einigen Stellen als hart und konnte nicht immer darüber lachen. Allerdings war die Musik wirklich wunderschön und hätte auch für ein wunderbares, herzergreifendes Liebeslied gepasst. Perfekt für die Streicher, die mit Hingabe dabei waren.
Musikalisch wurde ich also punktgenau im Schmelzzentrum getroffen. War ich beim Text einfach nur zu empfindlich? Was mir sehr gefiel war die ruhige, melancholische Art, mit der Rainald Grebe über Rolf sang. Da war der empfindsame Blick auf Außenseiter zu spüren und es gab kein hämisches Gelächter über den viel zu dicken Menschen, sondern eher ein fast liebevolles Betrachten der eigentlich aussichtslosen Situation. Rolf war einsam und würde einsam bleiben. Also war es eigentlich doch fast schon ein Liebeslied. Mir wurde klar, dass ich es musikalisch sehr mochte und auch sonst sehr berührt davon war, weil es – trotz lustiger Textzeilen – so ernst gesungen wurde, auch wenn ich einige Textstellen nicht so schön fand. Trotzdem ein wunderschönes Lied.
Die dicke Bass-Balalaika begleitete beim aktuellen Lied “über arme Bundesländer”, bei dem Rainald vorher sagte, er sei sicher, es wäre das letzte der Serie. Es ging über Sachsen-Anhalt, und der große Lacher war das Schild “Willkommen im Land der Frühaufsteher”, das dort tatsächlich an der Autobahn aufgestellt ist. Rainald sang: “Und während man noch denkt “Hääh?”, ist man schon durchgefahren”, was genau meinem eigenen Eindruck entsprach. Zumindest das “Hääh?” war exakt das, was ich auf der Autobahn beim Betrachten des Schildes gedacht hatte.
Trotz der freundlichen Aufforderung von Rainald Grebe fanden sich keine Zuschauer, die zum nachgestellten Handtaschentanz im Haus der Kulturen der Welt auf die Bühne kommen wollten. Dabei meinte Rainald das durchaus ernst, aber an diesem Abend traute sich keiner oder alle dachten, er mache nur Spaß. Er wollte demonstrieren, wie er bei einer Veranstaltung Frauen mit unter den Arm geklemmten Handtaschen tanzen gesehen hatte. “Innig tanzen und trotzdem auf seine Wertsachen aufpassen” nannte er es und hatte einen Haufen diverser Handtaschen mitgebracht. Die klemmten sich dann er und seine Musiker unter die Arme und tanzten innig. Sehr schön anzusehen, auch wenn es kein richtiges Ende der Nummer gab, sondern einfach abgebrochen wurde.
Wunderschön das Lied Lonely Planet. Der Gatte, der bis dahin schon erstaunlich interessiert dabei war, lächelte entspannt und mehr als zufrieden. Wir stehen beide auf Lieder mit sparsamer musikalischer Begleitung, die wenige Akzente haben und damit umso stärker wirken. Hier war alles wunderbar. Ein wenig Gitarre, hin und wieder Paukenschläge oder dieses Ding am Schlagzeug mit den silbernen Metallröhren, an dem so entlanggeklimpert wird und bei dem ich nie weiß, wie es heißt, dazu sparsame, aber ganz genau gesetzte Tonfolgen vom Keyboard (oder war es die Orgel?). Alles blieb zart und sanft. Perfekt.
Rainald stand alleine und fast bewegungslos vorne am Bühnenrand, sang mit ruhiger Stimme und sah ganz einsam im großen, weiten All aus. Über ihm liefen die Lichterketten wie kleine Milchstraßen zusammen. Hach, da konnte ich nur gerührt und sentimental aufseufzen.
Damit das Publikum nicht zu lange gerührt blieb, erzählte Rainald danach von der Tourplanung, allerdings nicht immer ganz glaubhaft. Würde ich jetzt mal so vermuten. Dass es Nightliner für die Fahrten geben würde, war noch ganz nachvollziehbar, aber dass jeder der Musiker einen eigenen zum Selberfahren bekommen würde, weil es für die Fahrer nicht mehr gereicht hätte, erschien mir dann schon fraglich.
Mit Letzter Tag gab es dann einen weiteren, ganz heißen Favoriten für mein Lieblingslied des Abends. Was passiert, wenn plötzlich ein Brief im Briefkasten liegt, auf dem steht: “Morgen ist dein letzter Tag!”? Von hektischen Überlegungen, was man noch schaffen will, ehe es zu Ende ist, was man unbedingt noch erledigen muss – oder sollte man nicht lieber etwas ganz Spektakuläres zum Abschluss machen, oder eine dicke Abschiedsparty, oder einfach nichts und dem Sonnenuntergang zusehen? Der Wechsel der Gefühle, das erste Entsetzen, die Hilflosigkeit und dann die Wut über so eine anonyme Ankündigung waren eindringlich umgesetzt.
Als Zugaben gab es Der Präsident, wie immer mit Rainald grandios am Bass mit schätzungsweise zwei wechselnden Tönen, und dann Brandenburg, bei dem der Cellist kräftig eingesetzt wurde. Wie heißt die Tätigkeit des Cellisten? Er geigt nicht, aber fiedeln ist auch das falsche Wort. Er streicht, aber das hört sich nach der Berufsgruppe der Maler- und Lackierer an. Auf jeden Fall gab er mit dem warmen, ruhigen Celloklang einen sehr schönen und neuen Klang. Gefiel mir sehr und passte schön zum ruhigen Teil des Liedes.
Beim Landleben war wieder die Sehnsucht zu spüren nach Ruhe, Abgeschiedenheit und heiler Welt, aber gleichzeitig wurde auch deutlich aufgezeigt, dass die aufs Land Gezogenen dort meistens suchten, was nicht zu finden war. “Auf dem Dorf kennt Kultur keine Grenzen – leider” Auch hier gab es wieder einen wunderschönen Refrain, der im Ohr blieb. Ganz am Ende des Abends dann noch das ruhige Schlaflied Es ist gut, das von sanften Geigen begleitet wurde, die sich manchmal leicht schräg anhörten, aber mir gerade darum besonders gefielen.
Es gab viel Applaus für das lange, sehr abwechslungsreiche und schöne Programm. Mir hatte es sehr gut gefallen und ich wusste, dass ich einige wunderbaren Refrains in den Ohren behalten würde.
Ob dem Gatten alle Sachen komplett gefallen haben, wollte ich nicht nachfragen, ich muss sein aufkeimendes Interesse und seine unerwartet positive Grundeinstellung ja nicht überstrapazieren. Aber er sprach danach sehr erfreut über einige der Lieder und war komplett gut gelaunt. Und es gab nicht die winzigste Anmerkung über meinen “seltsamen Humor”. Stattdessen zitiert er seitdem gerne Sätze aus dem Programm oder summt sogar Refrainzeilen. Nicht nur die Programme von Rainald Grebe stecken voller Überraschungen.