Die Vorleser – 20.09.2004 – Bonn
Jess Jochimsen, Rainald Grebe, Rainer Pause, Serdar Somuncu
Pantheon, Bonn
Der Name ‘Rainald Grebe’ sprang mir aus dem Programmheft direkt ins Auge. Rainald Grebe – den musste ich mir unbedingt mal ansehen! Dabei wusste ich überhaupt nichts von ihm, außer eben seinen Namen. Der war mir allerdings ins Ohr gebrannt, denn einige Wochen vorher hatte Jess Jochimsen ein Lied von ihm bei einem Auftritt mit Purple Schulz gesungen. Danach nannte er den Namen des Verfassers. Was heißt nannte? Er hämmerte ihn mir völlig unsubtil ein mit: “Das war von Rainald Grebe. Rainald Grebe. Rainald Grebe. Rainald Grebe. Man kann diesen Namen, Rainald Grebe, nicht oft genug sagen. Rainald Grebe.”
So funktionierte Werbung. Den Satz im Ohr, das Lied im Ohr und den Namenszug im Auge, war es klar, dass ich nicht widerstehen konnte. Rainald Grebe. Außerdem war Jess Jochimsen als Vorleser und Moderator dabei, was einerseits schöne Geschichten versprach, andererseits günstig war, weil ich ihn sofort zur Verantwortung würde ziehen können, falls Rainald Grebe total mies sein sollte.
Um die Sache dann ganz abzurunden, las auch noch Rainer Pause vor, den ich sowieso total klasse fand. Ihn gab es zweimal, einmal als Rainer Pause, dann als Fritz Litzmann, und ich fand es sehr faszinierend, wie er die Persönlichkeit wechseln konnte. Vierter im Bunde war Serdar Somuncu, von dessen Existenz ich bis dahin nicht mal etwas geahnt hatte. Der war mir völlig unbekannt. Das ging ihm beruhigenderweise bei mir aber genauso.
Die vier Vorleser betraten die Bühne und setzten sich zu zweit an jeweils einen kleinen Tisch. Links war die Raucherecke mit Jess Jochimsen und Rainald Grebe, rechts der Nichtrauchertisch mit Rainer Pause und Serdar Somuncu. Rainald Grebe sah relativ normal aus. War ja klar, dass ich mir den zuerst betrachtete. Also DAS war Rainald Grebe. Vielleicht etwas wirr im Blick und mit einer Abschaltautomatik, die ihm erlaubte, hin und wieder mit glasigen Augen zu sitzen und mit den Lippen unhörbare Worte zu formulieren. Das lag aber wohl eher an einer innerlichen Vorbereitung auf seine Vorlesungen, so wie sich Bobfahrer vor der Abfahrt mit körperlichen Verrenkungen auf die Fahrtstrecke einstimmen, was allerdings eindeutig seltsamer aussieht.
Im Gegensatz zum nicht ganz fassbaren Rainald Grebe, sah Serdar Somuncu stabil und kompakt aus. Bodenständig, muskulös und eindeutig türkischer Herkunft. Rainer Pause war als Rainer Pause da und sah damit 20 Jahre jünger, als Fritz Litzmann aus, und Jess Jochimsen war als Jess Jochimsen da. Den kannte ich überhaupt nicht anders. Ich war gespannt auf den Abend und die verschiedenen Vorlese-Geschichten.
Jess Jochimsen stellte die Teilnehmer vor und erklärte, dass Rainald, Serdar und er selber in den vergangenen Jahren schon Gewinner des Prix Pantheon gewesen sind. Er guckte zu Rainer Pause und erklärte: “Rainer Pause muss den Prix Pantheon nicht gewinnen, weil dem gehört das Pantheon.” Als Vorleser im eigenen Theater hatte ich ihn noch nicht erlebt, aber er legte auch keinerlei Wert auf eine Sonderrolle in der Gruppe.
Im Wechsel lasen die Vorleser eigene Texte vor, Jess Jochimsen machte die Zwischenmoderationen und trug dabei auch immer einen Text von sich vor. Fast unbemerkt wurde der Abend auch vom WDR aufgenommen, um zu einem späteren Termin gesendet zu werden. Es versprach nicht nur abwechslungsreich zu werden, es wurde es auch.
Sedar Somuncu begann und sprach perfektes Hochdeutsch. Aber sowas von fein und perfekt. Ich weiß auch nicht, warum mich das im ersten Moment verblüffte. Vielleicht, weil er so typisch türkisch aussah und auch sein Name so eindeutig türkisch war. Dabei habe ich selber einige Freunde, die überhaupt nicht deutsch aussehen, aber perfekt deutsch reden, so dass ich das nicht erstaunlich finden sollte. Manchmal verblüffe ich mich selber.
Sehr humorvoll erzählte Sedar über den Sprachgebrauch seiner Eltern, die ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland gekommen waren und im Rheinland Kontakt mit den Einheimischen bekamen. Das sprachliche Ergebnis war sehr originell. Nicht zufällig hieß die Geschichte ‘Heidewitzka, Herr Kapitän’. Abwechselnd perfekt in Hochdeutsch, Rheinisch und Deutsch mit starkem, türkischen Akzent, führte Sedar Dialoge vor, die das Publikum sehr zum Lachen brachten. Superwitzig! Nach einem längeren, rheinischen Satz fragte er grinsend ins Publikum: “Verstehen Sie das noch? Das ist Deutsch!” Ich fand’s klasse.
Jess Jochimsen erzählte danach eine Freibadgeschichte, die von den Leuten handelte, die man dort sehen konnte. Wieder mal war es eine seiner Geschichten, bei der man mittendrin schadenfroh grinst und am Schluss ernster und liebevoller guckt. Sehr schön. Ist mir ja schon letztens aufgefallen, dass der gar nicht so schnodderig ist, wie er nach außen hin oft tut. Ein sehr genauer, sensibler Beobachter.
Und dann war Rainald Grebe dran. Ich war total gespannt. Jess Jochimsen stellte ihn kurz vor und betonte dann, dass es im nächsten Jahr das Buch ‘Global fish’ von Rainald Grebe geben würde. “Im Fischer-Verlag, oder?”, drehte er sich zu ihm hin. Rainald bestätigte das und fügte leicht verzweifelt hinzu: “Ja, aber ich les da gar nicht draus!” Jess grinste: “Ist doch egal!” Vermutlich war Jess Jochimsen mindestens ebenso gespannt auf Rainald Grebe, wie ich. Vermutlich war er sogar richtig nervös, denn er guckte angespannt zu ihm herüber und fühlte sich anscheinend dafür verantwortlich, dass sich Rainald Grebe gut fühlte und auch das Publikum ihn mochte.
Rainald Grebe guckte ins Publikum und fragte freundlich: “Hat jemand ‘ne Vier-Zimmer-Wohnung in Berlin?” Das war so überraschend, dass alle loslachen mussten. Er erläuterte kurz, dass ihm “schlafen ohne nass zu werden” reichen würde, seine Freundin da aber anspruchsvoller wäre. Irgendwie brachte er immer wieder die Wörter “Laminat” und ”schlecht geschnitten” in seiner Erzählung unter, woraufhin Jess jedes Mal lachend losplatze und sich zusammengekrümmt auf seinem Stuhl wandte, während die beiden anderen Vorleser ebenso verwirrt guckten wie das Publikum. War wohl ein Insider, denn Rainald kramte gemütlich sein Portemonnaie hervor und warf mit klingendem ‘Plong!’ ein Geldstück in ein extra aufgestelltes Porzellan-Sparschwein. Das war die Wortspielkasse, die jedes Mal bei der Erwähnung dieser Wörter gefüttert wurde. Und das war relativ oft. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was da ablief, fand ich es sehr witzig.
Jess wechselte zwischen Lachanfällen und angespannten Blicken hin und her. Rainald Grebe war ziemlich abgedreht, und ich fand ihn sehr gut. Er konnte erlebte Situationen mit knappen Worten völlig nachvollziehbar beschreiben und mit einem kurzen Dialog lebensechte Szenen darstellen. Dabei blieb er meistens völlig ernst oder grinste höchstens entschuldigend in die Gegend. Super! Sehr neben der Kappe, aber faszinierend. Irgendwie schien das Leben an ihm vorbei zu laufen und er beobachtete es interessiert. Diese hüpfenden Gedanken kannte ich von mir und konnte sie wunderbar nachvollziehen. Die Zuschauer lachten noch nach seinem letzten Satz, da kam Jess grinsend, aber sichtlich froh und stolz ans Mikro und sagte: “Ich wusste, warum ich Angst hatte, aber es hat sich gelohnt!”
Rainer Pause berichtete über seine frühen Jahre und die Suche nach Atlantis, dem verschwundenen Land, das er in der Nähe von Westfalen vermutete. Das Land ‘Ostfalen’ gab es nämlich nicht, und er war sich sicher, dass dort die Spur von Atlantis verloren gegangen sein musste. Ich mochte seine Art des Vortrages und seine manchmal verdrehte Logik sehr.
Nach der Pause las Sedar Somuncu mit ausgebildeter Sprecherstimme ein Gedicht über Schauspielerei vor und danach ein F-Gedicht. Hinter das F mussten die Zuschauer die Ergänzung -ick setzen, was tendenziell neugierig machte. Allerdings warnte Sedar: “Vielleicht geht’s ja voll in die Hose” und hatte damit nicht völlig unrecht. Nicht, dass das Publikum zu prüde gewesen wäre, aber so richtig gut fand ich es auch nicht. Der Künstler seufzte danach einsichtig: “Ich erkläre den Versuch hiermit für gescheitert.”
Seine nächste Geschichte war dann aber wieder mitreißend, besonders, weil er sie wunderbar lebendig vorlas, beziehungsweise schon fast vorspielte. Ein wirklich toller Geschichtenerzähler! War der nicht nur Vorleser, sondern auch Schauspieler? So energiereich und ausdrucksstark wie er sprach, hätte ich darauf wetten können!
Sehr gut gefiel mir, dass die vier Vorleser so unterschiedlich waren. Jess bot ausformulierte, witzige Geschichten, die eine genaue Beobachtung der Mitmenschen und der eigenen Gefühle voraussetzten. Sehr schön und bei aller Komik hin und wieder auch ein wenig traurig. Rainer Pause ging beim Lesen schnell in die Rolle von Fritz Litzmann über und ereiferte sich über Themen, die meistens mit dem Rheinland zusammenhingen. Er konnte sich wunderbar aufregen und ich konnte mich über seine Formulierungen und seinen verzweifelten Gesichtsausdruck weglachen.
Bei Sedar Somuncu war ich von den deutsch-türkischen Geschichten zunächst überzeugt, fand es im Mittelteil dann nicht ganz so gut, aber am Ende brachte er eine geschauspielerte Geschichte über den Kindermörder Jürgen Bartsch, bei der es mir kalt den Rücken runterlief. Wow, was konnte der spielen! Das musste einfach ein Schauspieler sein! Und Rainald Grebe war der leicht durchgedrehte Typ von nebenan, der einfach erzählte, was ihm passiert war und dabei wie zu Hause im Wohnzimmer wirkte. Sehr nett, nicht ganz normal, aber völlig ungefährlich. Ich fand seine Gedanken und die Art, wie er sie mit leicht verwundertem Gesichtsausdruck vorbrachte, wunderbar.
Jess Jochimsen hatte keine Klagen von mir zu befürchten. Das hatte sich gelohnt! Fazit: Ein schöner Vorleseabend mit sehr unterschiedlichen Vorlesern und unterschiedlichen Geschichten. Viele davon fand ich klasse, wenige waren nicht so ganz mein Fall, aber interessant, kurzweilig und lohnenswert war es allemal.