WG Konzertberichte

Wise Guys – 22.02.2006 – Totalnacht – Köln … sehr lang, aber gefühlt ganz kurz

VORVERKAUF.

Am 26. November 2005, einem Samstag, startete der telefonische Vorverkauf für die Totalnacht. Um Wise Guys Karten per Telefon zu erhalten, brauchte man ziemlich viel Glück, denn das Kontingent war blitzschnell verkauft. Der Termin war ungünstig gelegt, denn viele Fans, die unbedingt zur Totalnacht kommen wollten, befanden sich gerade auf der Anfahrt zur Wise Guys Spezialnacht nach Kiel, zu der sie ebenfalls unbedingt kommen wollten. Ungewöhnlich häufig wurden darum auf den Autobahnen Richtung Norden gegen 9 Uhr Raststätten und Parkplätze aufgesucht, um dort zum Handy zu greifen. Nach meist mehreren Versuchen wurde etwas später glücklos und genervt weitergefahren oder jubelnd aus dem Auto gesprungen und der Boden geküsst.

Zur zweiten Chance brauchte man kein Telefon, dafür Zeit, eine warme Jacke und Geduld, denn am 14. Januar 2006 gab es den Büroverkauf in Köln. Schon Stunden vorher stellten sich die ersten Fans vor der Türe an, und zur Frühstückszeit reichte die disziplinierte Schlange schon um die nächste Ecke. Es war kalt, aber die Chance groß, dass die eingefangene Erkältung bis zur Totalnacht wieder auskuriert sein würde. 

Etwa eine Stunde vor Verkaufsbeginn kamen Sari, Ferenc und Dän, um die Wartenden mit frischem Kaffee und Tee zu versorgen und gleichzeitig moralisch zu stärken. Das Büroteam kochte unentwegt Kanne um Kanne, und die drei Wise Guys, unterstützt von meinem Gatten, der mit einem Korb voll Becher, Löffel, Zucker, Milch und Süßigkeiten dabei war, liefen die lange Schlange der frierenden Anstehenden ab und verteilten unentwegt Pappbecher, gute Worte und heiße Getränke.

Kurz vor 9 Uhr, die Wartenden packten schon ihre Decken und Stühle zusammen und rückten enger auf, bereiteten sich Ferenc und Sari auf den Verkauf vor. Tisch vor die Türe rücken, Karten nochmal durchzählen, wer nimmt das Geld an, wer führt die Strichliste über die ermäßigten Karten, was kosten die eigentlich, wie spät ist es? Schon neun? Dann los!

Während im vorderen Bereich der Warteschlange die Vorfreude und dann die breit grinsende „Ich-hab-welche!“-Sicherheit um sich griff, gab es am Ende der Schlange zunehmend besorgte Gesichter. Es standen so viele Leute an – würden die Karten überhaupt reichen? – Nein, würden sie nicht. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich plötzlich beim Rest der Wartenden die Nachricht, dass soeben die letzten Karten über den Tisch gewandert waren. Das löste Entsetzten, traurige Blicke und manchmal sogar Tränen aus. Allerdings muss ich sagen, dass das nur die Leute betraf, die wirklich nicht sehr lange gewartet hatten und risikobereit spät vor dem Büro erschienen waren. Schade war es natürlich trotzdem für sie.

Dän, Sari, Ferenc und der inzwischen noch aufgetauchte Clemens trösteten mit guten Worten und den restlichen Süßigkeiten, und der Vorverkauf war vorbei. Aber wie immer gab es bis unmittelbar vor der Totalnacht noch bei Ebay und über das Gästebuch und Forum Karten zum Normalpreis zu kaufen, so dass es auch in den Wochen danach noch weitere glückliche Kartenbesitzer gab, beziehungsweise auch einige unglückliche Zwangsverkäufer, die dann doch unerwartet arbeiten mussten oder ohne den erkrankten Partner nicht im Konzert sitzen wollten.


DIE TOTALNACHT

Die Wartenden vor der Stadthalle in Köln-Mülheim stöhnten und rieben sich die kalten Finger, als sie dort stundenlang in einer zusehends länger werdenden Schlange anstanden. Dreieinhalb Stunden vor Einlass reichte sie schon um die erste Ecke des Gebäudes und ich weiß nicht, wo sie kurz vor Beginn des Einlasses endete. Vermutlich weit draußen im Park. Auffällig war die gute Laune, die große Geduld und die nette Stimmung, die bei allem Frieren und Rumstehen überwog und das Warten dann doch nicht ganz so unangenehm machte.

Währenddessen fand am Nachmittag in der Halle der Soundcheck statt. Vor vielen leeren Stühlen testeten die Wise Guys zuerst einzeln, dann zusammen die Monitore durch und stellten mit den Tontechnikern den Sound im Saal ein. Bodo Wartke, der sein Lied ‘Monica’ mit den Wise Guys zusammen singen wollte, war auch schon eingetroffen und stellte sich dazu, um auch noch dieses Lied anzusingen. Als die meisten Lieder nochmal kurz angesungen waren und der Soundcheck gerade beendet war, war auch schon Zeit, den Einlass beginnen zu lassen.

Der ging in diesem Jahr gruppenweise vor sich, um Chaos und Gedränge im Foyer zu vermeiden. Es ging an ungewöhnlich netten Securityleuten vorbei, die nicht grimmig durch dunkle Sonnenbrillen guckten, sondern lächeln konnten, Haare auf dem Kopf hatten und sich ihrerseits sehr über das ruhige, freundliche Verhalten der Fans freuten. Da vor dem Betreten des Saales alle Jacken und größeren Taschen an der Garderobe abgegeben werden mussten, ließen die Einlasser immer nur so viele Leute rein, wie an der Garderobe zügig, aber drängelfrei abgearbeitet werden konnten. In der Reihenfolge des Anstehens kam man stressfrei und kampflos rein, ging an der Garderobe vorbei, um die Jacke abzugeben und betrat danach in Ruhe den Saal. Wer lange angestanden hatte, konnte sich dementsprechend einen der vorderen Plätze aussuchen. Das war sehr angenehm und vor allem fair. Der Schwachpunkt im System waren die vier Garderobefrauen, die zwar schnell arbeiteten, aber wie in den letzten Jahren personell unterbesetzt für die tausend Jacken und Taschen waren. Es dauerte, und die Security hob bedauernd die Schultern und sagte: „Wir können die Leute nicht schneller reinlassen, wenn sie sich dann vor der Garderobe stauen.“

Der Saal füllte sich stetig, aber um 18:50 Uhr stand die Schlange der Anstehenden immer noch bis um die erste Gebäudeecke herum und es war klar, dass das Konzert nicht pünktlich beginnen konnte. Die Wise Guys sangen sich im Backstagebereich ein und Bodo Wartke machte gleich mit, obwohl er erst im zweiten Block dran war und die Zeit bis dahin im Saal verbringen wollte. Aber egal, einsingen konnte nie schaden. Vielleicht wollte er auch als Zuschauer kräftig bei den Refrains einsteigen.

Es war 19 Uhr und im Saal begannen die ersten auffordernden Klatschrunden, weil dort nicht klar war, dass immer noch Leute vor der Garderobe standen und auf die Annahme ihrer Jacken warteten. Es wäre blöde gewesen, das Konzert pünktlich zu starten, denn die letzten Besucher, die ja nichts für die Verzögerung konnten, wären erst während der ersten Lieder in den Saal gekommen, hätten im Dunkeln nach Plätzen suchen müssen, dabei zwangsläufig für Unruhe gesorgt und auch noch den Konzertanfang verpasst. Kurzentschlossen entschieden die Wise Guys, mit dem Beginn der Show zu warten, bis sich die Lage entspannt hatte. Allerdings bedeutete das auch, dass nachher die schon kurzen Pausen gekürzt werden mussten, um die Zeit wieder einzuholen, denn um 1 Uhr sollte definitiv Schluss sein.

Um es schnell mal einzuschieben: Ferenc’ Haare waren seit dem ‚Kurz- wollt- ich- schon- immer- mal- machen- Experiment“ im Januar wieder etwas nachgewachsen und ich zuckte kein bisschen zusammen, wenn ich ihn ansah. Was fünf Millimeter Haarlänge für Auswirkungen haben können! Es sah nicht mehr kahl, sondern nur noch kurz aus. Und ich sah das nicht mit persönlichen, sondern mit gestalterischen Augen. Zwei Millimeter mehr konnten es von mir aus noch sein, aber ich wollte nicht kleinlich sein. Hauptsache, überhaupt wieder eine Art von Frisur auf dem Kopf.

Es war 19:10 Uhr. Bodo Wartke hatte sich zu seinem Platz im Saal begeben, der strategisch günstig am Mittelgang lag, um später schnell hinter die Bühne zu kommen, und die Wise Guys standen startbereit unmittelbar neben der Bühnentür. Mit zehn Minuten Verspätung konnte endlich der kurze Einspieler vor Beginn der Konzerte starten. Als danach noch das Saallicht aus ging, brach beim Publikum ein großer Jubel aus.


BLOCK 1 – KLARTEXT

Unter tosendem Applaus betrat Eddi alleine die Bühne und ging gemächlich an den vorderen Bühnenrand, wo er stehenblieb, lächelnd in den Saal blickte und abwartete. Er stand dabei in einem Spotscheinwerfer, der den Rest der Bühne im Dunkeln ließ und ihn einsam und klein aussehen ließ. Es dauerte ziemlich lange, bis sich im Publikum plötzlich die Erkenntnis durchsetzte, dass das Programm erst beginnen würde, wenn der Begrüßungsapplaus aufgehört hatte. Ziemlich schnell wurde es darum ruhig, und folgerichtig sang Eddi sofort mit den Opener A los: „Wenn ich ganz allein auf dieser Bühne wär …“ Da stockte er allerdings, denn vor ihm huschten schnell noch Besucher durch den Gang zu ihren Plätzen und mit der Einsamkeit war es vorbei. Er lachte kurz, das fröhliche, leicht aufgedrehte Publikum lachte sofort mit, dann sang er weiter.

Als er Sari ankündigte, zeigte er mit ausholendem Arm zur Seite und unter dem Jubel der Zuschauer sprang dieser zu ihm in den Scheinwerferkreis. Das Geschrei und der Applaus waren so gewaltig, dass Eddi den Scheinwerferkreis kurz verließ, um Sari alleine bejubeln zu lassen. Das hatte der auch verdient, denn schließlich war es bis zum Vorabend nicht sicher gewesen, ob das Konzert stattfinden konnte, weil Sari so krank gewesen war, dass einige Tage vorher noch ein anderes Konzert abgesagt werden musste.

Genau genommen hätte aber sein HNO-Arzt dort stehen und sich bejubeln lassen müssen, oder der Vertreter eines Pharmakonzernes, aber so genau nahm das an diesem Abend niemand. Vermutlich hätten die Fans dann auch nicht so laut gejubelt, sondern verärgert gedacht: „Wer ist das denn?“ Dass auch Eddi eigentlich krank war und Clemens und Ferenc sich ebenfalls nicht ganz wohl fühlten, wurde der Öffentlichkeit verschwiegen, ansonsten wäre der Jubel für jeden wohl zu lang geworden. Außerdem weiß ich nicht, ob Dän als einziger quietschgesund war oder ich nur nichts von seinen Beschwerden erfuhr.

Nach 30 Sekunden lautem Applaus – und gefühlt waren das mindestens 2 Minuten – zeigte Sari nachdrücklich auf seine Armbanduhr und auch Eddi klopfe vorwurfsvoll auf seine. Das klappte, der Applaus erstarb und es konnte weiter gehen. Doch kaum waren sie an der Stelle „albernes Gesicht“ und guckten sich blöd an, rief eine Stimme aus dem Publikum: „Weiter so!“ und brachte Sari lachend aus der Fassung. Jubelnd setzte das Publikum wieder mit seinen lauten Freudenbekundungen ein, und ich befürchtete schon, der Opener könnte mit diesen Unterbrechungen den ganzen ersten Block ausfüllen. Sehr geschickt sangen Eddi und Sari dann aber mitten im Geschrei und Geklatsche weiter, so dass die Zuschauer sofort mit dem Krach aufhörten, um etwas zu verstehen.

Zwei Zeilen später wurde Clemens angekündigt, betrat strahlend den Scheinwerferkreis und der laute Jubel ging erneut los. Sari und Eddi gingen erstmal ins Dunkel ab, ließen ihren Kollegen beklatschen und kamen kurz darauf wieder. Sie tippten auf ihre Uhren, holten tief Luft und sangen dann einfach mit Clemens zusammen wieder los. Es blieb im Saal ruhig – bis Ferenc ankam. Gleiches Spiel, nur dass diesmal der Bühnenspot erlosch und dafür die ersten Scheinwerfer angingen, um die komplette Szene zu beleuchten. Ferenc setzte irgendwann im Gejubel mit seinen ersten Basstönen ein und sie sangen zu viert weiter.

Als in der letzten Strophe Dän auf die Bühne kam, ging ein noch gewaltigerer Jubel los, weil damit die Gruppe komplett war und die eigentliche Show begann. Der ganze Aufwand mit Karten, Anreise und Anstellen hatte sich gelohnt, man war dabei! Die Totalnacht! Die Freude und Erleichterung im Publikum machte sich in lautem Klatschen Luft, und für die gute Stimmung in dieser langen Nacht musste von Seiten der Darsteller her nicht mehr gesorgt werden.

Übergangslos ging es in den Opener B, bei dem es während der Strophen tatsächlich ruhig im Saal blieb, weil alle den Text hören wollten. Dafür explodierte das Gejubel noch im Endton und blieb auch, als Dän nach einem Schluck Wasser wieder nach vorne kam und etwas sagen wollte: „Guten Abend. Hallo. Hi. Stopp! Vielen Dank! Reicht! Dankeschön!“, versuchte er beständig redend den Applaus und das Geschrei zu stoppen. Endlich kam er durch: „Herzlichen willkommen zur fünften Wise Guys Totalnacht.“

Er wies sofort darauf hin, dass alle ihre Kräfte an diesem Abend einteilen müssten. „Es ist lang – für alle. Wir werden den vierten Block wieder so einrichten, dass man dann auch winken kann, statt klatschen“, und er machte schlappe Winkbewegungen vor. Das Publikum lachte und er grinste: „Ihr lacht jetzt noch“, wurde gespielt ernst: „Ja – wir auch.“ Er fuhr fort: „Wir möchten heute Abend 70 Songs singen, also jetzt noch 68 …,“ dann stutzte er und blickte zu Eddi: „Das war EINER, oder? Das zählt als EINER? Das waren doch zwei Teile, oder?“ Eddi hob hilflos entschuldigend die Arme und Dän bekräftigte: „Das war EINER. Also jetzt noch 69.“

Für das Publikum ebenso informativ wie für die Wise Guys gab es eine kleine Statistik. Die Totalnacht war 1998 gestartet worden, um in EINER Nacht ALLE Stücke aus dem Repertoire zu singen. Das war inzwischen nicht mehr möglich, denn in den 11 Jahren, die es die Wise Guys gab, war das Repertoire auf 184 Songs angewachsen. Von denen waren nur 34 komplett gecovert und bei 13 war entweder beim Text oder bei der Melodie etwas Bestehendes übernommen worden. Blieben 137 selbst geschriebene Songs, was rein rechnerisch bedeutete, dass alle vier Wochen ein neuer Song gemacht worden war. Es gab 30 Songs mit dem Buchstaben W am Anfang und keinen mit Q, U, X und Y. Die Hauptstimme hatte Ferenc in dieser Zeit bei 11 Liedern gesungen, Clemens bei 25, Sari bei 31, Dän bei 45 und der Eddi bei 51. Kaum war der Jubel des Publikums über diese Zahlen verklungen, setzte Dän hinterher: „Von den 11 Songs, die der Ferenc gesungen hat, sind 6 nie auf CD erschienen“, was großes Gelächter nicht nur im Saal, sondern auch auf der Bühne auslöste.

„Aber, um einen ganz mutigen Übergang in den nächsten Song zu bekommen“, fuhr Dän grinsend fort: „Hauptsache, man ist dabei. Oder Dabeisein ist alles.“ Sofort ging es mit Du bist dabei los. Die Leadstimme hatte Eddi, rechts auf der Bühne standen als Backgroundgruppe Clemens, Sari und Dän, die wichtige Formationstanzeinlagen hatten. Mit denen waren sie allerdings nach der langen Zeit, die das Stück schon aus dem Programm war, etwas überfordert. Schon bei der Stelle mit dem „Wohnmobil“ stellten sich nur Eddi und Ferenc zusammen und fuhren im Kleinbus, während die Rücksitze frei blieben, weil die drei anderen die Abfahrt verpennt hatten. Ich vermutete, dass sie sich mental auf die große Tanzszene vorbereiteten, die wirklich alles an Konzentration erforderte und von der sie wohl ahnten, dass sie sie versemmeln würden.

Aber zuerst ging es noch ganz gut. Abgesehen davon, dass nicht ganz klar war, mit welchem Fuß es zur ersten Drehung losgehen musste, drehten sich Dän, Sari und Clemens fast vorbildlich langsam im Kreis, hoben dann eher weniger als mehr synchron die Arme und wackelten unter den begeisterten Aufschreien des Publikums mit den Hintern kurz von rechts nach links. Danach wurden sie unbefangener und es wurde ihnen egal, ob gerade das linke oder rechte Bein dran war. Eddi sprang hinzu und machte für Clemens die Bewegung demonstrativ mit dem anderen Bein vor, was diesen nur blöd gucken ließ. Erst als er danach sah, dass seine Kollegen anders tanzten als er, versuchte er, bei ihnen wieder einzusteigen.

Dementsprechend daneben sah dann auch das Ergebnis der nächsten Tanzeinlage aus, als die drei nicht mal wussten, ob es hin und her oder im Kreis gehen musste. Der eine machte das, wechselte dann zum Schritt des Nachbarn über, der den gerade verunsichert aufhörte. So kam es zu Situationen, dass einer sich im Kreis drehte, der andere mit dem Gesicht nach rechts stand und genau auf sein Gegenüber blickte, das seitenverkehrt stand und ihm auf die Füße blickte. Sehr witzig und für das Publikum ein großer Spaß. „Wir hätten die Sachen doch bis zum Ende proben sollen“, stellte Dän anschließend mit Blick zu seinen Kollegen fest.

Das Konzert war in 5 Blöcke á 14 Lieder unterteilt. Da es etwas später begonnen hatte, war der Zeitplan, der pro Block eine Stunde und pro Pause 15 Minuten vorgesehen hatte, etwas aus der Schiene gesprungen. „Wir müssen um Eins eigentlich theoretisch fertig sein, aber …“, begann Dän überlegend und setzte dann zuversichtlich hinterher: „… wird schon klappen.“ Er erklärte, dass die Blöcke inhaltlich etwas sortiert seien und der erste etwas mit ‚Klartext‘ zu tun hätte. „Es ist die erste Wise Guys Totalnacht am heutigen Abend, wo …“ er stockte und korrigierte sich: „IN DER. Das war jetzt schwäbisch.“ Er versuchte es erneut: „Das ist die erste Wise Guys Totalnacht, in der keiner …“ Ein lauter Zwischenruf unterbrach ihn: „IN DER WO!“ Lautes Gelächter im Publikum, ein paar aufgedrehte Schreie und eine ernste Miene von Dän, der sofort mäkelte: „Wenn ihr jetzt auch noch versucht, zwischendurch mal witzig zu sein, kommen wir hier gar nicht durch.“ Peng! Das war witzig, aber saß trotzdem. Endlich brachte er seinen Satz ans Ende: „… in der keiner von uns kinderlos ist.“ Ein leichtes Raunen zog durch den Saal, denn da war Kinder ja ziemlich sicher zu erwarten.

Das bei vielen Zeilen einsetzende Gelächter zeigte, dass zumindest die Bühnenaktivitäten während des Liedes für einige Zuschauer neu waren. Das war ja das Tolle an den Totalnächten: Es gab für fast jeden Besucher Lieder und Choreographien zu sehen, die er vorher noch nicht live auf der Bühne erlebt hatte.

Dän kam nach dem Applaus nach vorne und sagte freundlich: „Ein kurzer Hinweis an die Lichtregie: Wir brauchen gleich Saallicht. JETZT!“ Die Zuschauerbefragung war dran.

Es gab tatsächlich wieder einige Leute, die die Wise Guys an diesem Abend zum ersten Mal live sahen. „Respekt“, grinste Dän. „Dann aber auch direkt sechs Stunden!“ Nicht zum ersten Mal bei einem Wise Guys Konzert, aber zum ersten Mal bei einer Totalnacht waren sehr viele Besucher. „Boah!“ staunten auch die Zuschauer im Saal hörbar, als so viele Hände hoch gingen. „Wer war schon EIN MAL bei einer Totalnacht?“ war Däns Frage, auf die auch viele Hände hoch gingen. Die sanken aber zunehmend herunter, als Dän fragte: „Zwei Mal? Drei Mal? …“ und nur sehr wenige blieben oben, als er nach den Besuchern aller fünf Totalnächte fragte. Aber auch die gab es.

Mehr als 200 Kilometer extra zum Konzertbesuch waren ziemlich viele Leute gefahren, mehr als sonst bei „normalen“ Konzerten üblich. Kein Wunder. Fast erschrocken drehte sich Dän zu seinen Kollegen: „Gut, dass es stattfindet! Oh, Mann!“ Von ganz hinten meldete sich jemand, der mehr als 800 km angereist war. „Von wo?“ fragte Dän und erhielt als Antwort: „Bayern!“ Dän sagte: „Aus Bayern über 800? Paarmal verfahren, oder was?“ Er drehte sich zu den anderen um und fragte: „Genug?“ und gab auch gleich das Kommando: „Licht aus! Keine Zeit zu verlieren.“

Als das nächste Lied begann, Dän hatte es nur schnell als „im Moment eigentlich überhaupt nicht lustig“ anmoderiert, gab es sofort bei den ersten Tönen begeistertes Aufjubeln. Deutscher Meister ließ einige Fans schnell nach den mitgebrachten FC-Schals kramen, und während man die ersten beiden Zeilen im lauten Freudenjubel nicht hören konnten, setzte ab der dritten Zeile fast der gesamte Saal singend mit ein. Ein wunderbar großer Chor, der hauptsächlich aus Mädchenstimmen bestand, was ihn in der Textaussage etwas unglaubwürdiger, aber doch sehr angenehm wirken ließ. Womit ich nicht behaupten will, dass sich Frauen nicht für Fußball interessieren. Der Gesang war aber auf jeden Fall viel netter als von halbstarken männlichen Fußballfans in der Südkurve gegrölt, würde ich behaupten.

Bei der Textstelle von „Calmund wiegt jetzt nur noch zweihundertsechzig Pfund“, ging Dän wie immer zu Ferenc, blickte aber nicht wie sonst in die Ferne, sondern mit großen, anerkennenden Augen auf den in den letzten Monaten schmal gehungerten Kollegen und musste beim Singen lachen, während Ferenc ihn triumphierend ansah. Sehr schön! Im letzten Refrain sangen alle Zuschauer mit und schwenkten die Arme von rechts nach links, so dass der Blick in den Saal an eine der großen Karnevalssitzungen erinnerte, allerdings mit ungewöhnlich ausgelassener Stimmung. Riesiger Jubel danach, der den Wise Guys Zeit ließ, in Ruhe an die seitlichen Tische zu gehen und Wasser zu trinken.

Das nächste Lied kündigte Dän als älteres Werk an, eines der Protestlieder, das sie auch häufig auf Demonstrationen gesungen hätten und für das sie nie die Genehmigung bekommen hatten, es auf CD aufzunehmen. Griechischer Wein begann, und die Kenner jubelten auf. Ganz aktuell war das Thema nicht mehr, denn es ging um das Ende der D-Mark, die gegen den Euro getauscht werden sollte.

Die griechische Tanzeinlage wurde spontan um eine russischen Variante angereichert, und die mit den Fingern in den eigenen Mündern gerührten Bouzoukis brachten laute Lacher vom Publikum. Besonders als Sari seinen besabberten Finger am Ende des Liedes mit angewiderter Miene am Hemd von Eddi abstrich.  

Sofort ging es mit den Sonnencremeküssen weiter, zum Glück vom Publikum nur sehr leise begleitet, denn immer sind volle Mädchenchöre dann auch nicht das, was man bei der Totalnacht hören möchte. Dän sang von der Fremdsprache, die er jetzt besser könnte, wenn er in der Schule besser aufgepasst hätte und warf erklärend: „Latein“ hinterher, was wieder einen Lacher brachte.

Ansonsten sehr schön, ruhebringend und entspannend. Gut, dass auf einer Totalnacht nicht alles umjubelt werden musste, sondern dass auch mal vorwiegend zugehört werden konnte. „Das nächste Lied passt inhaltlich dermaßen zum heutigen Abend, dass es eigentlich blöd ist, es überhaupt zu erwähnen“, sagte Dän und fuhr fort: „Aber ich bin mir bekanntlich für nichts zu schade. Das Lied heißt: Wie die Zeit vergeht.“
Der Background hatte sichtlich Spaß daran, die synchronen Klavierläufe darzustellen, und Clemens erntete einen schallenden Lacher mit seiner singenden Behauptung, er wäre „noch nicht mal Ende 20“, bei der er aber wegen ihrer offensichtlichen textlichen Falschaussage schon die Hand verzweifelt über die Augen gelegt hatte, als würde er denken: „Oh je, was sing ich hier?“

Die meisten Besucher wussten nicht oder nicht mehr, dass es noch eine ganz kurze Zugabe nach der letzten Zeile gab und klatschten in die beiden Endtakte schon rein. Nachdem der Applaus beendet war, sagte Dän: „Das waren noch Liedschlüsse damals“, sang die letzten Töne: „Dideli-dideli-di. Tsching. Tsching. Bum“, und fragte kopfschüttelnd: „Was ist bloß aus uns geworden?“

Mit Du Doof ging es weiter, und noch vor dem ersten Ton bekam Eddi Extraapplaus für sein blödes Gesicht. Dabei sang die Leadstimme doch der Sari.

Am Ende gab es Jubel für alle, und es ging sofort mit Die Bahn kommt weiter. Das war für viele Besucher eine freudige Überraschung, denn das Lied war bei vielen Fans beliebt, die es jetzt endlich mal live sehen konnten. Die Atmosphäre in der Halle wurde gleich ruhiger und sentimental. Vom breiten Grinsen bei Du Doof zu gerührtem Lächeln und ganz leisem Mitsingen bei der Bahn. Schön.

Mit Denglisch wurde ein Lied gesungen, das erst auf die neue CD im Mai kam. Da es allerdings schon seit dem letzten Sommer bekannt war, war es textlich und musikalisch für die meisten Zuschauer keine Überraschung und wurde auch in der Choreographie von den Wise Guys sicher gebracht. Das Publikum klatschte im Refrain vorbildlich auf die 2 und die 4.

Dän stellte das nächste Lied als eine eineinhalb Jahre währende Standard-Ballade vor, die viele Leute in ihrem Leben schon so ähnlich erlebt hatten, also einen Menschen kannten, mit dem sie gerne mal etwas mehr zu tun gehabt hätten, das aber nie auf die Reihe gekriegt hätten. Ich dachte, dass es davon wahrscheinlich in diesem Moment eine Menge Menschen im Publikum geben würde, die gerade auf die Bühne guckten und ganz genau wussten, wer damit in ihrem Fall gemeint wäre. Aber vermutlich dachte Dän nicht so weit.

Das wär’s gewesen mit Clemens als Leadsänger zog wunderschön durch den Raum und machte sentimental. Und es war so ernsthaft und schön, dass bei der Textstelle „Sack und Besen“ gar nicht laut gelacht wurde. Im Gegenteil, es wurde immer stiller im Saal, und die kurzen Gesangspausen, in denen es für einen Moment ruhig war, waren wirklich ohne jedes Geräusch.

Noch während des Applauses stimmte Sari den neuen Ton an, die Wise Guys stellten sich auf, und nur Dän kam etwas verwirrt nach vorne, warf erst einen Blick auf das Handmikro, das er hielt, und dann auf den auf dem Boden liegenden Ablaufzettel und fragte: „Sprechen wir von demselben Lied?“ Kaum hatte er den Titel gelesen, begann er aber sofort mit dem Rhythmus, und das Publikum erkannte King of the road und setzte im Text gleichzeitig mit Ferenc ein. Der musste etwas später mal kurz lachen, als aus dem Background ein ungeplantes, jammerndes Begleitstimmchen ertönte. Den Reim auf „Das Auto ist die Waffe des kleine Manns“ ließ er das Publikum alleine singen. Das reagierte richtig und laut nach: „Je größer der Wagen, desto kleiner …“ mit: „… das Ego!“ Am Ende blieb Ferenc im hellen Scheinwerferspot stehen und wurde laut umjubelt, ging dann aber recht schnell ab.

Fast sofort startete das Intro für Nur für dich. Ein Intro-Durchlauf war im Konzept vorgesehen, bis Clemens von hinten bis an den vorderen Bühnenrand geschlurft war und mit seiner Leadstimme einsetzen sollte. Inzwischen nahm er sich bei Konzerten manchmal auch zwei Durchläufe lang Zeit, aber das war zu toppen. Eigentlich hätte es bei der Totalnacht schnell gehen können, denn er stand von Anfang an vorne auf der Bühne und hätte gleich lossingen können. Während des ersten Durchganges zog er sich aber die Jacke an und schloss den Reißverschluss. Als der zweite Durchlauf begann, ging er zum seitlichen Tisch, nahm ein Glas Wasser und goss es sich unter dem Aufschrei der Zuschauer über den Kopf. Während des dritten Intro-Durchlaufes streifte er ziemlich viel Wasser aus seinen Haaren, die er dabei platt an den Kopf klebte, womit er gleichzeitig aber auch sein Kopfbügelmikro durchnässte, das mitten in diesem Mini-Wasserfall hing. Er schüttelte es aus, was Dän und Ferenc, die ihn beobachteten, kurz aus der Fassung brachte, setzte es erneut auf, drückte die Haare platt, forderte gleichzeitig mit kreisenden Handbewegungen seine Kollegen zum Weitersingen auf und wischte sich dann mit der Hand das immer noch tropfende Wasser aus den Augen.

Beim fünften Durchlauf hatte Dän schon abwartend die Arme vor der Brust verschränkt, während Ferenc die Hand vor die Augen hielt, um bloß nichts mehr vom Geschehen auf der Bühne zu sehen und sich auf seine Töne konzentrieren zu können. Im Publikum gab es laute, sehr vergnügte Schreie und viel Gelächter, und auf der Bühne vermutlich Erleichterung, als es anstelle eines sechsten Intros endlich losging. Die Fans setzten sofort textsicher ein und eigentlich hätte Clemens mit dem Singen aufhören und sich weiter Wasser über die Haare schütten können, weil das Publikum die Leadstimme übernahm. Wäre aber schade gewesen. Außerdem hatte sich zu seinen Füßen schon eine dicke Wasserlache gebildet.

Der Rest des Liedes lief planmäßig, und für mich unerwarteterweise setzte keiner der Zuschauer zu früh mit dem abschließenden: „Na-na-na-na-naa-naa!“ ein, sondern alle warteten, bis die Wise Guys Luft geholt hatten und loslegten. Klasse.

Clemens sammelte seine Jacke vom Boden auf und Dän blickte auf den Ablaufzettel und erklärte, dass sie zum letzten Lied vor der Pause kämen. Weil es schon so spät war, sollte die Pause möglichst knackig gehalten werden. „Wir müssen uns ja auch umziehen, aber dann, dass Sie vielleicht jetzt nicht so …“, er hörte auf mit dem Rumdrucksen und wurde deutlicher: „Also nur wer richtig MUSS, ja?“ Er legte als Beginn der nächsten Hälfte halb 9 fest und kam zur Scheckübergabe.

„Wir würden jetzt gerne die Schecks übergeben, dafür brauchen wir die Schecks und dafür brauchen wir die Menschen, die diese Schecks entgegennehmen … äh … das war als Stichwort gedacht, dass da jetzt jemand unauffällig hier …“ Er blickte sich suchend um. „… was reinreicht, dass man nicht so dumm da hängt, irgendwie auf der Bühne, sondern … ach so, von da.“ Die drei Leute von Misereor und dem Städtischen Kinderheim in Köln-Sülz hatten die ganze Zeit schon hinter dem Vorhang gestanden, sich aber nicht rausgetraut, weil sie die großen symbolischen Schecks hilfsbereit selber mitgebracht hatten. Es hätte ein wenig blöde ausgesehen, wenn sie mit ihnen die Bühne betreten hätten, um sie dort den Wise Guys zu geben, die sie ihnen anschließend feierlich überreicht hätten. Sari erkannte das Problem, eilte zum Vorhang, um die Schecks zu übernehmen und eilte dann mit den Riesendingern nicht ganz unauffällig zurück zur Bühnenmitte, von wo aus er mit ihnen in der Hand lässig auf die Besucher zu ging und die Hände schüttelte.

Beide Organisationen erhielten jeweils 16.500 Euro, die zustande kamen, weil sowohl die Wise Guys, als auch alle ihre Mitarbeiter an diesem Abend umsonst arbeiteten, das Equipment zum Teil kostenfrei überlassen wurde und sogar die Security kein Honorar für den Abend verlangte. Auch die Stadthalle machte spendenfreundliche Verträge, so dass bei so viel ehrenamtlicher Arbeit eine Menge Geld zusammenkam. Sari überreichte lässig die Schecks und die Organisationsvertreter sahen sie an und freuten sich, als hätten sie sie noch nie gesehen. Sie erzählten etwas über die bedachten Projekte in Köln-Sülz und Indien, gingen dann ab und Dän bedankte sich beim Publikum: „Herzlichen Dank an Sie alle, euch alle, dass ihr das hier mitmacht. Hoffentlich.“ Er grinste breit und stellte fest: „Das erste Fünftel ist geschafft“, und stellte das letzte Lied vor, das auch Mottosong des Abend werden könnte: Was für eine Nacht.

Das symmetrische Bild war zu Anfang etwas gestört, weil Eddi keinen eigenen grünen Scheinwerfer hatte und damit im Anfangsbild fehlte. Er war aber zu hören und hatte sich nicht schon heimlich in die Pause geschlichen. Beim Refrain wurde vom Publikum mitgeklatscht, aber zunächst etwas kraftlos, weil das vorherige Gespräch ermüdet hatte und ein wenig den Schwung genommen hatte. Jetzt freuten sich fast alle auf die folgende kleine Pause. Bis zum Ende des Liedes hatten die Wise Guys aber wieder alle mitgerissen und ließen ein laut klatschendes und rufendes Publikum zurück, das allerdings auch sofort von den Plätzen stürzte, als die Hauptakteure aus dem Sichtfeld verschwunden waren. Es war 20:18 Uhr und in 12 Minuten sollte der zweite Block beginnen. Das war knapp.

Opener A/B
Du bist dabei
Kinder
Deutscher Meister
Griechischer Wein
Sonnencremeküsse
Wie die Zeit vergeht
Du Doof!
Die Bahn kommt
Denglisch
Das wär’s gewesen
King of the Road
Nur für dich
Was für eine Nacht


BLOCK 2 – HAARIGE ZEITEN / DUT-DUT-DUAH

Während der Pause war die knappe Zeit ein wichtiges Thema. Als Besucher musste man sich überlegen, ob sich ein Anstellen an der Getränketheke oder der Toilette lohnte. Oder ob man nicht gleich auf seinem Platz im Saal sitzen bleiben sollte. Im Backstagebereich zogen sich die Wise Guys zügig und mit Blick auf die Uhr um. Einige ruhige Minuten zum Entspannen waren gar nicht drin.

„Ich krieg die Hose nicht zu!“, lachte Eddi, raste über den Flur, um einen Gürtel zu holen und verdeckte damit die nicht sehr große, aber auch mit brutal eingezogenem Bauch nicht zu verbergende Lücke zwischen Knopf und Knopfloch. Naja, seit der ersten Totalnacht waren acht Jahre vergangen und er war inzwischen Vater geworden. Da durfte man ein wenig breiter um die Hüften sein.

Für Ferenc waren auch acht Jahre vergangen und auch er war Vater geworden, allerdings inzwischen schmaler um die Hüften. Irgendwo musste meine Theorie einen Haken haben.

Vier Minuten später als geplant endete die Pause und der zweite Block begann. Das Licht im Saal erlosch, ein Zeichen für die vielen noch im Foyer befindlichen Zuschauer dieses in schnellem Schritt zu verlassen und im Dunkeln zu den Plätzen zu eilen. Warum nach der genauen Zeitvorgabe von Dän und der zusätzlichen vier Minuten Verspätung der Beginn des zweiten Blockes für viele Besucher dann doch relativ überraschend kam, wunderte mich etwas. Aber wahrscheinlich hatten die meisten von ihnen gerade ihr Getränk über die Theke gereicht bekommen und gehofft, dass das Umziehen oder eventuelle neue Einsingereien doch noch länger dauern würden.

Für erfahrene Totalnachtbesucher war es nicht überraschend, dass die Gruppe im zweiten Block anders eingekleidet auf der Bühne erschien. Der Abend war eine gute Gelegenheit, nicht nur einen musikalischen, sondern auch einen optischen Eindruck der vergangenen elf Jahre zu bieten. Wobei der optische Eindruck in diesem Block extrem gemixt wirkte. Das mussten die Zuschauer aber zunächst unkommentiert hinnehmen, denn es ging sofort mit Gesang los. Sari pfiff den Ton an, die fünf Wise Guys sahen sich an, holten Luft, schwenkten einzelne Arme nach vorne und sangen wie in einem Radio-Jingle: „“howtime!“, was alleine schon den nächsten Begeisterungsjubel im Publikum auslöste. Kaum begann Sari die erste Zeile zu singen, ging das Mitsingen und Klatschen los. Sogar einige der Leute, die sich immer noch durch den Mittelgang auf dem Weg zu ihren Plätzen befanden, sangen unterwegs laut mit.

Der große Jubel und Applaus danach brach recht schnell weg und wurde zu Aufmerksamkeit, als Sari sofort den nächsten Ton anblies und die Gruppe sich aufstellte. Beziehungsweise vier stellten sich auf, Clemens holte sogar schon Luft und hob den Arm zum Einsatz, da ging Eddi, der am linken Tisch etwas getrunken hatte, noch gemütlich hinter allen vorbei, um sich dann auf der rechten Seite der Gruppe aufzustellen. Clemens beobachtete ihn ruhig, und Eddi gab, kaum stand er am Platz, selbst das Einsatzzeichen und es ging sofort los. Charlie Razzamatazz war eines der frühen Werke, und Eddi hatte ganz unbesorgt verspätet kommen können, denn er sang die Leadstimme. Ohne ihn wäre es also nicht gegangen. Das Lied war damals aus gutem Grunde in englischer Sprache verfasst worden, denn in Deutsch wäre aus Mr. Razzamatazz wohl ein „Karl Rummel“ geworden, was weder sehr jazzig, noch überhaupt irgendwie cool gewirkt hätte. Außerdem wirkte es damit gleich internationaler. Es ging fetzig und ziemlich jazzig ab, was zeigte, dass es schon damals gute Gründe gab, ein Wise Guys Konzert zu besuchen. Auch wenn die Wise Guys heute über manche frühen Werke ziemlich lächelten.

Dän grinste danach ins Publikum: „Kleiner Hinweis: Das ist noch NICHT der Karnevalsblock!“ Die Zuschauer hatten die bunten, völlig unterschiedlichen Outfits vor Augen und lachten los. Erklärend fügte er hinzu: „Das sind sozusagen unser Outfits der vergangenen Jahre. Chronologisch fängt das an beim Eddi. Das war ganz früher, da war die Hose auch noch ’n Tick …“, er stockte und alle blickten auf Eddis Hosenbund, an dem der Knopf den Weg bis zum Knopfloch nicht geschafft hatte. „… lustiger“, fuhr Dän fort. „Hosenträger und abgeschnittene Jeans, das war 1994. So haben wir in der Hohe Straße und in der Schildergasse Musik gemacht damals, und die Leute sind dann aufgrund unserer Outfits stehengeblieben.“

Er wies auf Clemens: „Kurz danach die Weiterentwicklung langer Hosen. Tja, mit fortschreitender Reife, … mit dem Schachbrettmuster haben wir viel Schach gespielt unterwegs …“

„Und dann hatten wir diese Montur, die der Sari anhat, eigentlich mit Blue Jeans, oder? Oder mit schwarz??“ Sari blickte an sich herunter und bestätigte, dass es schwarze Hosen gewesen waren. Dän war sich bei den Hemden sicher: „Wir hatten jeder eine eigene Farbe. Sari hatte orange, wobei, das war langärmelig. Das hier ist irgendwie ein Ersatzhemd vom Ferenc, von der anderen Montur.“ Er zupfte in Bauchhöhe an Saris Hemd herum, das erstaunliche Wellen schlug, und kommentierte: „Das ist auch sehr luftig. Das war Ferenc vorher. Ferenc hat ja auch total abgenommen.“ Die Zuschauer lachten, weil es so hin und her ging und verwirrend war. Orange, aber langärmlig, von Ferenc, der aber abgenommen hatte. Klar war nur, dass die Kleidung damals so ähnlich ausgesehen haben musste.

Dän guckte an sich herunter: „Das hier war, glaube ich, 2001. ‘Ganz weit vorne’, das Outfit, so jeansmäßig.“ Dann stellte er sich neben Ferenc. „Und dann unsere, wie unser Produzent Uwe Baltrusch zu sagen pflegt, ‚Saaldiener-Outfits‘. Sehr peinliche Anzüge hier.“ Er fingerte etwas an Ferenc‘ Jacke herum und stellte fest: „Das ist auch nicht deine Jacke, sondern die vom Eddi, weil du in deine eigene nicht mehr reinpasst, weil die zu groß ist.“

Danach wandte er sich wieder an das Publikum: „Dieser Block, ihr ahnt es schon, wird jetzt ein bisschen bitter. Es geht jetzt um ‚Haarige Zeiten‘ und ‚Dut-Dut-Duah‘ schwerpunktmäßig.“ Die Zuschauer fanden das aber überhaupt nicht schlimm, sondern jubelten entzückt auf. „Das Ganze wird auch moderiert vom Clemens, der gleich einen Teil der Moderationen übernehmen wird. Da freuen wir uns alle sehr drauf, und …“ Er wurde von einem Lachsturm unterbrochen, weil das alles andere als wahrheitsgemäß geklungen hatte. Auch Clemens lachte los, aber Dän bekräftigte: „Nee, wirklich! WIRKLICH!! Ich freue mich da wirklich sehr – wenn ich mal andere Leute reden höre“, was erneutes Gelächter auslöste.

Er kam zu den ‘musikalischen Frühwerken’. „Man hat mir immer gesagt, Mensch, steh doch mal zu deinen alten Songs, und ich frag dann immer: WARUM??“ Etwas kleinlaut kündigte er an: „Das nächste Lied handelt von einem verliebten Koch“, und das Publikum freute sich aufjuchzend auf Liebe geht durch den Magen. Clemens versalzte vorschriftsmäßig singend die Suppe, und als im Background zeitgleich nach vermeintlichen Gitarren gegriffen wurde, die nach einem angeschlagenen Akkord wieder abgelegt wurden, musste Eddi plötzlich loslachen und hielt sich kopfschüttelnd die Hand vor die Augen. Vermutlich fassungslos über das, was sie früher choreografiemäßig gemacht hatten.

Im nächsten Refrain griff er zum größeren ‘Cello’ und strich weitausholend über die Saiten, woraufhin Ferenc danach zum noch größeren Bass griff und extrem weit ausholte. Eddi guckte kurz zu und hatte plötzlich eine sehr kleine imaginäre Geige unter dem Kinn, die er nach ein paar gestrichenen Tönen sauber ablegte. Sehr witzig.
Etwas ungewöhnlich, und heute auch nicht mehr in den neueren Arrangements zu finden, war ein kleiner gesungener Schlenker im letzten Takt. Das fröhlich applaudierende Publikum wirkte überhaupt nicht, als hätte es beim Zuhören schwer leiden müssen. Im Gegenteil.

Weiter ging es mit Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf. Sollte es gehen. Sari gab den Ton an, setzte ein – und war kaum zu hören, weil sein Mikro nicht an war. Er brach sofort ab, und auch Ferenc hob sein Bassmikrofon nach oben, um den Technikern zu zeigen, dass es noch nicht funktionstüchtig war. Testweise machte Sari: „Ts ts ts“ und war plötzlich zu hören. „Aaaaaaaah!“ freute sich das Publikum. Clemens holte schon Luft, da rief Dän: „Stopp!“ und brauchte jetzt den Anfangston nochmal. Ein kurzer Rundum-Blick von Sari, ob ansonsten alles klar war, dann ging es los. Superschnell im Text, und das schnell einsetzende Mitklatschen der Zuschauer hörte bei den Strophen sofort auf, weil man nicht gut gleichzeitig klatschen und diese übergroße Menge von schnellem Text hören und im Gehirn verarbeiten konnte.

Clemens machte die nächste Ansage: „Wir haben auch Lieder im Programm, die so ganz, ganz anders sind“, begann er. „Und zwar so GANZ anders. So ein Lied kommt jetzt, was einen vielleicht im ersten Blick ein wenig überraschen mag. Aber es kommt auch vor, dass wir im kirchlichen Rahmen auftreten und dass wir auch Lieder singen zu bestimmten Anlässen. Das nächste Lied vereint beide Aspekte, zum einen ist es ein religiös angehauchtes Lied und zum anderen ist es ein Abschiedslied.“ Während er redete, hatte Ferenc einen Zettel aus der Innentasche seines Saaldienerjackets geholt und faltete ihn, interessiert beobachtet von den Zuschauern, laut hörbar auf. Clemens moderierte unterdessen weiter, bekam aber genau mit, was Ferenc machte: „Auch in unserer Geschichte hat es Phasen gegeben, wo wir Abschied nehmen mussten. Das folgende Lied ist übrigens auch recht tückisch vom Text her …“, Ferenc ließ den Zettel mit einem Ruck unverzüglich hinter seinem Rücken verschwinden und guckte betont unbeteiligt, was sofortiges Gelächter und Beifall auslöste. „Weil es vier Strophen hat, die alle sehr ähnlich sind. Da wirft man mit zunehmendem Alter schonmal was durcheinander.“ Ferenc stockte in der Bewegung, guckte dann starr zu Clemens rüber, nahm die Arme nach vorne und zerriss den Zettel mit Schwung in zwei Teile, die er nach vorne auf den Bühnenboden warf. Eddi lachte laut los, Dän hatte sichtlich WIRKLICH Vergnügen an dieser Moderation, und das Publikum johlte laut.

Noch während der Applaus über diese gelungene Spontaneinlage anhielt, hechtete Ferenc plötzlich mit verzweifelter Hektik nach vorne, hockte sich vor die Zettelteile und versuchte sie zumindest lesbar aneinander zu legen.

Er gab es allerdings schnell auf, warf die Hände nach mit dem Ausdruck ‚Ach, was soll’s!‘ nach vorne und stellte sich zurück in die Reihe. Ob Sari sich danach nur die Lachtränen aus den Augen wischte, oder wirklich weinte, weil er durch Ferenc’ überstürzte Aktion ja auch keinen Text zum Reinblinzeln mehr hatte, konnte ich nicht erkennen.

Die irischen Segenswünsche„, sagte Clemens nur noch, dann ging es schon los. Ein paar Zuschauer lachten zunächst noch, bis sie merkten, dass das Lied durchaus ernsthaft gemeint war. Gleich in der zweiten Strophe sang Ferenc ein falsches Wort und zuckte erschreckt zusammen, was dem aufmerksamen Publikum nicht entging. Dän hatte nicht nur die Leadstimme, sondern wirkte auch sehr textsicher. Kräftig begann er jede Strophe mit dem richtigen Wort und zog die unsicheren Kandidaten gut mit.

Dän meldete sich danach zu Wort: „Die irischen Segenswünsche. Eigentlich eine schöne Ausstiegsgelegenheit für Leute, die jetzt keinen Bock mehr haben.“ Es sprang aber kein Zuschauer auf und eilte zur Garderobe, und vermutlich hätte Dän auch ziemlich dumm geguckt, wenn das passiert wäre. When I’m 64 war das nächste Stück, und Ferenc sang zu Beginn vom Älterwerden und dem Haareverlieren, wobei er so bestätigend grinste und so sichtlich mit dem losbrechenden Gelächter rechnete, dass die Zuschauer schon alleine deswegen loslachen mussten.

Auch bei den weiteren Strophen, die von jeweils einem Wise Guy übernommen wurden, gab es viel Spaß, weil der Text witzig war und die Darstellungen auf der Bühne das unterstützten. Mit donnerndem Applaus, Gejohle und Fußgetrampel zeigten die Zuschauer, dass es ihnen gefallen hatte.

Clemens sagte das allerallererste selbstgeschriebene, DEUTSCHsprachige A-cappella-Stück von den Wise Guys an, das der Eddi geschrieben hatte. Das Lied Wenn ich bei dir bin war an manchen Textstellen etwas gewöhnungsbedürftig, aber ich mochte es sehr. Bis auf die Stelle mit dem glücklichen Würstchen an der frischen Glut, die mir dann doch einen Tick zu gewagt war. Aber die Melodie hatte ich auch sonst oft im Kopf und pfiff sie, wenn ich gute Laune hatte. Die Choreographie war nicht mehr zu 100 Prozent abrufbereit, was an einigen schnellen Korrekturen erkannt wurde, aber abwechslungs- und bewegungsreich. Alles zusammen sehr schön und vergnüglich, und irgendwie war dieses frühe Stück ja auch der Grundstein für ganz andere Sachen gewesen. Hätte das Lied damals nicht funktioniert, hätte sich Eddi vielleicht anderen Hobbys zugewandt und die deutsche A-cappella-Geschichte wäre anders verlaufen.

Es ging direkt mit Total egal weiter, damals eine Art Skandallied, weil es von manchen Leuten ernst genommen wurde, die nicht richtig hingehört hatten. Bei der Totalnacht machte es nur Spaß und niemand nahm den Text zu wörtlich.

Dän übernahm anschließend die Leadstimme beim Vollprofi. Der Profistatus hinderte ihn nicht daran, einen Texthänger zu haben und den ihm fehlenden Zeilentext spontan in „Tätätätätä tääää tätää“ zu ändern. Er fand den Anschluss dann sofort wieder, aber ausgerechnet in der Fortsetzung des Satzes: „… doch auf der Bühne steh’n, ist mein Leben“, was er dann selber in diesem Zusammenhang sehr witzig fand und was Eddi lachend zusammenklappen ließ. Wunderbar!

Clemens rieb sich nach dem Abschlussapplaus grinsend die Hände und sagte nur: „Ja, Frühphase.“ Dann fuhr er fort: „Beides Lieder, die wir vielleicht heute nicht mehr so singen würden.“ Das nächste Lied wäre Sari angeblich wegen seiner Sprechgesangeigenschaften auf den Leib geschrieben, weswegen es darum bei ihm keine Intonationsprobleme gäbe. Sari guckte empört, holte mit dem Bein aus und trat symbolisch nach Clemens, der ihn mit Intonationsproblemen in Verbindung brachte.

Dän schickte Clemens sofort an den linken Rand zum Aufstellen, winkte ihn dann in die Mitte zurück, brach aber ab, weil er doch nicht sicher war. Als Ferenc sah, dass Clemens am Rand stehenblieb, rutschte er mit kleinen seitlichen Schritten in die jetzt zu große Lücke in der Mitte, um dort optisch für das Gleichgewicht zu sorgen. Endlich konnte 99 Jahre starten. Schneller Sprechgesang, viele Sätze, die von Sari mühelos gesprudelt wurden, und eine hämmernde Mouthpercussion, die richtig gut und kräftig abzog. Allerdings auch so laut, das Sari fast Mühe hatte, dagegen anzukommen.

„Manchmal haben wir Lieder, die es schon gab, mit einem neuen Text versehen. Wir haben sehr selten Texte, die es schon gab, mit einem neuen Lied versehen“, sagte Dän zum Publikum und ergänzte: „Also das ist mal passiert, aus Versehen.“ Er erzählte, dass er einen Vierzeiler, den er in einer Todesanzeige gesehen hatte, so schön fand, dass er ihn vertont hatte. Erst später erfuhr er, dass der Text aus einem Lied von Willi Ostermann stammte und damit eigentlich schon vertont war. Darum gab es seitdem das kurze Wise Guys Lied Wenn ich ens nit mih existiere, das eigentlich eine Strophe aus dem Ostermannlied ‚Heimweg noh Kölle‘ war.

Die Wise Guys stellten sich zusammen, begannen zu singen, und ein paar Lacher zeigten noch, dass einige Zuschauer dachten, es würde lustig. Dann aber kam eine herzergreifende Ernsthaftigkeit rüber, die den Saal in eine wunderbare Stille versinken ließ. Ich weiß gar nicht, ob ich die Originalmelodie von Ostermann kenne, aber ich glaube, sie kann nicht schöner sein.

Am Ende des Liedes bekam ich dann einen Schreck, denn mir wurde plötzlich klar, WIE schnell vier Zeilen gesungen sind. Ich wusste, dass Bodo Wartke vor diesem Lied den Saal verlassen hatte, um sich im Backstagebereich auf seinen Auftritt vorzubereiten, der dann laut Liste zwei Songs später dran war. Hätte ich bloß mal vorher dran gedacht, wie kurz das Lied war und hätte es ihm gesagt, dann wäre er vielleicht lieber noch einen Song früher losgegangen, denn diese vier kurzen Zeilen konnte man ja fast nicht mitzählen. Jetzt gab es nur noch ein einziges Lied vor seinem Auftritt. Puh! Ich konnte nur hoffen, dass er beim letzten Ton von der Bühne nicht mit groß aufgerissenen Augen wie ein erstarrtes Kaninchen irgendwo im Gang stehengeblieben war, völlig geschockt, weil das erste der beiden Lieder schon auf halbem Weg zur Garderobe beendet war und er nicht wusste, wie kurz dann das nächste war und nun mit Mörderstress und zitternden Fingern seine Klamotten wechseln musste, weil ihm die Zeit knapp wurde. Wie ich später erfuhr, hatte er sich geschickterweise aber schon vor dem zweiten Block bühnenfertig umgezogen und musste darum nicht mit zitternden Fingern Hemdenknöpfe schließen. Ob er am Ende des kurzen Vierzeilers aber nicht doch mal kurz wie ein erstarrtes Kaninchen geguckt hatte, weil es so überraschend schnell zu Ende war, weiß ich jedoch nicht.

Clemens kündigte nach dem ersten selbstgeschriebenen, deutschsprachigen A-cappella-Stück, das vorhin schon die Zuschauer entzückt hatte, das erste selbstgeschriebene Stück ÜBERHAUPT an, das Eddi und Dän zusammen geschrieben hatten: Little sweet loving girl. Sari gab den Ton an, und Clemens unterbrach noch schnell: „Ach so, genau, der Ferenc …“ Der stand nämlich sichtlich unbeteiligt am seitlichen Tisch, stützte sich gemütlich auf der Platte ab und hatte ein Wasserglas in der Hand. „… der war damals nicht dabei. Der hat aber jetzt eine ganz wichtige Sonderrolle.“ Ferenc guckte unverbindlich in die Gegend und rührte sich nicht.

Die Vierer-Sing-Gruppe sang los, und es war Barbershopgesang zu hören. Vermute ich mal, dass das Barbershop war, aber der hat sehr spezielle Regeln, und wer weiß, ob die exakt eingehalten waren. Irgendwo mal eine Terz am falschen Platz und es war vielleicht schon nur noch „barbershopähnlicher Gesang“.  Ferenc stand die ganze Zeit über lässig an seinem Tisch, plötzlich setzte er im Refrain zweimal passend am Zeilenenden kurz und kräftig mit „Bum-Bum!“ ein, was perfekt in das Lied passte, im Publikum große Erheiterung auslöste und das Lied sicher aus der Barbershop-Kategorie warf, denn da dürfen nur vier Leute singen. Nach diesen kurzen Einsätzen blieb Ferenc wieder unbeteiligt und sichtlich pausierend im Hintergrund, bis er irgendwann nach vorne schlenderte, gespannt beobachtet von allen Zuschauern, kurz vor der Gruppe aber wieder umdrehte, zum Tisch zurückkehrte und sich ein neues Glas Wasser eingoss. Aber dann kam er wirklich näher, stellte sich zum zweiten Einsatzpart neben Clemens, sang mehrfach sein „Bum-Bum“, und Clemens präsentierte ihn bei den kurzen Einwürfen mit blitzschnell ausgestreckten Armen. Das machte er allerdings auch mit Schwung, als eigentlich Dän dran war und die Töne von der anderen Seite der Gruppe kamen, aber egal. Der Schluss endete mit einem gemeinsamen Akkord, an den Ferenc dann übermütig noch ein völlig unpassendes „Bum-Bum!“ hintendran setzte, was sich völlig falsch anhörte, aber trotzdem passte. Zumindest zur Stimmung des Abends.

Dän sagte in der nächsten Moderation, dass sie mal einen Künstler kennengelernt hätten, der sie wahnsinnig begeistert hätte – ich guckte mit leichter Sorge, ob dieser gerade schwer atmend, noch mit dem Knöpfen des Hemdes beschäftigt durch den Gang und die Treppe runter zum Vorhang hetzte, aber er stand dort schon ganz ruhig, guckte ungehetzt und war korrekt angezogen. Wobei ich auch nicht sagen will, dass ich Bodo Wartke irgendwie unkorrekt angezogen erwartet hätte, aber … egal.  „Und der ist heute Abend hier!“ konnte Dän noch sagen, sein daauf folgendes: “Bodo Wartke!!“ ging schon im Jubel unter, denn die Fans wussten, wer kommen würde. Gerüchteweise war es schon in den Wochen vor der Totalnacht herumgegangen, dass vielleicht Bodo Wartke dabei wäre. Dabei war der sich zu dem Zeitpunkt selber noch gar nicht sicher gewesen, ob er das schaffen konnte. Die Kenner hatten ihn jetzt im Saal sitzen sehen und die Meldung daraufhin mehr oder weniger flüsternd verbreitet. Und wer ihn nicht erkannt hatte, kannte wahrscheinlich zumindest das Monica-Lied in der Wise Guys Version.

Mit ruhigen Schritten betrat Bodo die Bühne, ging bis zur Mitte und verbeugte sich vor dem Publikum. Es gab viel Applaus für ihn und auch die Wise Guys klatschten. Dän berichtete, dass Bodo ihnen ein Lied als Leihgabe zur Verfügung gestellt hatte, das auch auf die letzte CD gekommen war, und dass sie es jetzt zusammen mit der Originalstimme des Komponisten und Texters singen würden. „Das Lied heißt Monica“, sagte er noch, war aber im erneuten Jubel kaum zu hören.

Sari pfiff Bodo den Ton ins Ohr, der nickte, konzentrierte sich kurz und legte los. Netterweise waren die Wise Guys um ihn herum weitläufig auf der Bühne verteilt und schwächer beleuchtet, so dass er strahlend heller Mittelpunkt des Geschehens war und sozusagen einen Begleitchor hatte. Normalerweise sangen die Wise Guys ‚Monica‘ zu fünft. Jetzt übernahm Bodo die Hauptstimme, so dass mancher Wise Guy schon nach Luft schnappte und gewohnheitsmäßig mit dem ersten Ton begann, bis ihm auffiel, dass er gerade gar nicht gebraucht wurde, weil Bodo seinen Part sang.

Bodo machte es zunehmend mehr Spaß ,auf der Bühne zusammen mit seiner Begleitgruppe zu singen. Er ließ sich irgendwann in das stützende Rhythmus-Grundgerüst fallen und vertraute einfach darauf, dass die Wise Guys ihn schon zuverlässig musikalisch umkreisen und halten würden. Da er seine Begleitung sonst alleine am Klavier machte und sie damit voll unter Kontrolle hatte, war das sicher eine ungewohnte Situation für ihn, auch wenn er das Lied schon öfter mit den Wise Guys zusammen gesungen hatte. Bis dahin aber eher in ungezwungener Afterglow-Atmosphäre.

Die einzige Textstelle, die noch von einem Wise Guy als Solopart übernommen wurde, war die von Ferenc. Er tauchte zur betreffenden Szene plötzlich im hellen Scheinwerferlicht neben Bodo auf, wandte sich ihm zu und sagte mit voller Stimme: „Also, nee. Bei dem mach ich das nur für Geld.“ Spontan legte ihm Bodo die Hand auf die Schulter und sang Ferenc zu dessen Verblüffung ganz persönlich an: „Kein Problem, wir würden für dich spenden.“ Die Zuschauer lachten und der überrumpelte Ferenc drehte sich nach einem breiten Grinsen abrupt weg, um zu seinem Platz zurückzukehren.

Nach dem letzten „Bap!“ war das Lied fertig, das Publikum johlte und applaudierte laut, die Wise Guys klatschten ebenfalls, Bodo machte eine tiefe Verbeugung, hob grüßend die Hand, beklatschte die Wise Guys und ging winkend ab.

Der Applaus dauerte noch etwas, und Dän ging unterdessen quer über die Bühne, blickte dabei auf seine Uhr und sagte, als es etwas leiser wurde, mit zufriedener Stimme zu Eddi: „Wir haben ein bisschen Zeit aufgeholt.“

Vor der Pause sollte es noch ein Lied geben, und er kündigte Träum vom Meer an. Fast sofort setzte im Publikum ein lautes, mehrstimmiges: „Oooohhh!“ ein, das nicht ‚Oh, wie schade!‘ ausdrücken sollte, sondern natürlich ein entzücktes: ‚Oh, wie schön!‘ war. Allerdings war es so ungeplant und gewaltig aufgetaucht, dass es sofort in fröhliches Gelächter zerbrach. Es wurde schnell ruhig im Saal, noch ehe Sari den Ton angeben konnte. Die sanften Schlaflied-Töne klangen sehr homogen, nicht laut, aber doch gewaltig durch den Raum, und nur ein paar Huster, deren Erzeuger ich bei diesem Lied am liebsten mit zugedrücktem Hals aus dem Raum geführt hätte, waren manchmal zu hören. Warum mich dieses sanfte Lied zu solch brutalen Aktionen bringen könnte? Vielleicht, weil es eines meiner Lieblingslieder ist, das ich völlig ungestört haben möchte, weil es durch laute Fremdgeräusche kaputt gemacht wird. Wenn Dän laute Huster an den leisen Stellen für gut gehalten hätte, hätte er sie einkomponiert.

Der große Applaus, der am Ende ziemlich schnell einsetzte, war mit einigen begeisterten Aufschreien unterlegt, was eigentlich schon brutal laut und viel zu reales Leben war. Da hätte ich mir einfach einen langen Applaus ohne Geschrei gewünscht. Allerdings war das vielleicht etwas viel gewünscht, so unmittelbar vor der kurzen Pause, denn die Wise Guys hatten die Bühne noch nicht komplett verlassen, da sprangen die Zuschauer schon auf und eilten Richtung Foyer. Es war keine Zeit zum Schlafen und Träumen.

Showtime
Charlie Razzamatazz
Liebe geht durch den Magen
Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf
Irische Segenswünsche
When I’m 64
Wenn ich bei dir bin
Total Egal
Der Vollprofi
99 Jahre
Wenn ich ens nit mih existiere
Little sweet loving girl
Monica
Träum vom Meer


Block 3 – SKANDAL / LIVE

Im Backstagebereich wurden die doch ziemlich bunten Klamotten des zweiten Blocks eilig gegen ziemlich farblose Anzüge getauscht. Von bunt und zum Teil gewagt in schwarz und seriös. Ferenc veränderte sich farblich nur wenig und wurde trotzdem blitzschnell vom Saaldiener zum Boss.

Ein den Wise Guys bekannter Musikkabarettist, Bodo W. aus B., hatte während der Pause nicht die öffentliche Foyertheke zum Ziel gehabt, sondern sich nach Nutzung einer Nebentreppe einfach in der Künstlergarderobe am Cateringtisch angestellt. Und siehe da: Es ging viel schneller. Auf die Idee hätten auch mal andere Besucher kommen können! Hätte auch den Vorteil gehabt, dass für die anderen im Foyer nicht so viel los gewesen wäre.

Wie schon am Ende der vorherigen Pause, erlosch plötzlich das Licht im Saal und die Foyerbesucher beeilten sich, auf ihre Plätze zu kommen. Dramaturgisch war es gut überlegt, dass die Wise Guys das musikalische Intro zu Golden Eye im Stockdunkeln starten sollten, dadurch eine unheimliche, gefährliche Atmosphäre durch den Saal ziehen und alles ganz spannend machen würde. Leider hatten die Dramaturgen nicht bedacht, dass nicht nur die Töne durch den Saal ziehen würden, sondern auch viele zum Teil aufgedrehte Pausenrückkehrer, die ihre aus Zeitmangel gerade mal angenippten Getränke in der Hand hielten. Während die Wise Guys also schon singend auf der Bühne standen, war vor ihnen im dunklen Saal noch ganz viel los.

Es war unruhig und laut, man hörte Getrappel, Gequatsche, Rufe und rückende Stühle. Sehr schade. Das blieb sogar noch ein paar Zeilen lang so, als die Bühne schon in schwaches, blaues Licht getaucht war und Eddi die Leadstimme sang. Irgendwie unpassend: Auf der Bühne geheimnisvolle Typen, die ernst guckten, dunkle Anzüge trugen, Knarren in den Händen hielten und hörbar gefährlich drauf waren, und davor gut gelaunte Menschen, die völlig sorglos an ihnen vorbei den Gang entlang gingen und sich überhaupt nicht bedroht fühlten. Beim echten James Bond wäre das wohl nicht passiert. Zum Glück saßen irgendwann fast alle Besucher und die Bühnenperformance konnte wirken. Dass allerdings genau beim lauten Schlusston, als Eddi seine Endpose im plötzlichen aufblitzenden Licht machte, ein ganz verspäteter Besucher unmittelbar vor ihm entlang lief und damit ebenfalls plötzlich angestrahlt wurde, störte nicht nur das Bild, sondern war der i-Punkt der leicht danebengegangenen Dramaturgie. Eigentlich war es ein bisschen witzig, aber ich fand es dann doch mehr schade.

„Herzlich willkommen zum dritten Fünftel“, lachte Dän. „Wir haben jetzt unsere Anzüge an. Also die haben wir jetzt auch normalerweise an in der zweiten Hälfte. Was ja in Bruchrechnungen entsprechen würde …“, seine Stimme verlangsamte sich überlegend, „… quasi der Mitte vom dritten Fünftel, Dreieinhalbstel …“ Verwirrt endete er mit: „Ja. Äh …“, und kam lieber sofort zum nächsten Thema: „Wir haben gerade Golden Eye gesungen, das war unser Bond-Song. War irgendwie, glaube ich, fünf oder sechs Jahre im Programm.“ Eddi warf eine Korrektur ein, und Dän änderte in: „Sieben Jahre im Programm. Eddi hat’s geliebt, es zu singen, ist immer noch traurig, dass es raus ist.“ Während aus dem Publikum mehrstimmig ein mitleidiges „Oohh“ kam, sagte Dän: „Aber man muss ja nach sieben Jahren auch mal einen anderen Bond-Song singen. Oder keinen mehr.“ Er erzählte, dass Eddi sogar mal selber einen Bond-Song geschrieben hatte, der auch sofort folgte: Der letzte Martini. Eddi schleppte sich als alternder Herr Bond über die Bühne und ich grinste dazu, denn ich mochte das Lied sehr.

Sofort ging es weiter mit Ich bin grumpig, bei dem Sari über das nasse Wetter verzweifelte und sogar Eddi an den Hals ging. Gegen Schluss zog der Rhythmus so unwiderstehlich mit, dass heftigst auf 2 und 4 mitgeklatscht wurde

Es gab großen Jubel und danach Sari, der in diesem Block mitmoderierte. „Ja, Servus“, begrüßte er das Publikum für das Rheinland etwas unüblich und erzählte dann die Story, wie die Wise Guys einen Vorschlag zum Titelsong des Filmes ‘Comedian Harmonists’ abgeliefert hatten, der in der Demoversion abgelehnt worden war, während er später, fertig eingeübt und auf der Bühne gesungen, von den gleichen Leuten plötzlich für sehr gut befunden wurde. So viel zum Abstraktionsvermögen von Profis. Sari kündigte zum Abschluss nur noch an: „Unser Titelsong, nachträglich zum Film, die Comedian Harmonists.“ 

Auch wenn die Wise Guys anders als die Comedian Harmonists waren, sah man als Zuschauer doch zwangsläufig Parallelen und irgendwo war es auch ähnlich wie sie singend, anspruchs- und humorvoll ihre Fans begeisterten. Jubelnde Zuschauer und verzückte weibliche Fans hatte es auch damals gegeben, und die rannten genauso los, wenn es die neue Schellackplatte gab, wie heute die Fans für die neue CD. Außerdem verstärkte sich die optische Ähnlichkeit, weil die Wise Guys bei diesem Lied ziemlich ruhig auf der Bühne standen und schwarze Anzüge anhatten. Jetzt noch alles in schwarz-weiß und einen Klavierspieler dazu, und die Täuschung wäre fast perfekt gewesen. Obwohl, ich habe mir ja mal sagen lassen, dass die originalen Comedian Harmonists auch bunt gewesen seien, egal, was die alten Archivfilme zeigen.

Im Publikum blieb es ganz still und andächtig, denn das Lied ging wirklich ans Herz. Wunderschön.

Ich hatte die fünf Wise Guys im Blick, hörte ihnen in diesem Block noch berührter als sonst zu und fühlte mich sehr wohl, denn das waren alles Stücke, die ich 1998 bei meinem ersten Livekonzert der Wise Guys erlebt hatte und die mich nun emotional zurück in diese Zeit brachten. Damals war ich etwas skeptisch ins Konzert gegangen und hatte einen unglaublich tollen Abend erlebt, der mein weiteres Leben sehr beeinflusste. Genau bei diesen Stücken, die jetzt im dritten Totalnachtblock gesungen wurden, hatte ich im ersten Konzert gesessen, freudig leuchtende Augen gehabt, vergnügt gegrinst und gewusst, dass diese Gruppe ab sofort meine Lieblingsgruppe sein würde. Und irgendwie hatte ich schon während des Konzertes das unbestimmte Gefühl gehabt, dass an diesem Abend etwas passiert war. Keine Ahnung was, aber manchmal hat man ja so Begegnungen im Leben, die Folgen haben und merkt früher oder später, dass es einen Wendepunkt gegeben hat. Ich wusste damals allerdings nicht, was da noch an Arbeit und vor allem Spaß auf mich zukommen würde. Und die Wise Guys wussten nicht, wer da im Publikum saß und ihnen irgendwann bei späteren Konzerten mal beim Afterglow begegnen würde. Wenn das nicht Gründe waren, um sentimental zu werden. Aber zurück zur Totalnacht.

„Wir haben nicht nur auf den beiden ersten CDs 1994 und 1996 merkwürdige Songs gehabt …“, sagte Dän mit ernster Miene, „… sondern auch 1999 – und auch danach noch.“ Ohne weiteren Kommentar stellten sie sich zusammen und begannen Flunder gibt es immer wieder, das durchaus in die Kategorie ‚merkwürdig‘, gleichzeitig aber auch in die Kategorie ‚von vielen Kindern geliebt‘ passte. Darum wurde bei den Refrains vom Publikum auch übermütig und temperamentvoll mitgeklatscht und zum Teil lauthals mitgesungen. Waren zwar wenig Kinder im Saal, aber viele, die das vor einigen Jahren noch waren.

Sari sang davon, dass er eine dralle Qualle liebe und fiel dabei Dän um den Hals, der ihn aber nicht zurückliebte und abwehrte. Dafür hakte sich Dän freudestrahlend bei seiner Kredithai-Liebe Ferenc ein, was fröhliche Kreischer auslöste und den kompletten Saal zum Mitklatschen des Refrains brachte. Beim letzten Ton brach Riesenjubel aus, der das Lied gleichzeitig in die Kategorie ‚merkwürdig, aber erfolgreich‘ einstufte.

Sari eilte nach einem schnellen Schluck Wasser nach vorne. „Wir haben jetzt schon einiges an Zeit wieder reingeholt, und da ich es nicht schuld sein möchte, wenn wir nachher hängen und Sie um zehn nach eins draußen sind und ihre letzte Bahn verpassen, machen wir jetzt ein bisschen schneller. Das nächste Lied ist eine schöne Ballade mit dem Titel Ein Herz und eine Seele.“ „Ooooooh!“ freuten sich einige Zuschauer schon wieder laut, und Eddi wartete, bis es wieder ruhig war und begann dann erst mit der Leadstimme. Sofort setzten leise Begleitstimmen aus dem Saal ein und unterstützten ihn. Das war einfach ein sehr schönes Lied aus der früheren Zeit und überhaupt nicht merkwürdig, sondern sehr berührend.

Schön war auch der Kontrast zu beobachten, als das Publikum danach laut klatschte und teilweise johlte, die Wise Guys aber fast bewegungslos mit sehr ernsten Gesichtern stehenblieben, als wäre ihnen noch nicht nach Lächeln zumute. Ihre Reihe löste sich dann vorsichtig auf, ohne dass sie ihre Ruhe und Ernsthaftigkeit in den Bewegungen und der Mimik verloren.

Ohne weitere Ansage ging es mit Mädchen lach doch mal weiter und es durfte wieder gegrinst und laut gelacht werden. Der Mitsingchor und die Klatschbegleitung waren fast lauter als Clemens, der die Leadstimme sang. Es ging richtig ab. Fast verwunderlich, dass es die Zuschauer auf den Sitzen hielt. Aber jetzt aufstehen hieß eventuell, dass die restlichen drei Stunden stehend verbracht werden mussten, weil sich die Vorderleute nicht mehr hinsetzten. Das wollte um diese Zeit noch keiner riskieren.

Im Breakteil, in dem Eddi und Sari manchmal wild über die Bühne hopsten, dem früher legendären „Känguru-Teil“, bewegten sie sich diesmal nicht sehr weit, sondern hauten vorwiegend wild auf imaginären Trommeln herum. Kräfteschonendes Ausflippen sozusagen.

Als zeitsparende Moderation galt die nächste, denn Sari blies nur den Ton an und das Intro zu Probier’s mal mit ’nem Bass begann. Nicht sehr damenhaft zu nennende Juchzer und wilde Schreie freuten sich auf Ferenc und seinen Solopart, und als seine tiefe Bassstimme einsetzte, wurde sie von vielen, deutlich höher liegenden Frauenstimmen begleitet. Das erinnerte mich daran, dass mein damals sechsjähriger Sohn das Lied mal in Gedanken versunken, aber laut und voller Überzeugung mit Piepsstimmchen auf dem Spielplatz gesungen hatte, während ich mit Tränen in den Augen in seiner Nähe stand und vor Lachen fast zusammenbrach. „Hey, baby, ein Bass macht viel mehr Spaß!“, sang er selbstbewusst mit Sopranstimmchen. So witzig hörte es sich in der Mülheimer Stadthalle zum Glück nicht an. Ferenc winkte Clemens absprachegemäß nach vorne und gab ihm zwei nicht ganz liebevolle, dafür deutlich hörbare Schläge auf die Wange, und dieser strich ihm aus sicherer Entfernung unabgesprochen kurz über den Kopf, was Ferenc aber souverän ignorierte.

Dass der Saal voll mit Kennern war, merkte man, als die Stelle „alle jubeln, toben, klatschen“ unmittelbar bei ihrem Beginn schon in ohrenbetäubendem Lärm unterging. Neuhörer, die den Text des Liedes nicht kannten, werden sich gewundert haben, wie die in diesem Moment auf der Bühne völlig unspektakulär agierenden Wise Guys diese übermäßige Reaktion auslösen konnten. Auch der letzte, eigentlich lange Ton von Ferenc versank schnell in einem übergroßen Jubel, so dass der den Gesang unauffällig beenden konnte, weil es sowieso keiner mehr mitbekam.

Es wurde zuerst donnernd, dann rhythmisch geklatscht, aber Ferenc verzog sich ziemlich schnell an die Seite, um Zeit zu sparen. Jede Minute, die er länger beklatscht wurde, hätte ihm nachher in der Pause gefehlt und da war die Entscheidung, ob jetzt lange im Applaus baden oder nachher in Ruhe die Hose wechseln, nicht schwer.

Als der Beifall aufhörte, schlenderte Dän nach vorne und meinte: „Ferenc hat den ganzen Laden hier quasi übernommen. Er kam 1995 zu uns und war 27, er wurde 28, und wir waren 24, 25. In dieser Phase des Lebens ist das ein Abstand, den man noch merkt. Das heißt, wir konnten die ersten Jahre immer fabelhaft Witze über Ferenc‘ Alter machen, weil er so viel älter war und man das damals auch sah. Wir haben das vor zwei Jahren nochmal probiert bei einem Konzert: „Einer ist ja auch älter als die anderen“ – Schweigen. Und dann: Wer ist denn älter von euch? Sind doch alle gleich alt!“ Fröhliches Gelächter im Publikum, und Dän guckte seine Kollegen an und sagte resigniert: „Traurig.“ Er rückte sein Kopfbügelmikro zurecht und stellte fest: „Jetzt sind wir alle gleich alt und wenn’s so weiter geht, in ein paar Jahren, sind wir alle älter als Ferenc.“ Die Zuschauer johlten los und Ferenc grinste breit und zufrieden. 

Dän redete weiter: „Warum es auch Totalnacht heißt, ist, weil wir uns manchmal total erschrecken, wie lange es uns schon gibt. Das ist für das folgende Lied von großer Bedeutung, weil ja auch viele jüngere Menschen im Publikum sitzen. Denen muss man vielleicht den Kontext des nächsten Liedes ein bisschen erläutern.“ Mit Erklärstimme fuhr Dän fort: „1995, das ist jetzt bald 11 Jahre her, da war’s so … ähm … das ist jetzt ganz, ganz schwer, aber es stimmt wirklich, ich erzähl jetzt keinen Quatsch, da gab es also viele Menschen …, die … ähm …, wenn sie TELEFONIEREN wollten, …“ Das Gelächter der Älteren im Saal, die ahnten worauf er hinauswollte, unterbrach ihn kurz. „Die, wenn sie telefonieren wollten, nach Hause gingen. Die hatten ZUHAUSE ein Telefon, das war fest verankert mit einem Kabel in der Wand.“ Jetzt johlten auch die Jüngeren los, die solche Geräte noch aus den Erzählungen ihrer Eltern kannten.

„Das war meistens grau, manchmal kam dann schon eins in rot, oder später in Form einer Mickey Maus. Das hatte noch eine WÄHLSCHEIBE.“ Er demonstrierte mit dem Finger in der Luft wie die bedient wurde. „Da steckte man den Zeigefinger rein, machte einmal so rum und ließ es dann zurücksausen, das dauerte ungefähr zehn Minuten, und damit konnte man seinen Partner überall auf der Welt erreichen, für ganz geringes Geld.“ Bei ‘geringes Geld’ gab es laute Lacher, die eindeutig von älteren Leuten kamen. „1995 fing es an, dass dann die ersten Handys auf den Markt kamen.“ Dän hielt ein fiktives, etwa 50 cm hohes und sichtlich schweres Handy mit beiden Händen hoch. „Die hatten nur Leute, die sehr, sehr viel Geld hatten, oder die einfach immer erreichbar sein mussten. Die anderen Leute liefen ohne Handy rum, die haben sich dann die Termine einfach im Kopf gemerkt und waren dann einfach da. Das muss man wissen als Grundvoraussetzung. Diese Handys waren ganz neu und das war damals ein Statussymbol.“

Er hob den Finger wie ein Lehrer und machte: „Mmh!!“, was etwa aussagte: ‚Ich hoffe sehr, ihr habt gut aufgepasst, denn gleich gibt es einen kleinen Test zu diesem Thema und wer gut zugehört hat, kann die Fragen beantworten.‘ Das ohnehin schon quietschend amüsierte Publikum lachte noch lauter los. Doch dann wurde es erwartungsvoll still.

Oh, Handy gab es auf keiner CD, und viele Fans waren gespannt, was sie erwartete. Clemens sang mit ruhiger, warmer Stimme von seinen Erlebnissen, und der Background gab sanfte Schmelztöne dazu. Im Refrain klappte Clemens seine Faust zum Handy auf, indem er Daumen und kleinen Finger abspreizte und damit telefonieren konnte. Liebevoll klappte er die beiden Teile während des Zwischengesanges wieder ein, blickte lange stolz auf seine Faust und sang sie weiter an.

Etwas später griffen die anderen vier Wise Guys nach den Sendern ihrer Mikros, die sie hinten an die Hosen geklipst hatten und hielten sie wie Handys an ihre Ohren. Nur Ferenc hatte Probleme, weil er so verkabelt war, dass er den Sender nicht bis nach oben ans Ohr bekam. Mühsam versuchte er mit dem Ohr etwa in Hüfthöhe zu kommen, was sehr witzig aussah und von ihm auch schnell abgebrochen wurde. Spontan hielt ihm daraufhin Sari seinen Sender ans Ohr und ließ ihn damit telefonieren. Wunderbar! 

Es gab großen Jubel für dieses seltene musikalische Zuckerstückchen, das den jungen Leuten nebenbei auch die Technikgeschichte näherbrachte. Ferenc, der sein ‘Handy’ vorher nicht mal bis in Ohrhöhe bekommen hatte, brauchte danach am längsten, um es funktionstüchtig wieder zu verstauen, während die anderen ihre mit einem kurzen Griff wieder an die Hosen klipsten. Zu seiner Entschuldigung muss aber gesagt werden, dass er als Einziger nicht nur einen Sender, sondern auch noch einen Empfänger hatte und nun beide Geräte und ihre Verkabelungen, die vermutlich mehrfach quer über den Körper verliefen, sicher unterbringen musste, ohne etwas zu verwechseln.

Sari kam in die Mitte und verriet: „Ferenc hatte übrigens als erster von uns ein richtiges Handy.“ Er wunderte sich aber, warum Barry Manilow es ihnen nie erlaubt hatte, dass Lied auf CD zu pressen. Na ja, keine Ahnung, was für ein Typ Herr Manilow ist, aber aus seiner angebeteten ‚Mandy‘ ein ‚Handy‘ zu machen, das ist schon etwas frech. Aber gut.

„Für das nächste Lied bin ich dem Daniel besonders dankbar“, fuhr Sari fort. „Denn es ist eigentlich, wenn ich das richtig sehe, der erste Wise Guys Blues.“ Es blieb total still im Publikum, denn bei dieser Ansage fiel keinem spontan ein, welches ältere Lied gemeint sein könnte. Man hörte Sari laut und in der Stille überdeutlich den Ton anpfeifen und gespannte Erwartung lag im Saal. Auch der Anfang, das gesungene Intro weckte keine Reaktionen. Häh? Was war ’n das? Mancher Fan ging vermutlich im hektischen Blitzdurchlauf alle ihm bekannten Songs durch und danach die aus dem Internet gezogenen Zusatzaufnahmen und fand keinen Haltepunkt. Aber diesen Oldie konnten sogar die ganz frühen Fans nicht auf Anhieb erkennen, denn mitten im Skandal/Live-Block gab es eines der ganz brandneuen Lieder: Sie bricht mir das Herz. War ja schon ein bisschen gemein, das einfach kommentarlos in die Oldies zu stecken, aber die Wise Guys konnten sicher sein, dass sich keiner im Saal mit einem Pfeifkonzert laut dagegen protestieren würde. Im Gegenteil. Nur wenige Zuschauer hatten das Lied bisher auf einem der letzten Konzerte gehört, für die meisten war es neu und eine schöne Überraschung. Sari rappte mal nicht superschnell los, sondern hatte gezogene und gedehnte Töne drauf, die mit der Begleitung der anderen lässig und bluesig durch den Saal zogen. Außerdem sang er die Leadstimme wirklich superschön und sie passte genau zu seiner Stimmlage.

Die unerwartete Wendung der Geschichte kam dann auch gut an und brachte vergnügtes, aber fast leises Gelächter, denn die wunderschöne, sentimentale Melodie reizte nicht zum lauten Lachen, sondern ließ unerfüllte, schmerzliche Liebe mit durch den Raum schwingen. Ich sag ja immer, dass an diesem Lied eine herzschmelzende, ernsthafte Ballade verloren gegangen ist.

Gleich danach der Root Beer Rag als Kontrastprogramm, und schon beim ersten „Wow-wow-wow-wow“ ging ein Jubelschrei durch das Publikum, das sich vielleicht auch nur vielstimmig freute, weil es das Lied sicher erkannte. Das Publikum freute sich aber auch weiterhin und lachte viel, was nicht nur am seltsamen Text und extremen Tempo des Liedes lag, sondern auch an Eddis Grimassen und den vielen witzigen Bewegungen.

Beim letzten, schnellen Satz wandte sich Eddi zu Sari, beugte sich dabei immer weiter vor, so dass Sari ihm ausweichend immer tiefer in Rückenlage kam und auf wundersame Weise sein Gleichgewicht hielt. Sah ein bisschen wie ein Limbotänzer ohne Stange aus, und Eddi hatte Spaß daran, ihn mit dem Finger langsam wieder hoch zu winken, ihn wieder nach unten zu schicken und erneut nach oben zu locken. Sari gehorchte wie eine Marionette und erhielt schon alleine für diese Körperbeherrschung jubelnden Applaus.

Liebevoll drückte ihm Eddi anschließend, als sie stehend den Applaus entgegennahmen, den Bauch wieder rein, damit das überdehnte Hohlkreuz zurechtgerückt wurde, und drehte ihn dann nach vorne zum Publikum. Sari dehnte sich mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht von rechts nach links, während der laute Applaus immer noch anhielt. Endlich wurde es ruhig, und er klagte, mit einer Hand noch die Wirbel am Rücken abtastend: „C 3 ist das, glaube ich. Ich hab das irgendwann mal sein gelassen, weil ich jedes Mal nach den Konzerten Rückenschmerzen hatte. Aber für die Totalnacht kannst du es ja noch einmal machen.“ Begeisterter Applaus entschädigte ihn für seine durchnummerierten, schmerzenden Wirbel.

„Wir wollten ja früher eigentlich Popstars werden“, sagte Sari. „Auch wenn es den Begriff so noch gar nicht gab damals, als wir angefangen haben. Zumindest hieß er irgendwie was anderes, und …“ Sehr amüsiertes Gelächter unterbrach ihn und auch Eddi lief mit breitem Grinsen über die Bühne. „Wir hatten uns schon total gefreut auf die kreischenden Teenies, das war irgendwie unsere Wunschvorstellung.“ Stichwortgemäß kreischten einige der Teenies los und zogen andere mit. Sari lächelte in den Lärm und sagte dann mit täuschend echter Paul Panzer Stimme: „Jetscht ischet doch tschu schpät!“, was noch größeren Jubel auslöste.

Mit normaler Saristimme redete er weiter: „Wir haben uns immer gefragt warum, und ich glaube, dass wir noch nicht reif waren. Vielleicht liegt auch in dem folgenden Lied eine kleine Erklärung dafür.“ Er gab den Ton an, stellte sich zur Seite und blickte dann zu Clemens, der immer noch grinsend, ganz im Zauber der Panzer-Moderation gefangen, unbeteiligt in der Gegend stand. „Ach ja!“ schlug der sich vor den Kopf und eilte in die Bühnenmitte, wo er mit ein paar Grimassen zeigte, dass ihm das etwas peinlich war, vergessen zu haben, dass er zur Arbeit und nicht zum Spaß auf der Bühne stand.

Bei Zu schön für diese Welt musste er voll mitarbeiten. Er war wichtig für den Rhythmus während der Strophen und sang beim Refrain mit Eddi und Sari zusammen die Hauptstimmen. Mitsingen und Mitklatschen war bei diesem Lied für das Publikum meistens schwierig, so dass eine Teilnahme nur in den Refrains kurz aufflackerte. Fast schade, dass Sari nicht mit der Stimme von Paul Panzer sang: „Schie ischt tschu schön für diesche Welt“. Das wäre allerdings nicht so überzeugend cool rübergekommen.

Noch im Applaus rief Dän mit etwas abgehackter Stimme: „Ihr seid super! – Supergut. – Echt. – Ja. – Danke!“ In normalem Tonfall redete er weiter und blickte dabei kurz auf die Uhr: „Es geht auf Mitternacht zu und mein Fussich-Julche-Modul hat sich selbständig aktiviert gerade.“ Et fussich Julche war eine Dame, die in Karnevalsveranstaltungen Stimmungslieder sang, von der ich aber außer dem Namen und dem Aussehen nicht viel kannte, weil ich diese Art von Karnevalsmusik nicht hörte. Vermutlich machte Dän sie gerade täuschend echt nach, um Sari mit seiner Paul Panzer Imitation zu toppen. Kam aber nicht so überzeugend rüber.

Dän wandte sich an das Publikum und klang durchaus ehrlich: „Kompliment erstmal bis hierhin, wir haben jetzt über die Hälfte rum. Tolles Publikum, macht sehr viel Spaß heute Abend, vielen Dank!“, was vom Publikum natürlich freudig und mit großem Applaus aufgenommen wurde. Dän nutzte die Klatschzeit, um halblaut ein kurzes Stimmungsliedchen anzustimmen, was er aber sofort abbrach, als es leise wurde. „Jetzt mal Spaß beiseite!“, ordnete er ernst an. „Ein Lied von Britney Spears in der deutschen Version.“

Die Zuschauer jubelten sofort los, um bei den ersten synchronen Bewegungen auf der Bühne noch lauter zu werden. Das waren schon Entzückensschreie, was immer man sich auch darunter vorstellen mag. Schlag mich baby war Gesang und Tanz im Stil einer Boygroup. Die Wise Guys waren in den Bewegungen so synchron, dass sie das vorher ganz sicher nochmal aufgefrischt haben mussten, denn es war wirklich klasse, was sie dort dem Auge boten. Ziemlich exakte, sehr schnelle Bewegungen, die dort endeten, wo sie enden mussten, in die gleiche Höhe gehobene Arme, und Köpfe, die sich zack!, zack! gleichzeitig von links nach rechts drehten. Das war schon nicht mehr die Parodie auf eine Boygroup, sondern eine richtig gute Choreografie-Ausführung.

Sogar das Schlussbild war perfekt aufgebaut, ohne dass links einer stehen blieb, während sein Gegenpart rechts in die Knie sank. Toll, toll. So muss es sein. Witzig und augenzwinkernd, dabei aber so gut, dass man als Zuschauer nur noch staunen kann. Mit sehr großem Jubel und langem Applaus erkannte das auch das Publikum sehr lobend an.

Während Sari und Clemens noch den Staub von den Hosenbeinen wischten, sagte Dän: „Wir kommen zum letzten Lied des dritten Blocks und …“ „Ooooooh!“ unterbrachen die Zuschauer bedauernd, und er grinste beruhigend: „Danach kommt ja noch der vierte, hö hö, und der fünfte.“ Er guckte auf seine Armbanduhr: „Es ist zeitlich …, na, nicht ganz, … wir hängen im Moment noch zwei Minuten. NACH dem Lied fünf Minuten. Aber gut.“ Er begann zu rechnen: „Wir fangen dann um … dreizehn … vor elf wieder an. Seien Sie pünktlich am Platz, denn wir haben einen sehr aufwändigen Umzug vor uns. Also wir ziehen uns jetzt gleich um und haben dann eine andere Montur an. Ist noch nicht Karneval, aber es lohnt sich dann schon, rechtzeitig wieder da zu sein.“ Na, das klang spannend.

Sari griff zur Stimmpfeife, und Dän sagte: „Zum Abschluss des dritten Blocks ein Lied, das auch ein bisschen dokumentieren soll, dass wir wissen, dass wir ein Team sind und eigentlich auch nur als Team richtig funktionieren.“ Ein superschöner Satz, der mir nicht nur einfach so gefiel, sondern auch zur Stimmung des Abends passte. Totalnächte waren Ausnahmesituationen, die nicht nur bei den Zuschauern, sondern auch bei den Wise Guys ein Zusammengehörigkeitsgefühl auslösten. Sie waren wie ein großes Fotoalbum, in dem man blätterte und in dem Erinnerungen an frühere Zeiten geweckt wurden, die man gemeinsam erlebt hatte, es hatte gleichzeitig aber auch den Bezug bis zum Heute. Schon als Zuschauer war es toll dabei zu sein, aber für die Wise Guys auf der Bühne musste es noch viel intensiver sein. Außerdem mussten sie den Abend auf der Bühne gemeinsam gut überleben, was zu Beginn einer langen Totalnacht immer etwas beunruhigend war und Sorge machte, ob alle Stimmen das gut mitmachen würden und ob nicht irgendwo der totale Textblackout einsetzen würde.

Sari pfiff an und setzte dann zu Jede Stimme zählt ein. Originellerweise sang er in seiner Strophe davon, dass er sich erkältet habe und nicht mehr mitsingen könne, was ziemlich nah an der Wahrheit lag und beinahe so eingetreten wäre. Im Verlauf der nächsten Strophen konnte man dann hören, was das für Auswirkungen gehabt hätte, wenn er selber, Eddi und vielleicht auch noch Clemens einfach nicht gekommen wären, denn planmäßig verschwand einer nach dem anderen.

Dän sang in seiner Strophe vom hohen Wasserkonsum, endete mit: „Meiner Stimme geht’s prima, da bin ich echt froh …“ und zappelte danach so gequält und verlegen auf der Bühne herum, dass er den Rest der Zeile gar nicht mehr singen musste, denn die Zuschauer reimten schon selber „Klo“ und lachten vergnügt los, als er fluchtartig hinter den Vorhang stürzte.

Eddi blieb alleine zurück und sang mit langen Pausen dazwischen: „zählt“ – – „fehlt“ – – „quem“ – -, machte dann eine extralange Pause, in der er abwartend guckte, und das Publikum setzte nach zwei Sekunden laut und lachend mit dem passenden „lem“ ein. Eddi kam zum Jodelteil. „Jodlhoohihiiiiii“ machte er laut, und in der Pause danach wiederholte eine männliche Zuschauerstimme das Thema als Echo, was großes Gelächter und Applaus brachte. Eddi wartete ab und sang die nächste Jodelstelle. Sie war sehr lang, sehr hoch und hatte einige ungewöhnliche, mordsschwere Schlenker am Schluss. Kaum war der letzte Ton gesungen, zeigte Eddi auffordernd in die Richtung des Echojodlers aus dem Saal, der es wiederholen sollte. Konnte der nicht, und die Zuschauer johlten los und lachten sehr über Eddis gelungene Ausbremsaktion. Der jodelte in schnellem Rhythmus weiter, so dass sofort der komplette Saal im Takt klatschend mitgerissen wurde.

Nach ein paar Durchgängen blinzelte Eddi mal vorsichtig nach hinten, denn eigentlich mussten seine Kollegen schon da sein und ihn von der Bühne holen. Es kam aber keiner, was ihn äußerlich kurz lachen ließ, innerlich aber vermutlich schon zu Überlegungen brachte, ab wann er selber die Bühne verlassen sollte oder ob er einfach bleiben und den vierten Block jodelnd bestreiten sollte. Die anderen Wise Guys standen derweil grinsend hinter dem Vorhang und schickten den Techniker Jörg los, der kam und Eddi am Arm von der Bühne zog.

Eddi jodelte dabei immer hektischer, riss sich los, erschien nochmal kurz im Scheinwerferlicht und lief dann jammernd jodelnd von alleine von der Bühne. Zwei Takte lang konnte man ihn noch hinter dem Vorhang hören, dann sprangen auch im Saal schon die Zuschauer auf und liefen schnell in Richtung Foyer. Das musste doch zu schaffen sein, ganz früh an der Theke zu sein, um schnell ein Getränk zu bekommen! Anscheinend hatte Bodo W. den Tipp mit dem viel bequemeren Catering in der Wise Guys Garderobe nicht weitergegeben. Und wenn jetzt einige Zuschauer diesen Tipp aufgreifen, sich merken und bei der nächsten Totalnacht plötzlich im Backstagebereich erscheinen, um dort Getränke zu holen, werde ich wohl Mordsärger bekommen.

Golden Eye
Der letzte Martini
Ich bin grumpig
Die Comedian Harmonists
Flunder gibt es immer wieder
Ein Herz und eine Seele
Mädchen lach doch mal!
Probier’s mal mit ’nem Bass
Oh Handy
Sie bricht mir das Herz
Root Beer Rag
Zu schön für diese Welt
Baby noch einmal
Jede Stimme zählt


Block 4 – ALLES IM GRÜNEN BEREICH 

Das Saallicht erlosch, die dritte Pause war vorbei, und während die Wise Guys im Laufschritt auf die Bühne kamen, eilten vor ihnen natürlich immer noch viele Zuschauer durch den Gang auf ihre Plätze zurück. Das war wohl unvermeidlich und hätte vermutlich nur durch den Aufbau von weiteren Getränkeständen und Toilettenkabinen im Foyer geändert werden können.

Das Bühnenoutfit war – wie von Dän versprochen – großartig. Nun ja, es sah aus wie vorher, nur dass die Anzugjacken fehlten. Ich will aber nicht meckern. Vielleicht hatten sie sich trotzdem in der Pause komplett umgezogen, Hosen untereinander getauscht, frische Socken angezogen oder zum Zweitanzug gegriffen, um selber nicht aus der Routine der hektischen Umzieherei zu kommen. Vielleicht hatten sie aber auch einfach nur die Jacken ausgezogen und dann minutenlang untätig im Backstagebereich herumgestanden.

Das Publikum jubelte ihnen zu, Sari pfiff einen sanften Anfangston, und der Wise Guys Opener begann. (Der ‘Wise Guys Opener’ ist der von früher. Nicht zu verwechseln mit dem ‘Opener A’ und dem ‘Opener B’ vom aktuellen Programm. Bei der Totalnacht 2014 werde ich an dieser Stelle vermutlich die Unterschiede bis zum ‘Opener P4’ erklären müssen.)

Den meisten Zuschauern war der alte Opener gut bekannt und sie sangen gut gelaunt mit. Inhaltlich war er nicht mehr ganz aktuell, aber das machte die Sache eigentlich noch interessanter. Ferenc versuchte den Text spontan zu aktualisieren und sang, dass Dän Student der Germanistik WAR. Das war dann zwar eine korrekte Aussage, die sich aber nicht mehr mit der folgenden Zeile reimte, so dass Ferenc, noch begeistert von seiner Idee Dän anstrahlte, dann aber verblüfft lachen musste, weil er feststellte, dass ihn diese kurze Änderung sofort aus dem weiteren Text geworfen hatte und er erst in der nächsten Zeile wieder einsteigen konnte.

Fröhliche Lacher im Publikum gab es auch als Clemens auf Ferenc zeigte und sang, dass der nach dem Duschen nicht mehr viel zu föhnen hätte. Dabei war das textlich aber auch früher schon korrekt gewesen, denn ich hatte Ferenc auch auf meinen ersten Konzerten nie mit wallender Mähne erlebt. So viel weniger als vor einigen Jahren war jetzt auch nicht auf dem Kopf. Nur kürzer. (Übrigens: alte Rechtschreibung: fönen, neue Rechtschreibung: föhnen. Da soll noch einer durchblicken. Oder durch blicken?) Clemens sang weiter im Text, dass Ferenc als Einziger ein Handy hat und schlug sich dann hämisch vergnügt auf das Bein, als er breit grinsend singen musste: „Er ist ja schon fast dreißig.“ Eddi sang bei der Vorstellung seines neben ihm stehenden Kollegen: „Er heißt zwar Marc, doch die meisten sagen …“ und wies auffordernd zum Publikum, das sofort mit einem lauten: „Sari!“ einsetzte. Sehr klasse!

Am Ende gab es einen langen Schlussakkord und ein laut jubelndes Publikum. Dieser Opener war übrigens mein vor Jahren erstes live gehörtes Lied beim ersten Konzert, und ich weiß noch, dass genau am Ende des dritten Satzes: „Wir sagen schönen guten Abend, meine Damen und Herr’nnn“, auf dem langen ’nnn‘, meine leichte Skepsis sehr plötzlich in große Liebe umschlug. Damit hatten sie mich.

„Hallo, hallo!“, rief Dän vor sich hin und wandte sich dann ans Publikum: „Hallo, herzlich willkommen zum vierten Block. Es ist bei diesen alten Liedern, man kommt immer in so einen Schnippzwang.“ Er führte es vor, indem er schnippend zu Eddi ging und dabei erklärte: „Wir rücken immer ganz nah zusammen und gucken auf den Boden. Das ist noch so drin. Irgendwie geil.“ Eddi hatte ebenfalls geschnippt und auf den Boden geguckt, hörte bei Däns letztem Satz aber auf und guckte ihn aufmerksam an. Dän hörte auch mit dem Schnippen auf, guckte zurück und meinte dann: „Ja, es ist nicht so richtig geil, aber es ist irgendwie …“ Er drehte zur Seite ab und versuchte zu erklären: „… faszinierend, was das psychologisch mit einem macht so ’ne Totalnacht.“ Mit Blick ins Publikum blieb er ruhig stehen, überlegte sichtlich und sagte dann: „Ähmmmmmm …“., was so ungewohnt war, dass die Zuschauer loslachen mussten. Nicht nur ich war anscheinend von der alten Zeit etwas überrumpelt.

Immer noch ernst sagte er: „Ein Block, in dem ich die Ehre habe, mir die Moderation mit Eddi teilen zu dürfen.“ Das Publikum jubelte auf, und er fuhr fort: „Eddis Moderationen in den letzten Jahren – landauf, landab gefürchtet. Und wir singen jetzt ein Lied über Freundschaft. Das ist also der Thema …“, er stockte kurz und betonte dann: „DER Thema des aktuellen Blocks ist ‚Alles im grünen Bereich‘, aber das Lied ist von der CD ‚Ganz weit vorne‘.“ Die Wise Guys stellten sich nah zusammen, das Bühnenlicht wurde schwächer und Bleib wie du bist begann. Das Publikum war wunderbar leise, was vielleicht auch an der vorherigen, etwas ungewöhnlichen Ernsthaftigkeit von Dän lag. Mit sanfter Stimme sang Dän die Hauptstimme, der Background war vorschriftsmäßig sanft, nur in den Refrains wurde es kräftiger und zog durch den Raum. Das Lied passte genau zur Stimmung, die in diesem Moment im Saal lag. Etwas sentimental, leicht lächelnd und sehr schön.

Als das Bühnenlicht wieder hell und weiß wurde, war immer noch etwas von der wunderschön ruhigen Stimmung im Raum. Dän machte lockere Anmoderationen, aber in seiner Stimme lag weiterhin eine ruhige Nuance, die Einfluss auf die ganze Atmosphäre hatte. Er strahlte eine große Zufriedenheit aus und man konnte spüren, wie sehr er das Konzert mit seinen langjährigen Kollegen genoss und dass es ihn nicht unberührt ließ. Entsprechend nett begann die nächste Ansage: „Meine Damen und Herren, wir haben das große Vergnügen, noch eine Hauptstimme von Ferenc zu genießen, mit Ihnen zusammen. Das ist jetzt ein bisschen verwirrend. Es ist ein Lied mit dem Titel ‚Haarige Zeiten‘, aber es stammt nicht von der CD ‚Haarige Zeiten‘, sondern von der CD ‚Alles im grünen Bereich‘. Das haben wir zu spät geschrieben, da war die ‚Haarige Zeiten‘ schon draußen und da haben wir es auf die nächste drauf …“

Er brach ab, und Ferenc stellte sich in die Mitte, vorfreudig grinsend, weil er wusste, dass das Thema ‚Haare‘ in Bezug auf ihn immer gut ankam. Als er dann von seiner Verzweiflung über die schwindende Haarpracht sang, konnte man ihm das überhaupt nicht abnehmen, denn er wirkte so selbstsicher und lässig zufrieden, dass bei den Zuschauern einfach kein Mitleid aufkommen konnte. Außerdem war Ferenc eben der Wise Guy mit den wenigen, kurzen Haaren. Wer wollte ihn anders? „Nichts ist so sexy wie Geheimratsecken“ wurde darum auch vom zum Teil haarigen Publikum mit Überzeugung laut mitgesungen.

Zum Schlussbild drapierten sich die anderen Wise Guys in beinahe anbetender Pose um ihn herum.

Eddi nahm genau diese Position vor Ferenc wieder ein, als der lange Applaus aufgehört hatte. „Die erste Moderation heute Abend werde ich aus dieser Pose heraus machen“, kündigte er an und begann: „Meine Damen und Herren, das folgende Lied … nee, das halt ich nicht durch“, und stand lachend auf. Er lief stattdessen zu der Stelle auf der Bühne, an der er beim nächsten Lied stehen musste und erzählte dabei, dass das folgende Lied entstanden war, weil Daniel in der Ölbergstraße wohnte – ein kurzer Blick zu ihm: „Das darf man jetzt, glaube ich, sagen, weil du da nicht mehr wohnst“, woraufhin Dän nickte und es sowieso zu spät gewesen wäre, wenn er verneint hätte. Eddi erwähnte ein Eiscafé an der Ecke und das Publikum jubelte los, weil spätestens da auffiel, dass sich Sari nicht mehr auf der Bühne befand.

Die meisten Zuschauer wussten beim Stichwort ‘Eiscafé’ und einem abwesenden Sari, dass Ich will keine a-cappella kommen würde. Eddi versicherte sich nur noch kurz bei Clemens: „Ist soweit klar jetzt? Dann fangen wir einfach mal an!“ In diesem Moment fiel ihm ein, dass er keinen Anfangston hatte, weil Sari mit der Stimmpfeife weg war, und er lief zum seitlichen Tisch, um den Ton dort auf dem kleinen Keyboard zu holen. Sari hatte das von der Seite beobachtet und blies laut den richtigen Ton, der von den Lautsprechern deutlich übertragen wurde. Gespielt verwundert hoben die Wise Guys auf der Bühne die Köpfe und guckten sich um, aus welchen himmlischen Sphären wohl dieser klangvolle Ton kam. Sehr spontan und sehr witzig!

Das Mitsingen des Intros von Publikumsseite brach kurzzeitig ab und wurde zum lauten Kreischen, als Sari mit offenem Hemd und darunter freiliegendem Oberkörper auf die Bühne kam. Kein Wunder, dass er nicht mehr Mathe- und Physiklehrer werden wollte, wo ihm so eine enthemmte Begrüßung beim Betreten der Klasse nur selten passieren würde. Auch die „sieben Euro funfzich“, die auf der Bühne so gut ankamen, würden im Klassenraum wohl er zum Gähnen herausfordern.

Sofort ging es weiter mit Einer von den Wise Guys, bei dessen Anfang Sari zunächst im Hintergrund etwas unsexy das Hemd zuknöpfen und umständlich rundum wieder in die Hose schieben musste. Das war dann ‚Marcello Sarini im Alltag‘. Ansonsten machten die Zuschauer klatschend, lachend und singend mit, was durch den knallenden Rhythmus der Mouthpercussion sehr unterstützt wurde.

Dän führte zurück zur CD ‚Alles im grünen Bereich‘ und erzählte, dass es 1997 viele Veränderungen gegeben hatte. Die Wise Guys standen auf der Schwelle zum Profitum, bekamen einen Vertrag von der EMI angeboten und hatten einen TV-Auftritt bei ‚Geld oder Liebe‘. Er kommentierte: „Falsches Lied gesungen. Das war blöd. Und dann ist Lady Di an dem Tag gestorben, auch blöd. Dadurch war die Quote nicht so, wie sie hätte sein sollen. Und auch blöd für Lady Di natürlich.“ „Ho ho ho“, lachten die Zuschauer, und Eddi und Clemens drehten sich breit grinsend zur Seite.

Dän erklärte – mit immer noch ernsthaften und ruhigen Untertönen in der Stimme -, dass sie sich damals zum ersten Mal getraut hatten eine echte Ballade aufzunehmen. „Wir haben die ersten Jahre eigentlich alles immer nur witzig und schnell gemacht, und 1997 gab es Anlass genug, auch mal ein Lied zu schreiben, das ein bisschen trauriger ist. Das Lied heißt Wie kann es sein.“ Er trat ruhig zurück in die Mitte seiner Kollegen, und nur wenige, auffallend zaghafte Jubler waren im Saal zu hören. Das lag nicht an der mangelnden Vorfreude, sondern an der liebevoll-ruhig-sentimentalen Stimmung, die Dän verbreitete. Nicht nur das ruhige Lied, sondern auch der Blick auf die Bühne war völlig entspannend, denn die Wise Guys standen fast bewegungslos mit hängenden Armen nebeneinander und konnten sehr leise singen, ohne dass ein Ton im Saal verloren ging. Wunderbar.

Auch ein ganz großes Lob an das Publikum, das die Stimmung anfnahm und fast atemlos ruhig blieb. In diesem Fall konnte der Endton sogar ganz langsam verklingen, ehe der Applaus los ging. Kein Gejohle oder lautes Gejubel störte ihn, keiner traute sich mit übermäßigem Lärm die stimmungsvolle Atmosphäre zu stören. Das schafften die Wise Guys dann ganz alleine, als sie sich wieder aufstellten und Dän in die gespannte Stille hinein mit einem gequetschten: „Eins – zwei …“ den Anfang vom Tekkno begann. Laut brach der Jubel hervor, der wartend in den Sprunglöchern gesessen hatte, weil es davor zwar stimmungsvoll und ruhig, aber gleichzeitig hochspannend gewesen war.

Harte Tekkno-Rhythmen zogen jetzt durch den Saal, die Scheinwerfer produzierten flackerndes Discolicht und die sentimentale Stimmung wurde mit Kraft weggeklopft. Es wurde wieder laut und jubelnd in der Stadthalle. Ein auf und ab in der Stimmung, das in dieser Mischung wunderbar war. Die leisen Töne gehörten ebenso dazu wie das laute Geschrei.

Eddi sagte danach, dass der Tekkno lange Zeit DER Hit im Programm gewesen war und fuhr eindringlich fort: „… und wir haben es ganz schwer gehabt, das dann irgendwann loszuwerden. Das wollte ich Ihnen auch mal erzählen.“ Die Zuschauer lachten amüsiert los, weil er dabei so ernst und entschlossen wirkte.

Dann kam er auf das nächste Lied zu sprechen, erzählte von einem Abend im Jahr 2000 im Atelier-Theater, wo sie einen Klavierkabarettisten gesehen hatten, der ihnen positiv aufgefallen war. Schnell beeilte er sich: „Und es war NICHT Bodo Wartke!“ einzuwerfen. „Der Typ war WIRKLICH jung“, was empörtes Gelächter im Publikum auslöste, weil Bodo Wartke nicht mal 30 war. Seine Kollegen sahen aufmerksam der weiteren Moderation zu. „Na, relativ zu JETZT“, versuchte Eddi zu erklären. „Der war irgendwie achtzehn oder neunzehn. Wir haben ihn dann gefragt, ob wir ein Lied von ihm singen können und …“ er zeigte ins Publikum und sagte eine Spur lauter und unüberhörbar vorwurfsvoll: „Bodo, das solltest du dir allerdings wirklich anhören: Er hat es dann für uns arrangiert!“ Das Gelächter des Publikums ging in ein mitleidiges „Oooooh!“ über, und ich wusste nicht, ob das Bodo galt, der als bis eben noch lächelnder Zuschauer plötzlich solche Vorwürfe anhören musste, oder ob das den Wise Guys galt, die sich selber hatten bemühen müssen, die Klavier- und Singnoten von ‘Monica’ auf fünf Stimmen zu verteilen. Eddi stellte noch fest, dass es das einzige Lied im Wise Guys Repertoire war, bei dem Text, Musik und Arrangement komplett von jemand anderem gemacht war. „Tom van Hasselt“, nannte er nur noch, und alle freuten sich auf die Philosoffen.

Die fingen auch ganz gut an, und es war nicht zu ahnen, dass sich hier der erste heiße Kandidat für einen der vorderen Texthänger-Preise finden würde. Die erste Strophe wurde von Eddi und die zweite von Clemens problemlos absolviert. Dann setzte Eddi erneut ein, um den Refrain zu singen. „Die Philosoffen war’n alle besoffen“, sang er freudig und machte unbeschwert mit dem Text des nächsten Refrains weiter. Also nicht: „Das ist kein Witz und auch kein Neid“, sondern: „Sie sah’n der Wahrheit ins Gesicht.“ Aber schon nach zwei Worten stockte er, zum einen, weil ihm wohl selbst auffiel, dass da etwas seltsam war, zum anderen, weil der Mitgesang aus dem Publikum anders klang. In Denkerpose, passend zum Lied, aber auch zu seiner deutlich einsetzenden inneren Hirnaktivität, hielt er den Finger an die Stirn und ließ den vom Publikum laut und deutlich eingesungenen Text auf sich wirken. „Echt?“ drehte er sich dann zu Clemens um, der ihm zustimmend zunickte, was aber im Takt seiner gesungenen Dut-Duts geschah, so dass ich nicht hätte beschwören wollen, ob es Nicken oder rhythmisches Singen war.

Ab der fünften Zeile war Eddi dann wieder sicher dabei und blieb es – bis zum nächsten Refrain. Wieder sang er freudig von den Philosoffen, die alle besoffen waren, hörte dann mit dem Singen auf und lauschte, was ihm das Publikum vorsang. Vermutlich sicherheitshalber, ehe er wieder daneben lag. „Sie sah’n der Wahrheit ins Gesicht und waren hackestrunzendicht“, sangen die Zuschauer laut, und Eddi sagte verständnislos und leicht anklagend: „“Habe ich doch eben gesungen!“, ehe er wieder in den weiteren Text einstieg.

Die nächste Strophe gehörte Dän, und das Publikum sang inzwischen hilfreich und ziemlich laut mit. Das fand der aber nicht so gut und sang die Zeile: „Na, wie soll denn das jetzt …“ so verzögert, dass das Publikum schon mit dem „geh’n“ fertig war, ehe es merkte, dass Dän eine kurze Pause gemacht hatte, um das „geh’n“ triumphierend alleine zu singen. Noch bevor wieder jemand auf den Textzug aufspringen konnte, rasselte er: „Im Suff hat man Ideen!“ runter und war fertig. 1:0 für ihn, und er ahnte da noch nicht, dass er später über eine zuverlässige Mitsingerei des Publikums sehr dankbar gewesen wäre. Aber ich will nicht vorgreifen, sondern gemeinerweise nur neugierig machen. Das Publikum war bei diesem Lied jedenfalls nicht mehr zu stoppen und sang bis zum Schluss kräftig mit.

Dän erzählte zum nächsten Lied, dass es von der Gruppe ‚Strombolis‘ war, der damals Stefan Gwildis angehörte, der dieses Lied auch mitgeschrieben hatte. Ich mochte Stefan Gwildis, ich mochte die Strombolis und ich mochte Genurjanie Indibarda. Alles drei sehr.

Das Lied hatte es übrigens bei meinen ganz frühen Wise Guys Konzerten schon gegeben, war dann einige Zeit nicht mehr im Programm gewesen, bis es plötzlich wieder auftauchte und noch besser geworden war. Sanfte südamerikanische Klänge zogen durch die Mülheimer Stadthalle, und zu beobachten, wie sorgfältig und hingebungsvoll Clemens das Rasselei hin und her schwenkte, war allein schon sehenswert.

Allerdings kam mir das Lied etwas zu langsam vor und hätte bei aller wunderschönen Sanftheit einen Tick mehr südamerikanisches Temperament gebrauchen können. Vielleicht hätte ich vorher mal unauffällig das Foto einer brasilianischen Bikinifrau am Strand der Copacabana auf den Bühnenboden kleben sollen, um die Pulsfrequenz der Herren etwas zu erhöhen.

Sofort danach ging es mit Du kannst nicht alles haben weiter, und die Zuschauer sangen textsicher mit und setzten vorschriftsmäßig mit den Klatschern ein. Die Stelle mit den NICHT-Klatschern näherte sich, und die Wise Guys kamen als enge Gruppe zusammen und hoben schon abwehrend die Hände, um wirklich jedem zu signalisieren: „Achtung, aufpassen!!“ Dän winkte auffällig mit dem Finger ab, Sari signalisierte Nein!, und trotzdem setzte eine kleine Gruppe Klatscher links vorne ein. Die Sänger auf der Bühne guckten gespielt verzweifelt, aber Eddi hatte beim Weitersingen einen hörbaren Lacher drin. Und während die anderen Guys etwas vorwurfsvoll in die Klatschrichtung guckten, rief Eddi noch ein „Dankeschön!“ hin und freute sich richtig. 

Nach dem Applaus guckte er in die Klatscherecke und gab zu: „Vielen Dank! Die Stelle ist immer blöd, wenn dann DOCH KEINER reinklatscht, ehrlich gesagt. Wir tun natürlich immer so, als wenn wir uns ärgern.“ Die Zuschauer lachten wohlwollend, denn so ähnlich hatten sie sich das fast gedacht. War doch auch immer zu schön, wenn irgendwelche Leute das nicht kapiert hatten und so blöd reinklatschten. Haha. War einem früher vielleicht mal selber passiert, als man noch Anfänger war, aber inzwischen ja schon lange nicht mehr.

Eddi stellte in Ruhe sein Wasserglas auf dem Tisch ab und sagte dabei: „Das folgende Lied ist ein Beispiel dafür, dass wir wiederum von den Medien …“,, und hier fing er an laut und wütend zu brüllen: „SYSTEMATISCH FERTIG GEMACHT WURDEN im Laufe unserer Karriere!“ Ferenc, der unmittelbar neben ihm stand, zuckte zusammen und wich ihm erschrocken aus, und die Zuschauer machten mitleidig, aber unbeeindruckt: „Ooooooh!“ Da musste Eddi dann selber loslachen und er erzählte mit normaler Stimme weiter, dass sie die Titelmusik zu einer Wissenschaftsshow gemacht hatten und sie jetzt ein acht Sekunden langes Tonbeispiel davon geben wollten. Eddi zählte langsam: „One, two, three, four“ vor, und Besserwisser kam langsam, aber doch wunderbar swingend rüber. Also mir gefiel es so. Aber nach nur einem Satz brach Eddi mit: „Und so weiter“ ab, und das Publikum reagierte enttäuscht. Eddi erläuterte mit erstem Gesicht, dass sie, weil das Projekt nie richtig lief, das Lied zur Strafe viel, viel schneller aufgenommen hätten. Er blieb mit dieser Erklärung unglaubwürdig.

Es wurde schneller vorgezählt und das Lied startete nochmal, aber im Originaltempo. Schneller Text, im Refrain mit hakeligen, sehr ähnlichen Wörten versehen, aber alle kamen zuerst noch gut durch. Die unangefochtene Königs-Texthängerstelle kam erst im Verlauf der ersten Strophe, und der König war Dän. Unbesorgt und lässig glitt er noch auf den „Schlittschuhen“, guckte dabei Eddi an und kam ins Schliddern. Die Frage ist, ob er rauskam, weil er Eddi anguckte, oder ob er ihn anguckte, weil er merkte, dass er rauskam. Das Ergebnis war auf jeden Fall ein plötzlicher Rutsch in die zweite Strophe, wo er an musikalisch gleicher Stelle mit dem anderen Text weitermachte. „Warum muss ich niesen, wenn ich in die Sonne schau“, war noch aus der ersten Strophe, der Folgesatz: „Gibt es bess’re Milch von glücklichen Küh’n?“ schon aus der zweiten. Dän fiel sofort auf, dass etwas nicht stimmte, und er nahm die Hand an das Kinn und guckte andächtig konzentriert in die Ferne. Gleichzeitig musste er aber weitersingen und der nächste Satz musste sich irgendwie auf „in die Sonne schau“ reimen. Nach „schau“ kam sonst immer „blau“. Hoffnungsvoll sang er: „Warum ist der Schaum in der Badewanne … blau?“ Nee, das stimmte nicht, und er setzte etwas zaghaft: „Das Shampoo war doch vorher noch grün“ hinterher. Eddi klappte lachend, aber immer noch singend neben ihm zusammen, während Dän, textlich weiter fest in der zweiten Strophe verhaftet, über den frustrierten Bleistiftstrich sang, dabei aber immer noch mit der Hand am Kinn in die Ferne starrte und wusste, dass er irgendwie völlig falsch im Text war.

Vermutlich wirbelten in diesem Moment alle Sätze des Liedes in hohem Tempo quer durch seinen Kopf und er versuchte, sie irgendwie anzuhalten und in eine Reihenfolge zu bringen. Seine Kollegen machten zum Glück alle seine Sprünge mit und passten sich sofort der neuen Textsituation an, die so verwirrend war, dass selbst das Publikum nicht hilfreich einsetzen konnte, sondern fasziniert, aber freudig lachend zusah und die Reihenfolge selber nicht zusammen bekam. Es war ja nicht grundsätzlich falsch, was Dän sang, sondern nur etwas ungeordnet. Über einige textsichere Mitsänger hätte sich Dän in diesem Fall ganz sicher sehr gefreut und bestimmt nicht wieder versucht, sie auszubremsen.  

Dann war wieder der Refrain dran, ein festes Gerüst, an dem sich Dän hochhangeln konnte. Der lief. Am Ende fragte er halblaut und leicht verzweifelt: „Wie kommen wir da wieder raus?“, und begann sichtlich gespannt mit der nächsten Strophe. Die lief aber, abgesehen davon, dass er die meisten Zeilen schon gesungen hatte, und dass er so auf Farben konzentriert war, dass er: „Wie wird das Essen in der Microwelle weiß“, sang und sofort laut in: „HEISS!!“ korrigierte. Dafür schaffte er es, zu seiner eigenen Beruhigung, den Schaum in der Badewanne korrekt in weiss und das Shampoo in grün zu halten.

Das Ende der Strophe hatte er eben schon gesungen und musste es jetzt wiederholen. Er guckte zum lachenden Eddi und sang: „Und ich frage mich – IMMER NOCH – ist ein Bleistiftstrich, den man ausradiert, nicht total frustriert?“ Bei „frustriert“ warf er ärgerlich die Arme hoch. Dass ihm das passieren musste! Der Schluss-Refrain war dann fast wie Hohn, denn er handelte nur vom Wissen, vom Nicht-Wissen und vom Besserwissen – Sätze, die Dän persönlich treffen mussten.

Nach dem letzten, kurzen Schlusston knurrte er ärgerlich: „Mann, Mann, Mann“, hob die Arme und entschuldigte sich beim Publikum: „Sorry, tut mir Leid!“ Das jubelte allerdings fröhlich und war bestens gelaunt. Dän ging zur Seite, trat verärgert in die Luft, warf die Arme wie ein beleidigter kleiner Junge um sich und fand es sichtlich total blöde, dass ihm das passiert war. Dabei hätte er stolz sein können, denn den Texthänger-Preis und Königstitel würde ihm auf dieser Totalnacht wohl keiner mehr entreißen können. War er aber nicht. Ich bin mir aber auch sicher, dass er sich nicht wünschte, dass einer seiner Kollegen nach ihm noch tiefer in den Textsumpf tauchen würde, nur damit der Preis nicht bei ihm landen würde.

Es ging tendenziell lustig weiter mit Buddy Biber, aber das Gelächter blieb verhalten, denn keiner der Zuschauer wollte durch überlautes Gelächter etwas von der spannenden und unglaublichen Choreografie verpassen. Dass Eddi zu Beginn nach rechts und wieder zurück in die Reihe lief, lag allerdings nur daran, dass er seine Brille auf dem Tisch ablegen wollte, und gehörte nicht zur Story. Fast atemlos und nur durch leise, sehr amüsierte Lacher unterbrochen, schauten die Zuschauer erst dem Gang von Eddi, dann aber dem gesamten Stück sehr fasziniert zu. Ein gesungener, mimisch dargestellter Comic – sehr klasse.

Eddi wollte danach noch einen Schluck Wasser trinken, bevor er die nächste Moderation machte, und forderte auf: „Sie können ja in der Zwischenzeit überlegen, wie man …“, er machte einen der seltsamen Comicschreie vor: „Üüüjäääääääääjäääääääiiiiii schreibt!“ (Nun, ich denke, ich bin im Schriftbild nahe dran.)

Eddi trank, stellte sein Glas rechts auf dem Tisch ab und ging quer über die Bühne nach links, wobei er: „Ist doch ganz einfach“, sagte, den Schrei wiederholte und dazu passend große Wellenlinien in die Luft schrieb. Seine Kollegen beobachteten ihn stumm, und kaum war er links angekommen, schlug er sich vor den Kopf, rief: „Andere Seite!“ und kehrte an das rechte Bühnenende zurück, was viel Gelächter auslöste. Ferenc guckte ihm mit großen Augen nach und grinste dann amüsiert los, während Dän mal kurz auf die Uhr blickte. Sari machte beruhigende Handbewegungen zu ihm, und Clemens schüttelte grinsend den Kopf und nahm dann, um die eigene Fassung nicht zu verlieren, eine Hand vor die Augen.

Eddi stellte sich rechts auf, holte tief Luft und grinste dann freundlich, aber ungewollt doch irgendwie so, dass die Zuschauer schon wieder in Gelächter ausbrachen. Mit fester Stimme sagte er: „Das nächste Lied ist eher ruhig“, was sofort wieder Gelächter losbrechen ließ, nach dem Hin und Her, das er eben veranstaltete hatte. Er guckte zu seinen Kollegen und beschwerte sich: „Ich weiß nicht, warum die mich aufgeschrieben haben, das anzusagen. Das war irgendwie ’n Fehler.“ Clemens guckte stumm grinsend geradeaus und nickte mit Überzeugung. Eddi klagte: „Ich wusste auch nicht, dass es hier so geht, also, ja, eine ruhige Ballade aus unserem aktuellen Programm. Es geht darum, dass es nicht leicht ist Beziehungen zu beginnen.“ Wieder gab es amüsiertes Gekicher, und Eddi hätte jetzt fast alles sagen können und dafür immer fröhliche Reaktionen geerntet.

Das Licht ging fast aus, nur Clemens in der Mitte wurde beleuchtet, und die Romanze war dran. Immer wieder war irgendwo im Saal noch Restgelächter zu hören und das Lachen saß weiterhin locker, aber die ruhige Atmosphäre überwog schließlich und erst am Ende brach ein Lach- und Applaussturm los.

Dän kam nach vorne und wies darauf hin, dass sie mit dem nächsten Lied auch den vierten Block beenden würden und dann 56 Lieder vorgetragen hätten. Auf das enttäuschte „Oohh!“ hin, das für das Beenden des Blockes gedacht war, entgegnete er: „Dann kommen noch 14 und dann ist die Wise Guys Totalnacht 2006 schon zu Ende.“ Den Beginn des fünften Blockes legte er auf Mitternacht fest, was nicht nur der nächste Tag, sondern auch der Beginn der Karnevalszeit war.

„Wir beenden also jetzt diesen Block.“ Dän drehte sich zu Eddi um: „Es hat sehr viel Spaß gemacht, mit dir zusammen durch diesen Abend führen zu dürfen. Ich hoffe, ich komme auch mal in DEINE Show, irgendwann“, und schallendes Gelächter ,nicht nur aus dem Saal, sondern auch von der Bühne, kam zur Antwort.

Zum Publikum gewandt sagte Dän: „Bevor das jetzt also quasi …“ Er brach ab und drehte sich zu seinen Kollegen: „Je mehr man ‚quasi‘ sagt, desto später der Abend. Das ist immer deutlich ein schlechtes Zeichen. QUASI.“ Er drehte sich zurück zum Publikum: „Wir möchten, bevor wir euch jetzt alle in die Pause schicken, ein bisschen auch von euch noch hören. Sing mal wieder.“

Das konnte er haben. Schon beim Intro wurde laut und kräftig mitgesungen und dazu im Takt geklatscht. Die ersten Zuschauer verließen zwar den Saal, aber nur, um an der Garderobe ihre abgegebenen Tüten mit den Kostümen zu holen und sich in den noch leeren Toilettenräumen schnell umzuziehen. Die anderen sangen kräftig die von Eddi vorgegebenen Ton- und Geräuschfolgen nach. Es war das perfekte Lied, um topfit, wach und mit frisch angekurbeltem Blutdruck in eine beschwingte letzte Pause zu gehen.

„Ihr seid super!“ rief Eddi noch in den Lärm von Applaus und Gejohle, dann liefen die Wise Guys im Laufschritt von der Bühne und viele Zuschauer eilten zur letzten Pause. Es blieben 12 Minuten bis Mitternacht.

Wise Guys Opener
Bleib wie du bist
Haarige Zeiten
Ich will keine a-cappella
Einer von den Wise Guys
Wie kann es sein
Tekkno
Die Philosoffen
Gehnurjanie Indibarda
Du kannst nicht alles haben
Besserwisser
Buddy Biber
Romanze
Sing mal wieder


Block 5 – GANZ WEIT VORNEA

In der letzten Pause war das Umziehen am aufwendigsten. Nicht nur einige Fans zogen sich im Foyer und in den Toilettenräumen um, auch backstage in den Garderoben wurde nach bis dahin in den Ecken verstauten Tüten gegriffen und eilig nach den Einzelteilen der Karnevalskostüme gekramt. Um Mitternacht begann Weiberfastnacht und damit der Karneval, was mit jahreszeitlich korrekter Kleidung auf der Bühne gezeigt werden sollte.

Bei den Wise Guys waren die Kostüme bis zu diesem Zeitpunkt meistens sogar den Kollegen unbekannt, was die ganze Sache noch spannender machte. Würden diesmal alle fünf zufällig das gleiche Kostüm haben? Und wenn nicht, wer sah am beklopptesten aus? Wer hatte die originellste Idee gehabt und wer einfach eilig im Fundus gekramt? Weitere, nicht unwichtige Fragen waren: Kann der fürs Singen notwenige Sender im Kostüm gut untergebracht werden und hält die Kreation die Bühnenshow aus? Nicht alles, was vor dem Spiegel gut aussah, überstand heftige Bewegungen und wilde Akrobatik. Viel Zeit für Korrekturen und Abänderungen blieb nicht, denn die Pause war blitzschnell zu Ende.

Inzwischen war es 0:03 Uhr, es war Karneval, die Pause war schon drei Minuten überzogen, der letzte Block der Totalnacht 2006 stand unmittelbar bevor und Eddi hatte Geburtstag. Die Wise Guys waren fertig umgezogen und warteten neben dem Bühnenaufgang hinter dem Vorhang. Der Seitenbereich der Bühne war dunkel, nur die Lampen im Vorraum und im Saal brachten ein wenig Licht, so dass die Wise Guys schemenhaft im schwachen Gegenlicht zu erkennen waren. Es war wenig Platz und die Geräusche des vorfreudigen Publikums waren als verwirrender Klangbrei laut zu hören. Wie isoliert von der restlichen hellen, lauten Welt standen sie dort als enge Gruppe zusammen in den letzten ruhigen Momenten, gratulierten Eddi und umarmten ihn, ehe sie gleich lachend und energiesprühend auf die Bühne laufen würden. Nach einem langen, gut gelaufenen Abend würden sie auch noch den letzten Teil gemeinsam schaffen. Obwohl sie seltsame Kleidung trugen und eigentlich zum Lachen aussahen, war dieses gemeinsame, ruhige Bild von ihnen, umgeben von einer hellen, lauten Umgebung, überhaupt nicht lustig, sondern einfach sehr schön.

Es war 0:05 Uhr und das Publikum hielt es kaum noch aus. Das Saallicht war schon heruntergefahren und viele wussten, dass Eddi Geburtstag hatte. Wo blieb der denn? Die ersten Zuschauer setzten laut singend ein: „Viel Glück und viel Segen …“ und sofort stiegen auch die anderen ein, selbst die, die keine Ahnung hatten, für wen das galt. Doch da kam Mensch mit langem Ringelhemd und weißem Bademantel auf die Bühne. Er trug eine starke Brille und eine dicke, rote Nase. Große weiße Lockenwickler rundeten das Bild ab, und weil er den gesungenen Gruß lächelnd annahm, war es ziemlich wahrscheinlich, dass er das Geburtstagskind war. Wer immer das auch war. Ach ja, Eddi.

Langsam betraten auch seine Kollegen die Bühne, während Eddi am vorderen Bühnenrand mit dem Dirigieren begann und so den inzwischen stehenden Zuschauerchor zu einem Kanon brachte. Während sonst der fünfte Block immer mit lautem Gelächter und viel Geschrei über die bis dahin geheim gehaltenen Kostüme der Wise Guys begann, ging es diesmal ungewöhnlich ruhig und fast seriös zu. Ein plötzlich eintreffender Besucher hätte fünf komisch gekleidete Typen auf der Bühne gesehen, die sich verhielten, als wären sie völlig normal angezogen, von denen vier abwartend neben einem standen, der im Bademantel und mit Lockenwicklern auf dem Kopf ein überwiegend unkostümiertes Publikum dirigierte, das ganz ernsthaft einen Kanon sang. Es hatte etwas von Loriot, war aber trotzdem von der Stimmung her schön, was auch am Lied lag. ‘Viel Glück und viel Segen’ passte inhaltlich zu Eddi besser als ’Happy birthday’.

Nach einem weiteren Kanon-Durchgang winkte Eddi mit breiter Geste ab, was aber nicht alle Sänger verstanden und weitermachten. Eddi blickte demonstrativ auf die Uhr und signalisierte ein Stopp-Zeichen, denn es wäre blöde gewesen, jetzt so viel Zeit zu verlieren, die irgendwo wieder aufgeholt werden musste. Auch das half nicht, wobei nicht demonstrativ und aus Prinzip weitergesungen wurde, sondern weil viele Leute merklich nicht wussten, wo sie aufhören sollten. Mitten im Satz oder gruppenweise ausklingen lassen? Da griff Dän souverän ein, rief ein lautes: „Dankeschön!“ und begann zu applaudieren. Natürlich setzte das Publikum sofort ein, klatschte mit, und es war nicht schwierig, nach einer deutlichen Tonangabe von Sari dann auch Ruhe zu bekommen.

„Ich bin in Köln am Rhein geboren“ begann es sanft, und im Saal wurde es sofort leise. Es war Karneval, es war in Köln, es war ein romantisches Lied und es war ein NEUES Lied. Schunkeln hieß es, war wunderschön, und schon beim ersten Refrain hatte der Dreivierteltakt das Publikum gepackt, das reihenweise untergehakt schunkelte.

Obwohl der von Clemens gesungene Text diese naive Bewegungsfreude irgendwann hätte stoppen müssen, machte er eher noch mehr Spaß daran. Auch die vier Kollegen auf der Bühne bewegten sich im Takt hin und her und entwickelten sogar noch eine spontane Choreographie für die Hände, in die, zur Freude des Publikums, einer nach dem anderen einstieg. Als Clemens sich plötzlich umdrehte und vorwurfsvoll zu ihnen schaute, hörten sie verschreckt damit auf und Sari zeigte anklagend auf Eddi: Der hat angefangen!

Mit Energie und scheinbar großer persönlicher Freude motzte Clemens in den Schlusszeilen das vor ihm schunkelnde Publikum an, das ihm das jedoch überhaupt nicht übel nahm, sondern am Ende des Liedes lachend und johlend applaudierte.

Einziger, sehr persönlicher Kritikpunkt: Die Stelle „Mir bleibt nur die Flucht Richtung Sylt oder Föhr“ finde ich zwar nett, würde sie aber textlich abändern in: „… die Flucht in den Eierlikör“. Leider konnte ich Dän bisher nicht davon überzeugen. Ich weiß nicht, wieso ich darauf komme, aber das sind die Worte, die mir an dieser Stelle sofort und heftig in den Sinn kommen. Weibliche Intuition wahrscheinlich. Oder eine geheime Vorliebe für Eierlikör?

Während des Liedes war schon Zeit zum Betrachten der Karnevalsoutfits geblieben, aber erst beim Jubel nach dem ersten Lied zeigte sich die Freude darüber laut. In den Lärm hinein rief Dän wie bei einer Karnevalssitzung: „Leev Närrine und Narre, hätzlisch willkomme, dreimol Kölle …“ „Alaaf, Alaaf, Alaaf!!“ brüllten die Zuschauer und warfen die Hände zum karnevalistischen Gruß nach oben. Mit normaler Stimme fuhr er fort: „Willkommen zum fünften und finalen Block der Wise Guys Totalnacht. Wir möchten uns kurz einzeln vorstellen, was wir darstellen, das ist nicht bei allen ganz klar.“ Er blickte sich dabei zu seinen Kollegen um, dabei sah er selber sehr undefinierbar und nach Erklärungsbedarf aus.

Clemens sagte knapp: „Hexe“, was Gelächter auslöste, weil es sowieso deutlich zu erkennen war. Das lange schwarze Kleid stand ihm übrigens ausgezeichnet und seine Bewegungen waren fließender und sanfter als sonst. Außerdem hatte er etwas, das ihm selber sehr gefiel: Er fasste mit beiden Händen an seine gut ausgestopften Brüste, bewegte sie hoch und runter und wiederholte breit grinsend: „Hexe.“ Ich persönlich fand seine Schuhe, die richtige, originale Hexenschuhe waren, einfach großartig. Schwarz, spitz und genau so, dass ich mir vorstellen konnte, wie darin grüne, krumpelige Füße steckten. Dass er sie sonst als ganz normale Schuhe auf der Bühne zum schwarzen Anzug trug, war kaum zu glauben. Mit Anzug dachte ich jedenfalls nie an grüne, krumpelige Füße bei ihm.

Eddi neben ihm balancierte schon auf einem Bein, um am anderen hochgestreckt einen seiner übergroßen, rot-weiß-blauen Schuhe zu zeigen. Hüpfend und fast das Gleichgewicht verlierend rief er: „Amerikanischer Präsident … oh …“ stieß rückwärts gegen Clemens und musste das Bein wieder abstellen. OK – farblich kam das hin und war zu glauben. Außerdem erinnerten seine Lockenwickler auf dem Kopf ein wenig an den Strahlenkranz der Freiheitsstatue. Wenn man Phantasie hatte – und die hatte ich.

„Isch bin de Powerfrau!“ rief Sari mit vermutlich sächsischem Dialekt, der dafür sorgte, dass noch Tage später in Zuschauerkreisen gerätselt wurde, ob er „Powerfrau“, „Bauerfrau“ oder „Mauerfrau“ gesagt hatte. Optisch hätte alles gepasst, von der Trümmerfrau bis zur ländlichen Bäuerin, aber der Staubwedel in seiner Hand wies dann doch auf eine hausfrauliche Powerfrau hin. Allerdings in ungeheizter Wohnung, wie die Mütze auf dem Kopf nahelegte, die übrigens ein aufwändiges Häkelmuster hatte. Da hatte der Sari vermutlich viele Konzertpausen hindurch fleißig dran gearbeitet. Nun, es hatte sich gelohnt.

Dän hatte ein fledderiges, weißes Bettlakenkostüm an, trug eine Hühnerkappe auf dem Kopf, deren gelbe Beine ihm wie kleine Asterixzöpfchen vor den Ohren baumelten, trug eine weiße Augenmaske und hob einen an einem Seil hängenden Plüschstorch hoch. „Ich gehe in diesem Jahr als Vogelgrippe“, sagte er, und ein Lachsturm brach los. Er hob den Storch etwas höher und erklärte sicherheitshalber: „Das is’n Schwan hier.“

(Anmerkung für Leser, die den Bericht später als im März 2006 lesen: In den Tagen vor der Totalnacht wurden auf Rügen die ersten toten Schwäne mit Vogelgrippe gefunden und es wurde in allen Medien davon berichtet, weil nicht klar war, wie gefährlich diese Seuche werden konnte.)

Dän drehte sich zu Ferenc um, der in einem roten Overall mit Taucherausrüstung und einem übergeworfenen Netz mit Muscheln und Pflanzenranken neben ihm stand und bewegungslos auf den erhängten Storch, der ein Schwan war, starrte. Nach einigen Sekunden wendete Ferenc fast abrupt den Kopf nach vorne und wirkte etwas verwirrt. „Ja, ich … hatte nicht so viel Zeit mir was auszudenken, … ich …“ Eine weibliche Stimme aus dem Publikum rief laut und deutlich: „Unter-Wasser-Müll-Mann!“ und die Zuschauer lachten los, während Ferenc dankbar: „Genau!“ grinste und einen Schritt zurücktrat. Unterwassermüllmann war Sari bei der Totalnacht 2002 gewesen, und auch wenn er dabei ganz anders ausgesehen hatte, löste die Kombination rot, schwarz und Wasser vermutlich Assoziationen aus und erlöste Ferenc aus dem Erklärungsnotstand. Übrigens hatte Ferenc anstelle einer Druckluftflasche einen zusammengerollten Schlafsack auf dem Rücken, was ich ziemlich genial fand. Meine Sorge war nur: Würde er beim nächsten Tauchurlaub mit Schlafsack vom Boot springen?

„Aaaaaalllsoo“, begann Dän mit leicht gequetschter, rheinisch singender, karnevalistischer Sitzungsstimme und guckte dabei auf die am Boden liegende Songliste. „Liebe Freunde, wir müssen jetzt den fünften Block noch vernünftisch über die Bühne bringen, sonst wollen die Leute dat Eintrittsjeld zurück.“ Mit normaler Stimme sprach er weiter: „So, wir wollen uns mal niveaulich wieder an die ersten vier Blocks … das nervt total …“. Er brach ab und versuchte seine Augenmaske abzunehmen. Klappte nicht sofort, weil die Hühnerbeine darüber hingen, darum setzte er sie wieder vor die Augen und winkte ab. „Wir möchten gerne fragen, wer außer Eddi heute noch Geburtstag hat.“ Mit den Händen über den Augen blickten alle fünf Wise Guys angestrengt in den Saal um hochgestreckte Hände zu erblicken.

„Da!“ rief Sari und hatte das einzige Zuschauergeburtstagskind des Abends entdeckt. Er kommandierte es mit Handbewegungen nach vorne vor die Bühne. „Hallo“, begrüßte Dän die junge Frau, hatte zwischenzeitlich die Augenmaske unsachgemäß, aber bequemer unter das Kinn vor den Hals setzen können und fragte freundlich, während er auf sie zu ging: „Jetzt gerade Geburtstag?“ Als die Antwort kam, blieb er mitten im Lauf stehen und wiederholte fast enttäuscht: „Gestern?“ Er blickte auf die Uhr und überlegte: „Du hast jetzt keinen mehr quasi … dann musst du dich schnell hinsetzen!“ Als sie sich schon umdrehte, rief er schnell: „Nein, nein, bleib hier!“, denn ein Geburtstagskind, das gerade mal 10 Minuten verspätet war, war immer noch besser, als gar keins.

Da Eddi, das terminlich perfekt passende Geburtstagskind, mitsingen musste, wäre es blöde gewesen, ihn vor die Bühne zu stellen und anzusingen, und so kam es zu der Situation, dass ein echtes Geburtstagskind ein Geburtstagsständchen für ein gerade ungültig gewordenes Geburtstagskind sang. Das Ständchen der Wise Guys, eigentlich für Geburtstagskinder auf den Afterglows gemacht, war wunderschön. Ich mochte es in seiner Mischung aus Witz, wunderbaren Textstellen und liebevoll ruhiger Musik. Damit angesungen zu werden, war schon was besonders Schönes. Die Wise Guys stellten sich auf, und Dän erklärte noch schnell: „Für alle anderen, die andersmal Geburtstag haben, ist es auch.“

Am Ende gab es Küsschen und geschüttelte Hände, ein glückliches Gerade-Vorbei-Geburtstagskind und ein fröhlich applaudierendes Publikum, von denen sich einige vielleicht ärgerten, warum sie nicht einfach geflunkert hatten, dass sie Geburtstag hätten.

Dän hielt die Hühnerbeine, die ihm immer wieder lästig vor dem Gesicht baumelten, nach hinten und stellte als Co-Moderator des fünften Blockes Ferenc vor. „Er ist immer ein bisschen nervös beim Moderieren, darum hat er darum gebeten, dass er spontan moderieren darf. Also ich sag ihm irgendwann: Jetzt sag mal das an, und dann sagt er spontan, was ihm durch den Kopf geht.“ Er winkte beruhigend zu Ferenc: „Also das noch nicht. Ich mach gleich mal irgendwann, wenn du nicht damit rechnest.“ Das war natürlich extrem beruhigend. Die Hühnerbeine machten sich zwischenzeitlich immer wieder auf den Weg nach vorne, so dass es den ganzen Abend über Lacher gab, wenn ein sorgfältig hinter der Schulter verstautes Bein bei der nächsten Bewegung wieder nach vorne schnellte und erneut störend im Sichtbereich hing.

Für das nächste Lied musste es vorher wieder eine Erklärung für das jüngere Publikum geben. Dän erläuterte, dass der 1. FC Köln 1999 an jedem Wochenende scheiße gespielt und verloren hätte, was dem Publikum Vergnügen machte, denn diese Erklärung passte auch gerade aktuell. „Und dann kam ein Mann …“, die Zuschauer jubelten los und wussten, dass die Heldensage vom Heiligen Ewald dran war. Im Mittelteil des Liedes standen Eddi, Sari und Clemens nebeneinander und sangen im typischen Stil eines Krätzchens, wie es früher im Karneval und auch von Straßensängern gesungen wurde. Da passten dann sogar die Kostüme hervorragend. Im Endteil sang das Publikum laut mit, und es hatte etwas Beschwörendes, als die Wise Guys sangen: „ …und die Nummer Eins am Rhein …“ und der Saal laut brüllte: „FC Köööööölle!“

Der Applaus war noch nicht ganz vorbei, da ging Dän quer über die Bühne und rief mit lauter Stimme: „Meine Damen und Herren, der nächste Song wird Ihnen angesagt von unserem Bassisten FERENC HUSTA!“ Der trank gerade am seitlichen Tisch etwas Wasser, blieb ganz ruhig – ich hätte erwartet, dass er zusammenzuckt und vor Schreck das Wasser verschüttet -, stellte das Glas ab und ging mit ruhigen Schritten in die Bühnenmitte.

Ach, da hat er ja Zeit sich auf dem Weg etwas zu überlegen, dachte ich. In der Mitte angekommen, blieb er stehen, guckte sich um, stützte die Hände in die Hüften und hatte scheinbar noch keine brauchbare Idee bekommen. Er guckte stumm und etwas vorwurfsvoll zu Dän rüber, der unschuldig die Hände hob. Das Publikum lachte und applaudierte laut, woraufhin Ferenc bemerkte: „Ich hab doch noch gar nicht angefangen.“ Mit ruhigen Schritten ging er zum anderen Tisch, holte sein Handmikro und begann auf dem Rückweg: „Ich habe mir wirklich nichts überlegt, aber eine kleine Geschichte habe ich.“ Und er erzählte von einer kleinen Fragestunde in Berlin vor Musicalstudenten, bei der die Wise Guys Fragen zu ihrem Beruf und der Ausführung beantworteten. „Ich wurde auch öfters mal gefragt, und das war total nett, dass ich auch mal gefragt worden bin, ich durfte nur leider nicht antworten, weil der Clemens …“, und hier drehte er sich um und ging zu dem Genannten, der schon grinsend zu ihm sah, „… auf JEDE Frage, die mir gestellt worden ist, geantwortet hat.“ Clemens wollte den Arm um ihn legen, aber Ferenc sagte nur noch: „Und darum darfst DU jetzt diese Nummer ansagen!“ ging weg und ließ ihn einfach stehen.

Großes Gelächter im Publikum, und nun lag es bei Clemens, in den nächsten Sekunden eine gute Idee für die Ansage zu bekommen. „Der junge Mann ist ja auch so schüchtern, der kriegt die Zähne normalerweise nicht auseinander, da wollte ich ein bisschen helfen“, versuchte er zu erklären. Dann brachte er aber schnell eine brauchbare Moderation zusammen und sagte kurz und gut den Weltmeister an. Einige Zuschauer riss es bei den ersten Tönen von den Plätzen, was viele andere bewog sich ebenfalls zu erheben, was einerseits an der guten Stimmung lag, andererseits an der Tatsache, dass sie sonst nichts mehr sehen konnten. 

Erstaunlich war, dass sich keine Anzeichen von Müdigkeit zeigten, weder bei den Zuschauern, noch bei den Wise Guys. Sogar Sari und Eddi, die nachweislich nicht ganz gesund waren, wirkten aktiv und waren mit Spaß bei der Sache. Irgendwie war die Totalnacht seit Stunden durchgehend spannend, hatte keine schlappen Hänger und verging vor allem unglaublich schnell. Gefühlte Zeit seit 19 Uhr: Zwei Stunden. Darum konnte beim ‘Weltmeister’ auch noch temperamentvoll mitgeklatscht werden.

Die noch immer in großer Menge vorhandene Kondition zeigten die Wise Guys auch bei Achtung! Ich will tanzen. Eddi hopste auf seinen langen Schuhen durch die Gegend und löste vergnügt jubelndes Geschrei aus, als er vorschriftsmäßig den Don-Kosaken-Tanz in sitzender Position auf den stützenden Knien seiner Kollegen ausführte und dabei wegen seiner ungewöhnlichen Bekleidung einen Blick unter das Ringelhemd gestattete. Ich vermute, dass in diesen Sekunden im Saal wirklich ALLE Augen auf diese Stelle gerichtet waren. Eddi, dem beim Heben der Beine schlagartig bewußt wurde, dass er ein unten offenes Kleid trug und den Blick auf das Darunter freigeben würde, musste beim Singen lachen, zog es aber durch. Ein Glück, dass er nicht ein heißes Nichts von Tigertanga, rosa Blümchen oder sogar ausgeleierten Feinripp trug! Obwohl er das, wenn ihm diese Situation vorher klar gewesen wäre, vielleicht sogar extra gemacht hätte. Für die ganz Neugierigen: Es war schwarz, knapp, aber nicht ZU knapp.

Der sonst meistens wunderbar souveräne Schluss, bei dem Ferenc mutig seinen Weg mitten durch die hin- und herspringenden Kollegen nahm, scheiterte an Eddis langen Schuhen und an Saris plötzlicher Rechts-Links-Schwäche. Eddi musste sich auf das Hüpfen konzentrieren und war wegen seiner Schuhe etwas langsamer als sonst, und Sari startete nach kurzem Zögern in die falsche Richtung. Damit blieb nicht der sonst gut getimte, freie Weg für Ferenc übrig, denn seiner beiden Kollegen hoppelte immer gerade vor ihm entlang. Bis nach vorne schaffte er es mit Mühe, wurde dabei aber fast durch Eddi von der Bühne gefegt, nach hinten zurück kam er nur mit ständigen Blicken in alle Richtungen und kurzen Stopps, die drohende Kollisionen vermieden. Mit hilflos ausgestreckten Armen kapitulierte Ferenc vor der ungewohnten Verkehrssituation vor ihm und versuchte gar nicht erst rechtzeitig zum Schlusston wieder vorne zu stehen. Dafür ging er nach dem Lied auf Sari zu, griff nach einer Trillerpfeife an der Taucherausrüstung und pfiff eine Verwarnung.

Etwas schwer atmend forderte Dän auf: „Nehmen Sie doch wieder Platz! Wird jetzt auch ein bisschen ruhiger, weil … wir müssen ja … pooooh …“ Laut und erschöpft stieß er die Luft aus und fummelte dann wieder an den störend baumelnden Hühnerbeinen herum. Er warf sie hinter seine Ohren und zog die Kappe fester auf den verschwitzten Kopf, wobei sich die Schwanz-Hühnerfedern breit spreizten und ihm ein wenig das Aussehen eines Indianerhäuptlings gaben. Eines etwas bekloppten Häuptling allerdings, so mit Huhn auf dem Kopf und dem erhängten Storchenschwan vor dem Bauch. Vage muss ihm dieser Gedanken auch durch den Kopf gegangen sein, denn er sagte: „Ich frage mich, wie ernst man mich nehmen kann, wenn ich so aussehe.“  Er musste sich das nicht fragen, wie das Gelächter des Publikums zeigte.

Mit dem ‘Frühlingslied’ ging es weiter. Das hieß auch Anna hat Migräne und war zu zwei Namen gekommen, weil die Wise Guys eigentlich nicht schon im Titel den Gag vom Refrain verraten wollten und das Lied ‘Anna hat Migräne’ darum konsequent ‘Frühlingslied’ nannten. Inkonsequent wurde es aber auch manchmal ‘Anna hat Migräne’ genannt, weil dann nämlich jeder sofort wusste, was gemeint war, ohne blöd „Frühlingslied? – häh??“ zu fragen. Ich hatte mir nach den ersten Erklärungen der Wise Guys ziemlich schnell angewöhnt, wenn es um ‘Anna hat Migräne’ ging, ‘Frühlingslied’ zu schreiben. War ähnlich wie beim Vokabelschreiben. Man schrieb links das eine Wort hin und wusste, dass es das hieß, was rechts stand. Inzwischen waren die Wise Guys aber noch inkonsequenter geworden und nannten ‘Anna hat Migräne’ manchmal ‘Frühlingslied’, aber meistens wieder ‘Anna hat Migräne’. Das nur mal als Nebeninformation zum Thema Songtitelwahl und Konsequenz.

Viele Zuschauer wussten gar nichts von dieser Problematik, sie war ihnen vielleicht auch völlig egal, und so sangen sie schon beim ersten „Shalala …“ laut mit. Allerdings hatten sie bei der Tonangabe nicht genau hingehört und etwas andere Töne gewählt. Das waren nicht die zweiten, sondern die dritten und vierten Stimme, und die auch noch in anderen Tonarten. Entsprechend schief hörte sich der Anfang an, und Eddi blickte schnell prüfend zu seinen Kollegen. Da sie aber passend zu seiner gewählten Tonart sangen, machte er beruhigt weiter. Clemens setzte dann auch richtig mit der Leadstimme ein und zog die singenden Zuschauer alle in die richtige Höhe. Allerdings hatte er danach keinen Einfluss auf die Tanzschritte seiner Backgroundgruppe, die erst noch lässig und locker anfing, so dass ich bewundernd dachte, wie gut das inzwischen klappte, etwas später aber so tanzte, wie sich zu Beginn die diversen Tonarten angehört hatten. Hört sich jetzt etwas kompliziert an und soll heißen, dass jeder Einzelne nette Bewegungen draufhatte, im gleichzeitigen Ablauf aber auffiel, dass die nicht synchron waren. Sie tanzten sozusagen verschiedene Tonarten. War aber nicht schlimm und besonders bei der Totalnacht vom Publikum sehr gerne gesehen. So ein paar kleine Pannen waren doch das Salz in der Suppe.

Clemens zeigte übrigens immer wieder großes Vergnügen daran, sich so zu bewegen, dass sein Rock um die Beine schwang und seine wohlgeformten Brüste zur Geltung kamen. Sehr witzig, wie ihn die neue Kleidung in den Bewegungen veränderte. Manchmal griff er mitten im Lied auch völlig undezent an seine Oberweite und grinste dann doch eher männlich.

Dän wollte gerne die kostümierten Zuschauer im Saal ansehen und bat um Saallicht. Ein Techniker, der von dieser Bitte völlig überrascht wurde, musste vom Mischpult durch den Gang nach vorne rennen, um dann irgendwo hinter der Bühne an den Lichtschalter zu kommen. War ein bisschen kompliziert und dauerte etwas, ging aber. Als es hell wurde, bat Dän alle Leute mit Kostümen aufzustehen. „Also Perücke zählt auch!“, betonte er. Es zeigte sich, dass nicht sehr viele Zuschauer den fünften Block verkleidet erlebten und Dän schätzte sehr optimistisch: „Ja, das sind doch gute 10 Prozent, sehr schön!“ Davon hatten sich viele nur leicht kostümiert, andere aber dann doch zur kompletten Ausstattung gegriffen. Diese hatten damit in der letzten Pause vermutlich die Toilettenkabinen und alle im Foyer befindlichen Ecken besetzt, um sich umziehen zu können.

Nicht auszudenken, wenn es eine Kostümpflicht für den fünften Block gäbe und alle Zuschauer zuerst ihre in Tüten verstauten Kostüme an der Garderobe abholen und dann eine freie Ecke zum Umziehen suchen müssten! Der fünfte Block könnte vermutlich erst mit einer Stunde Verspätung starten. Um dieses Chaos zu vermeiden, könnte man jedoch zu Beginn des Blockes ein Kommando geben, bei dem alle bis dahin unkostümierten Besucher -wutsch! – Perücken auf den Kopf stülpen müssten, so dass innerhalb von 5 Sekunden der komplette Saal kostümiert und bunt aussähe.

Es ging weiter mit Zur Lage der Nation. Clemens haute auf seiner fiktiven Pauke herum und sah dabei im langen Hexenkleid besonders gut aus. Das stand ihm wirklich gut, zeigte wie schlank er war, und auch die langen Handschuhe passten zu ihm. Vermutlich wird er es trotzdem nicht als ständige Bühnenkleidung in Erwägung ziehen.

Eddi jodelte im Mittelteil mit Begeisterung, was vermuten ließ, dass er schon damals, als das Lied entstand, eine heimliche Liebe für diese Tonerzeugungsart gehabt haben musste. Oder hatte dieses Lied das Interesse erst geweckt? Festzustellen war auf jeden Fall, dass er es inzwischen viel besser konnte und lässig Zusatzschlenker einbaute. Mit Schwung, Gesang und Tanz ging es beim 1-und-3-Rhythmus richtig rund und machte sogar Spaß.

Während des anschließenden Applauses ging Dän an den Tisch, um etwas Wasser zu trinken. Er guckte dabei interessiert zu Ferenc, der neben ihm stand und auch trank. Es war klar, was kommen musste. Dän drehte sich zu ihm hin und sagte: „Das nächste Lied ist wie geschaffen dafür, dass du es anmoderierst.“ Ferenc lachte kurz auf und begab sich zur Bühnenmitte, um auf die Songliste zu sehen. „Als wäre es für dich geschrieben worden“, betonte Dän, und Ferenc guckte den Titel an und bestätigte: „Ja.“

Mit voller, wunderbarer Sprecherstimme erzählte Ferenc kurz, dass sie 1996 bei den Höhnern in der Philharmonie aufgetreten waren und dort ein Höhnerlied singen sollten. „Das folgende Lied erschien uns als am passendsten.“ Sari pfiff an, und Ferenc ergänzte mit düsterer Stimme: „Vor allem für MICH wahrscheinlich.“ Ein paar Zuschauer, die wussten, dass jetzt Wenn der Herrjott ruft dran war, lachten tief und mitleidig „Hohoho“, und Dän ging zu Ferenc und legte ihm liebevoll tröstend den Arm um die Schulter. Süß!

Es ging sofort los, und da die Wise Guys halblaut und sanft begannen, war der ebenfalls sofort einsetzende Zuschauerchor zunächst fast lauter als sie. OK, waren ja auch mehr.

Am Ende gab es natürlich großen Applaus, und Clemens wackelte fast gedankenverloren mit den Hüften und machte ein paar gezierte, weibliche Bewegungen. Dän ging hinter ihm vorbei und bemerkte nur: „Du genießt das irgendwie, ne?“, was Clemens veranlasste, mit kräftigem Griff seine gut geformten Brüste zu umfassen und in die ideale Position zu schieben.

Dän erklärte, dass sie im folgenden Lied einen Song von Udo Jürgens umgetextet hätten, ohne den vorher zu fragen und dann keine Erlaubnis bekommen hatten, das Ergebnis auf CD zu veröffentlichen. „Nochmal für die jüngeren Menschen im Publikum, es war damals, 1995/96 so, dass zum allerersten Mal eine Sendung gezeigt wurde, in der richtige Menschen in einen Raum gesperrt wurden und dabei gefilmt wurden. Und damals waren die Leute noch so niedlich, dass sie sich darüber aufgeregt haben. Es gab Diskussionen, ob das moralisch sei und so weiter“, er lachte etwas überheblich und schob hinterher: „Wie gesagt, das ist zehn Jahre her.“ Aus ‚Ich war noch niemals in New York‘ hatten die Wise Guys Ich war noch nie bei RTL gemacht, und Clemens musste lachen, als er im Kleid vorne stand und davon sang, dass ihn ein junger Mann angemacht hatte. Dabei streckte er stolz die Brust raus, damit auch alles Zuschauer sahen, dass der junge Mann Grund genug gehabt hatte.

Bei der zweiten Strophe war er anscheinend immer noch so fasziniert von dem Gedanken, dass er kurz den Mund öffnete, ihm dann aber die weiteren Worte fehlten. Er winkte kreiselnd zu seinen Kollegen, was bedeuten sollte: „Singt die zwei Takte vom Zwischenteil nochmal, bis dahin hab ich’s!“, und so war’s auch. Damit kam er natürlich nicht annähernd an den Texthängerpreis ran, den Dän sowieso schon sicher in der Tasche hatte. Außerdem setzte sicherheitshalber sofort die Mädchenchorfraktion im Saal ein und sang helfend halblaut mit.

Es war wirklich verwunderlich, wie wach alle noch waren und was für eine grundsätzlich gute Laune herrschte. Die Party war einfach so gut, dass man durchmachen konnte, ohne Durchhänger zu haben. Und dabei war es keine durchgedrehte Stimmung, die durch den kompletten Wahnsinn hochgeputscht war, sondern einfach eine ganz normale, nette, gemeinsame, lange Wise Guys Nacht. Es war superschön dabei zu sein und machte einfach nur Spaß.

„Wir hatten damals einen Titelsong für unser Album“, begann Dän die nächste Moderation. „Das Album hieß ‚Ganz weit vorne‘ und der Titelsong hieß NICHT ‚Ganz weit vorne‘, der hieß Sensationell.“ Das Lied begann mit einer angesungenen Schlafliedmelodie und die Wise Guys stellten sich dementsprechend auf. Wie bei Dornröschen versanken alle stehend in den Schlaf. Clemens senkte den Kopf, Sari stützte sich schläfrig auf die Schulter von Dän, und Eddi wollte seinen Kopf auf die Schulter von Ferenc legen. Da störten aber die Lockenwickler. Er senkte den Kopf, nahm ihn sofort wieder hoch, versuchte es nochmal, kam wieder hoch, drehte den Kopf so, dass die Stirn auf der Schulter auflag, was aber auch nicht gut war und dazu auch noch total blöde aussah, und legte letztendlich dann doch vorsichtig die Lockenwicklerhaare auf der Schulter ab. Die Zuschauer lachten vergnügt und hatten schon alleine am Zuschauen Spaß. Ferenc guckte gespielt genervt in die Gegend und auf die Uhr.

Die leisen Töne des Schlafliedes zogen durch den Raum, und gegen Ende hob Eddi den Kopf und sah Ferenc an, der zurückblickte und leicht prustend loslachen musste, als er vor sich seinen Kollegen mit der dicken Brille und den Lockenwicklern sah. Das Publikum stand trotz des eher gemäßigten Tempos von den Sitzen auf, bewegte sich und klatschte mit. Auf die 2 und die 4 übrigens. Ich mag das Lied ja sehr, weil es so viele nette Sachen im Arrangement versteckt hat. Nur das Ende …

Der Schluss des Liedes war plötzlich da und überraschte alle, aber da ich bei diesem Lied nicht den Begriff ‚Schluss‘ anbringen möchte, spreche ich wohl lieber vom ‚plötzlichen Abbruch‘. Ich vermute ja stark, dass die letzte Seite des Arrangements und damit ein richtiges Ende mit Schlussakkord und abgeschlossenem Satz verloren gegangen ist und das einfach zu spät auffiel. Keiner hat’s gemerkt, die Wise Guys haben einfach alle Seiten durchgesungen, und als das Lied im Studio eingespielt war und jemand kurz danach einen Zettel hochhielt und sagte: „Guckt mal, was ich unter dem Tisch gefunden habe!“, war es zu spät, um die letzte Seite auch noch zu singen. War natürlich etwas peinlich und bis heute erzählen die Wise Guys, dass das so gewollt wäre und sie genau so ein Ende haben wollten. Naja, wer’s glaubt.

Ohne weitere Ansage ging das Intro zu Jetzt ist Sommer los. Clemens pustete eine kraftvolle Mouthpercussion ins Handmikro, denn gegen Ende des Programmes sollte es nochmal richtig temperamentvoll abgehen. Auch eventuelle Schläfer konnten damit geweckt werden, es schlief aber gar keiner. Das Publikum machte klatschend und tanzend mit und feierte den Abend. Auf der Bühne sprangen die Wise Guys herum und sahen dabei total frisch und aktiv aus.

Auch bei der Jubelaktivität des Publikums war am Ende des Liedes kein Unterschied zu normalen Konzerten zu merken. Es war sogar eher etwas mehr und kraftvoller. Eine aufgeheizte, laut johlende Zuschauermenge, was Dän mit einem staunenden „Wow!“ kommentierte. „Wir steuern massiv auf die Zugaben zu“, erklärte er, während er wieder die störenden Hühnerbeine einen Moment lang aus dem Gesicht hielt, ein Anblick, der inzwischen fast schon normal war und nur noch zu leichtem Lachen reizte. Das Huhn blieb einfach wunderbar widerspenstig und er konnte es nicht in den Griff bekommen.

„Noch drei Songs – wenn ihr Lust habt, könnt ihr direkt stehen bleiben, weil … es ist eh … dann …“ Er drehte sich nach hinten: „Letzte Ansage heute Abend von Ferenc!“ Von dem kam ein entsetztes: „Och, nee!“ und Dän fragte: „Kein Wort mehr?“ „Doch, doch, doch …“ grummelte Ferenc, lief über die Bühne und meinte: „Das ist die einzige Ansage, zu der mir überhaupt nichts eingefallen ist.“ Er wandte sich ans Publikum und erklärte: „Da seh ich immer so ein Karrikaturmännchen, ein animiertes Männchen aus dem Computer, das dann singend aufsteht und von einer Discokugel erschlagen wird.“ Überlegend guckte er auf das Mikro in seiner Hand und versuchte eine genauere Erklärung zu finden, doch im Saal fingen die Zuschauer an zu jubeln, was ihn verwundert hochblicken ließ und dann mit blitzenden Augen zur freudigen Erkenntnis brachte, dass diese Ansage schon ausreichte. „Ja, reicht doch“, sagte auch Dän zufrieden, und Ferenc nickte zustimmend und sagte nur noch: „Neun Live!“

Und dann gab es für mich mal wieder ein verblüffendes Erlebnis. Wahrscheinlich nicht nur für mich, aber mit anderen habe ich nicht darüber gesprochen. Eddi sah ja nun wirklich nicht seriös und ernsthaft aus, auch wenn er angeblich den amerikanischen Präsidenten darstellte. Er stand dort mit langem Ringelhemd, den übergroßen Schuhen, seinem Lockenwicklerkranz im Haar, und als er sang, war er trotzdem der geschäftstüchtige Abzocker, der überhaupt nicht nett, sondern kalt und berechnend war. Unglaublich. Ich sah ihn mit seinen großen Schuhen über die Bühne laufen und fand ihn gar nicht witzig, sondern wunderte mich, wie er sein Aussehen durch seine Art des Gesangs und seinen kalten Blick einfach überdecken konnte.

Riesenjubel nach dem Lied, und bevor der aufhörte, ging das Bühnenlicht schon wieder an und Ruf doch mal an war dran. Jetzt bebte der Saal fast schon vom gewaltigen rhythmischen Mitklatschen und lauten Singen. Eddi sprang gleich beim ersten Refrain von der Bühne runter, griff sich ein paar Zuschauer und brachte sie zum Tanzen. Von den hinteren Saalplätzen sah es so aus, als würde er sich einfach vorne von der Bühne fallen lassen und verschwinden. Das wäre natürlich DIE Gelegenheit zum Stagediving gewesen, aber da vor der Bühne ein freier Durchgang von etwa eineinhalb Metern war, wäre das etwas riskant gewesen. Zumal Eddi mit der dicken Brille, mit der er nur mit Mühe sein Wasserglas auf dem Tisch finden konnte, niemals einen Landepunkt hätte anvisieren können.

Das Animieren zum Tanzen wäre nicht unbedingt nötig gewesen, denn das machten die Zuschauer sowieso schon von alleine. Es war aber eine nette Geste, die mit Jubel begrüßt wurde. Um aber auch den anderen Zuschauern noch Show zu bieten, kam Eddi dann schnell über die seitliche Treppe auf die Bühne zurück und tobte sich oben aus. Das Lied beendete er schließlich doch ziemlich außer Atem vom gleichzeitigen Hüpfen, Laufen und Singen, und im Saal wurde gejubelt.

In diesem Moment kamen fünf Techniker auf die Bühne, und jeder hatte ein Glas Kölsch auf einem Tablett und reichten es wie ein ausgebildeter Butler an einen der Wise Guys. „Dankeschön“, keuchte Dän und alle griffen zu, denn vor dem allerletzten Lied kam das sehr gelegen. Außerdem hieß es, dass der Feierabend ganz nahe war.

Das Publikum war derweil zu rhythmischem Klatschen übergegangen, rief „Hey, hey, hey!“ oder stieß im Takt schrille Pfiffe aus. Große Begeisterung also. „Vielen, vielen Dank“, sagte Dän und bekam den Lärm langsam gestoppt. „Meine Damen und Herren, das war die Wise Guys Totalnacht 2006, wir kommen gleich zum letzten Lied des heutigen Abends und möchten …“ Lautes „Ooooooooh!“ unterbrach ihn und er lachte: „Oooch, ist schon vorbei!“ Mit Blick auf die Uhr sagte er: „Ja, es ist ein Uhr, es ist sensationell.“

Dann wurde er ernster, bedankte sich nochmal bei einigen Helfern und wandte sich an die Zuschauer: „Danke an unsere Fans. Da muss man immer höllisch aufpassen, damit es nicht irgendwie kitschig wird, aber wir sind sehr, sehr froh und sehr glücklich mit dem, was wir an Fans haben. Dankeschön, dass ihr da wart.“ Ein Jubel brauste auf und gab das Kompliment damit auch zurück.

„Wir möchten uns jetzt verabschieden …“, fing er an und versuchte schon wieder eines der Hühnerbeine ein wenig nach hinten zu bringen. Kaum ließ er es los, schnellte es nach vorne und hing ihm halb im Gesicht. Die Zuschauer lachten laut los, und kurzentschlossen riss er sich das Huhn vom Kopf, schleuderte es auf den Boden und kratzte sich mit Genuss den inzwischen verschwitzten und vermutlich juckenden Kopf, was mit Applaus und Gelächter kommentiert wurde.  

Mit endlich wieder lockeren Haaren stellte er dann eine interne Rechnung vor. Die Wise Guys hatten in diesem Jahr eine Art Silberjubiläum, denn Clemens, Sari, Eddi und Dän waren vor 25 Jahren zusammen eingeschult worden, Dän und Clemens kannten sich schon aus dem Kindergarten, was mittlerweile 30 Jahre her war, und Ferenc war vor 11 Jahren, „das ist eine kölsche Jubiläumszahl“, dazugekommen. „Wir haben das zum Anlass genommen, einmal ein bisschen zurückzuschauen. Das ist auch ein schöner Abschluss vielleicht heute Abend, ein ganz neues Lied. Wir ziehen einfach mal Zwischenbilanz, und so heißt dieses Lied auch.“ Sari gab schon den Ton an, da hob Dän die Arme, lächelte leicht ins Publikum und sagte mit ruhiger Stimme: „Nochmal vielen, vielen Dank an euch alle, dass ihr heute hier wart. Wir hatten einen Riesenspaß.“ Die Zuschauer jubelten nochmal los, und Sari musste den Ton erneut angeben.

Die Zwischenbilanz war ein ruhiges, nachdenkliches Lied, das viel besser an den Schluss dieses Abends passte, als jeder Partyknaller. Die Zuschauer standen, bewegten sich aber kaum, schnippten am Anfang leise mit und hörten schließlich nur noch zu. Das Lied war ein Danke an die Fans und Unterstützer und eine etwas desillusionierte, aber trotzige Abrechnung mit vielen anderen Leuten, die zum Teil gegen den Erfolg der Wise Guys gearbeitet hatten. Das ging unter die Haut. Und es passte zufällig, dass Dän keine Hühnermütze mehr auf dem Kopf hatte, denn dadurch war es keine Show mehr auf der Bühne, sondern es wirkte viel eindringlicher, weil die Show sichtlich vorbei war, die Maske schon zum Teil ausgezogen war und nachdenkliche, fast private Worte als Abschluss gesungen wurden.

Da die Halle voll mit den Fans und Unterstützern der Wise Guys war, fühlten sich natürlich ganz viele Leute positiv angesprochen, waren gerührt und auch betroffen, weil es für die Wise Guys anscheinend nicht immer jubelnd, erfolgreich und problemlos ablief. Dass Dän plötzlich gar nicht mehr so lustig aussah, sondern im weißen Umhang, mit dem groben Seil um den Hals und den offenen Haaren eher wie ein religiöser Sektenführer wirkte, der singend langsam über die Bühne wanderte, unterstützte den berührenden Eindruck noch. Das war nicht so geplant gewesen, passte dann aber unerwartet gut.

Es war ganz still im Saal, nur die leisen Klänge waren zu hören und Däns sanfte, aber manchmal auch etwas härtere Stimme. Sehr schön. Der letzte Satz war zwar auch triumphierend, aber immer noch ruhig und ein wenig nachdenklich gesungen. „Ha ha ha, wir sind immer noch da!“ Eher fest und trotzig als lachend und jubelnd. Ruhig standen die Wise Guys eine Weile im ausbrechenden, lauten Jubel, stellten sich dann eng zusammen, griffen mit den Armen um die Schultern des Nachbarn und verbeugten sich gemeinsam. Alle fünf hatten ein leichtes Lächeln auf den Lippen und wirkten nicht müde, aber plötzlich doch unerwartet ruhig und entspannt.

Nach den einzelnen Verbeugungen gingen sie noch einmal gemeinsam nach vorne, blieben einige lange Sekunden lang mit ruhigem Blick auf das stehende, laut applaudierende und rufende Publikum nebeneinander stehen und verbeugten sich dann, ehe sie winkend von der Bühne gingen. Ein fast ruhiger, stiller Abgang, während das Publikum laut klatschte, pfiff und alles an Lautstärke mobilisierte, was noch da war. Ein superschöner Schluss der langen Totalnacht.

Schunkeln
Ständchen
Die Heldensage vom heiligen Ewald
Weltmeister
Achtung! Ich will tanzen
Anna hat Migräne
Zur Lage der Nation
Wenn der Herrjott ruft
Ich war noch nie bei RTL
Sensationell
Jetzt ist Sommer
9 Live
Ruf doch mal an
Zwischenbilanz

„Das hat echt so’n Spaß gemacht!“ waren die ersten Kommentare der Wise Guys, als sie kurz nach dem Abgang von der Bühne im Backstagebereich ankamen. Die Schritte waren ein wenig bedächtig, sie wirkten um die Augen herum plötzlich etwas müde, aber sie strahlten eine große Zufriedenheit aus. Vor allem hätten sie glatt noch weitersingen können. Ein sechster Block wäre das geringste Problem gewesen, wahrscheinlich wären sie singend durchgeflogen. Der ganze Abend war zeitlich undefinierbar gewesen und besonders der letzte Block war Stück für Stück durchgelaufen. Was für eine Nacht! Die Totalnacht.

Beim Afterglow war noch richtig viel los, und die Wise Guys taten mir schon leid, wie sie als Mittelpunkt von großen Gruppen Autogramme schreiben mussten und eigentlich gemütlichen Feierabend verdient hätten. Nette Gespräche bei einem Kölsch und etwas Entspannung wären ihnen vermutlich lieber gewesen als im Akkord Unterschriften zu geben, aber wenigstens waren sie so wach und gut drauf, dass sie das einfach mitmachten. Das war dann auch IHR Dankeschön an die Fans, das sie vorher nur besungen hatten.

Ein wunderschöner Abend!

 


Block 1 – KLARTEXT
Opener A/B
Du bist dabei
Kinder
Deutscher Meister
Griechischer Wein
Sonnencremeküsse
Wie die Zeit vergeht
Du Doof!
Die Bahn kommt
Denglisch
Das wär’s gewesen
King of the Road
Nur für dich
Was für eine Nacht

Block 2 – HAARIGE ZEITEN / DUT-DUT-DUAH
Showtime
Charlie Razzamatazz
Liebe geht durch den Magen
Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf
Irische Segenswünsche
When I’m 64
Wenn ich bei dir bin
Total Egal
Der Vollprofi
99 Jahre
Wenn ich ens nit mih existiere
Little sweet loving girl
Monica
Träum vom Meer

Block 3 – SKANDAL / LIVE
Golden Eye
Der letzte Martini
Ich bin grumpig
Die Comedian Harmonists
Flunder gibt es immer wieder
Ein Herz und eine Seele
Mädchen lach doch mal!
Probier’s mal mit ’nem Bass
Oh Handy
Sie bricht mir das Herz
Root Beer Rag
Zu schön für diese Welt
Baby noch einmal
Jede Stimme zählt

Block 4 – ALLES IM GRÜNEN BEREICH
Wise Guys Opener
Bleib wie du bist
Haarige Zeiten
Ich will keine a-cappella
Einer von den Wise Guys
Wie kann es sein
Tekkno
Die Philosoffen
Gehnurjanie Indibarda
Du kannst nicht alles haben
Besserwisser
Buddy Biber
Romanze
Sing mal wieder

Block 5 – GANZ WEIT VORNE
Schunkeln
Ständchen
Die Heldensage vom heiligen Ewald
Weltmeister
Achtung! Ich will tanzen
Anna hat Migräne
Zur Lage der Nation
Wenn der Herrjott ruft
Ich war noch nie bei RTL
Sensationell
Jetzt ist Sommer
9 Live
Ruf doch mal an
Zwischenbilanz