Rheinfels Saga – 19.08.2004 – Burg Rheinfels
Eine multimediale Theaterreise durch 1300 Jahre deutscher Geschichte am Rhein.
Burg Rheinfels, St. Goar
Von Manfred Maurenbrecher bekam ich den Tipp, einen Ausflug nach St. Goar zu machen, wo die Rheinfels Saga gespielt wurde. Ich wusste schon, dass er mit Leonhard Reinirkens zusammen das Script dafür geschrieben, und dass sein früher Partner Richard Wester die Musik gemacht hatte. Jetzt auch mal Texte von Manfred Maurenbrecher zu hören, die nicht von ihm am Klavier gesungen wurden, fand ich sehr reizvoll.
Das Stück wurde inzwischen im siebten Sommer gespielt, aber trotz des großen Erfolges war es die letzte Saison, denn das Land hatte die Zuschüsse gestrichen. Es war kein Geld mehr für Kultur da. Ein Anruf bei der Burg brachte weitere Informationen. Es gab nur noch vier Vorstellungen, dann war definitiv Schluss. Ein paar Karten gab es noch für eine Abendvorstellung, es war kein Regen angesagt, Einlass ab 19 Uhr, Beginn um 20 Uhr. Ich ließ mir vier Karten an der Abendkasse hinterlegen, und wir brausten am späten Nachmittag los. Zwei Erwachsene und zwei Teenager von 13 und 14.
Die Burg Rheinfels war die größte Burganlage am Rhein, und wir kannten sie schon von zwei Ausflügen, bei denen wir stundenlang die Gebäude, verfallene Verbindungsstücke und vor allem ein weit verzweigtes, unterirdisches Gängesystem erkundigt hatten. Ein Spaß für die ganze Familie, sofern man geländesicher ist und eine Taschenlampe dabeihat. Im Internet wurde die ‚Rheinfels Saga‘ so beschrieben: “Mit Licht und Ton sowie mit pyrotechnischen Effekten wird die Geschichte der Burg Rheinfels gespielt.” Licht und Ton hatte ich für selbstverständlich gehalten, und was es mit der Pyrotechnik auf sich hatte, würde ich sehen. Galten schon Wunderkerzen als pyrotechnischer Effekt? Auf dem Parkplatz vor der Burg kurvte ein Wagen herum, der eine dicke Aufschrift Pyrotechnik hatte. Oh, das schien doch etwas mehr als Wunderkerzen zu geben.
Die Sonne schien auf die dicken, alten Burgmauern, efeubewachsene Ruinenteile mit Fensterlöchern ragten hoch in den blauen Himmel und wir wanderten über das holperige Kopfsteinpflaster im Inneren der Burganlage zur Wiese, auf der das Stück beginnen sollte. Rechts und links waren die Wege abgesperrt und an einigen Ecken standen Helfer und warnten: “Achtung, hier ist Pyrotechnik! Bitte nicht hier entlanggehen!” Als dann auch noch drei Feuerwehrleute auftauchten, die ihre dick gepolsterten Jacken und die Schutzhelme griffbereit neben sich legten, bekam ich die vage Befürchtung, dass ich mich nachher wahrscheinlich mitten in tobenden Feuerwerksbrünsten befinden würde. Hoffentlich wussten alle, was sie da taten!
Vom Band kamen sphärische Synthesizerklänge, die Zuschauer setzten sich auf Bierbänke, die in engen Reihen auf der Wiese aufgestellt waren, und die Sonne knallte mir von rechts auf das Gesicht. Das Stück begann, als zwei Männer aus einem Burgtor kamen und über die Bühne an den Zuschauern vorbei gingen. Der eine war ein Pianist, erklomm ein schwarzverkleidetes Gerüst, setzte sich dort an ein Klavier und spielte zu Orchesterklängen vom Band die Einleitung. Der andere war der “Zeit”-Reiseleiter, der sich währenddessen eine Art Dracula-Mantel überwarf und abwartete. Der Pianist spielte sehr schön, aber ich fand ihn trotzdem etwas überflüssig. Wenn schon das komplette Orchester vom Band kam, musste ich nicht ausgerechnet das Klavier live hören und sehen. Also er störte nicht, aber ich persönlich hätte auch komplette Konservenmusik akzeptiert.
Der Organisator der Zeitreise kam nach vorne und begann zu erzählen. Wie er in die Gegend gekommen war und dass er durch ein Zeitfenster in die Vergangenheit sehen konnte. Die Zuschauer hörten interessiert zu, der Text war bildreich und schön erzählt, und während er noch von den ersten Ansiedlungen der Mönche an diesem Ort sprach, hörte man aus der Ferne ihre Gesänge und sie kamen mit hochgezogenen Kapuzen in einer Reihe durch die Ruinen bis zur Bühne gewandert. Das war Geschichte live erlebt.
Vorne auf der Bühne ging es mit einer Szene los, in der gezeigt wurde, wie gutherzig der Mönch St. Goar war, der im Mittelalter hier lebte. Die Schauspieler waren in den Hauptrollen alle Profis, die sehr überzeugend spielten. Sogar die kleinen Kinder im Publikum waren ruhig und schauten gebannt zur Bühne, wo ein neidischer Bischof den Mönch degradieren wollte.
Als er drohte: “Da hinter dem Tor warten meine Knechte”, drehten sich alle Zuschaueraugen zur Seite, weil damit zu rechnen war, dass da wirklich eine Horde von Knechten rausstürmen würde. In diesem Augenblick gab sich aber die vermeintlich lichtscheue Gestalt auf der Bühne als König Sigibert zu erkennen, der seinerseits den heuchlerischen Bischof degradierte. St. Goar durfte bleiben und gründete den nach ihm benannten Ort. Es war klasse gespielt und auch die Kostüme waren sehr schön und aufwändig gestaltet.
Mit Geräuschen, die stark an Startgeräusche des Raumschiffes ‘Enterprise’ erinnerten, wurde zum nächsten Zeitfenster geblendet. Wuuuuschhhhh! – und eine neue Zeit war angebrochen. Auch der Erzähler konnte mit einem Fingerschnipsen die Szene einfrieren, langsam durch das Bild laufen und erklärende Kommentare abgeben, bis er mit einer weiteren Geste den Fortgang der Geschichte zuließ. Wunderbar! Auf der Bühne wurden die Pläne einer Burganlage besprochen, während oben ein Kleinflugzeug am blauen Himmel brummte. Mensch, das passte doch gar nicht! Wir waren doch gerade im Mittelalter!
Es ging um Macht, Willkür, Zölle und war eine spannende, kleine Geschichte. Der Mönch St. Goar und der Erzähler hatten sich einige Meter entfernt und sahen dem Geschehen in der anderen Zeit interessiert zu.
Plötzlich kam es zum Krieg und zur Belagerung der Burg. Vom Band ertönte lautes, mittelalterliches Schlachtgetümmel mit Schwerterklirren und Geschrei, die Musik setzte düster ein und es war eine merklich bedrückende Zeit. Auf einer der Bänke hielt sich eine Zuschauerin die Ohren zu und ich vermutete sofort, dass sie den Ablaufplan der Pyrotechnik kannte und sich auf einen Knall vorbereitete. Als nach einer Minute immer noch nichts explodiert war, sortierte ich sie als nur geräuschempfindlich ein und zuckte zusammen, als plötzlich pfeifend, zischend und funkensprühend ein Feuerwerksknaller über die Köpfe sauste und mit einer lauten Explosion in die Mauer hinter der Bühne krachte, wo er ein großes Loch hinterließ. Dichter Rauch stieg auf, und es fiel in diesem Moment gar nicht so auf, dass das Loch schon vorher dagewesen war. Die erschreckten Zuschauer holten Luft und richteten sich erleichtert lachend wieder auf.
Wutsch – öffnete sich ein neues Zeitfenster und der lebenslustige und verschwenderische Philipp lebte mit seiner jungen, ebenso verschwenderischen Gattin auf der Burg. Prachtvoll gekleidet und mit funkelndem Schmuck ausgestattet tranken sie Wein, lachten, tanzten und warfen auch mal mit einem schnellen “Hepp!” ein Bündel Weintrauben mitten ins Publikum. Sie zeigten sich bei den Sparmaßnahmen nicht einsichtig und hinterließen, wie der Erzähler berichtete, den Erben viele Gulden Schulden.
Am Ende des ersten Zeitreise-Blockes führte eine Gauklertruppe den hochherrschaftlichen Leuten spielerisch die Waffen der Zukunft vor. Es war eine verrückte Gruppe, denen man nicht ganz abnehmen konnte, ob sie die Wahrheit sprachen oder nur Tricks draufhatten. Pistole und Bombe wurden sehr bestaunt, und am Ende zückte einer der Gaukler ein gelbes Atomkraftschild, das bei den Leuten des 17. Jahrhunderts zu neugierigen Fragen führte: “Was ist das? Gibt’s das schon? Was kostet das?”
Mit einem hübschen, kleinen, sprenkeligen Sternenfeuerwerk wurde das abendliche Fest der Gesellschaft gefeiert, und es sah sehr schön aus, wie die winzigen Sternchen im schon leicht abgedunkelten Himmel zerplatzten.
Plötzlich brach der 30jährige Krieg aus. Es krachte, ein Geschoss traf den Innenbereich der Burg und explodierte mit lautem Knall an der Mauer. Feuer loderte hoch, die Schauspieler brachten sich in Sicherheit und der Zeit-Reiseleiter rief laut: “Alle in die Keller! Helft euch gegenseitig!!”, und lief voraus. Die Zuschauer standen alle auf und folgten ihm. Allerdings nicht in völliger Panik, sondern mit anerkennendem Grinsen im Gesicht über die Show. Das war ja mal eine richtig gute Idee und dazu noch spannend. Die Treffer krachten laut hörbar um uns herum ein, es qualmte, und eine Frau sagte bewundernd zu ihrem Mann: “Des is toll g’macht, gell!”
Da wir hinten gesessen hatten, konnten wir erst ziemlich am Schluss mitflüchten. Gemächlich schoben wir uns am Ende der Gruppe zum Kellergewölbe und einer der Söhne stellte lässig fest: “Bei ‘ner echten Belagerung wären wir jetzt tot – bei DER Geschwindigkeit.” Es ging durch einen Gang, über einen verqualmten Hof, in dem an einem Weinstand wunderlicherweise in aller Ruhe Gläser bereitgestellt wurden, obwohl doch ringsherum die Einschläge krachten und der Nebel durch die Blätterdeko wallte, und dann in den grün beleuchteten Keller. Auf dem Weg lagen brennende Pechfackeln, wie eben über die Mauer geworfen und zusammen mit der Dämmerung und dem bunten Nebel war es bei aller Ruhe und Gelassenheit doch ein bisschen aufregend.
Das Kellergewölbe war riesig – etwa drei Etagen hoch – und dicht mit Menschen vollgestellt. Eine einzige Treppe hatte nach unten geführt und nun standen alle Zuschauer im Gewölbe mit dem Blick zum Ausgang. Dort erlebten sie, von dicken Mauern geschützt, den Angriff auf die Burg. Draußen zog immer wieder dichter Qualm vorbei, es brannte und krachte, und vermummte Gestalten huschten vorbei. Dass es dort Verwirrung und Panik geben musste, erkannte man daran, dass die Leute sowohl von rechts nach links, als auch von links nach rechts flüchteten. Ab und zu wollten einige zu uns in den Keller, wurden aber von einer Wache brutal davon abgehalten.
Draußen wurde es leiser, einige vermummte Dorfbewohner schafften es bis auf die Treppe und hockten sich dort völlig erschöpft hin, und im Kellergewölbe begannen der Piano- und ein Saxophonspieler mit einem Lied. Es hörte sich wunderschön an, und vor allem das Saxophon hatte einen tollen, warmen Klang. Plötzlich tauchte eine rotgekleidete Sängerin auf, die optisch überhaupt nicht in das Bild passte. Sie sah nach Gala-Show, aber nicht nach 30jährigem Krieg aus. Das sollte sicher etwas bedeuten, den Bezug zur Gegenwart oder so, aber da sie viel zu hallig eingestellt war, konnte ich nicht mal den Text verstehen und vermute nur, dass es irgendwie um Frieden ging.
Auf jeden Fall gab es plötzlich draußen eine hübsche, drehende, funkensprühende Feuerwerksspirale und der lange Krieg war beendet. Vorsichtig spähte der Reiseleiter nach draußen und winkte dann: “Ich glaube, die Luft ist rein. Kommen Sie!”
Die ganze Gruppe verließ den Kellerraum und hatte Pause im Hof beim Weinstand. Klassische Musik lief, die Stimmung war noch etwas ruhig und fast besinnlich, und neben mir sagte ein Mann laut: “Sonja, mit Senf dazu?” und hielt einen frisch gekauften Hot Dog in der Hand. Der Himmel hatte inzwischen ein ganz dunkles, leuchtendes Blau, die alten Mauern waren rot angestrahlt, und es war ein schönes Gefühl, auf einer Burg bei Nacht zu sein.
Einige prächtig gekleidete Leute aus der Zeit des endenden 17. Jahrhunderts mit weißgepuderten Gesichtern und großen Perücken spazierten durch die Menge und amüsierten sich selbstgefällig. “Er sieht wohlgenährt aus. Hat Er schon gedient?”, fragte der Fürst einen Zuschauer und wandte sich dann an seinen Begleiter: “Das Volk ist gut genährt. Es hat zu viel im Geldbeutel.” “Eine Gasse für die Fürstin!” kommandierte er, und die Zuschauer rückten bereitwillig und lachend zur Seite, um die Gruppe hindurchschlendern zu lassen. Der Fürst wandte sich empört an eine Besucherin: “Madam, Ihr habt kein Geschenk dabei?”, und guckte dann prüfend zu einer jungen Frau: “Ist Sie schon vermählt? Nein? Denke Sie daran, der Fürst hat das Recht auf die erste Nacht!” Sie waren sehr unverschämt und dabei doch charmant und unterhaltsam. Leider war der Hof zu klein für die vielen Besucher und die lustigen Bemerkungen am anderen Ende der Menschenmenge waren nicht gut zu verstehen.
Durch die Dunkelheit ging es wieder in den Außenbereich zurück, wo vor den Schießscharten in der Mauer eine Szene aus der Belagerungszeit der Franzosen gespielt wurde. Einer der Männer wollte den Anführer unten auf dem Weg mit einem Schuss aus seinem klobigen Gewehr vom Pferd holen. Der Zeit-Reiseleiter stoppte die Szene, als das Gewehr kurz vor dem Abschuss war und stellte die Überlegung auf, wie der Geschichtsverlauf geändert worden wäre, wenn in diesem Augenblick eine andere Entscheidung gefallen wäre und der Mann vielleicht statt des französischen Anführers aus Versehen dessen hinter ihm stehende Frau erschossen hätte. Sehr interessante Überlegungen.
Die französische Revolution überrollte die Burg, ein echter Spielmannszug kam den Weg entlang gepfiffen, eine französische Marianne schwenkte die Trikolore, und der Reiseleiter rief: “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Alle hinterher! Stellen Sie sich vor, es wäre eine Montagsdemo!” Mein Gatte und ich lachten laut los und gaben Sonderbeifall, denn die Montagsdemos gegen die Hartz-IV-Reform hatten gerade angefangen. “Wie sich alles wiederholt”, stellte mein Gatte fest. “Arm gegen reich und ‘Wir sind das Volk’.”
Inzwischen waren wir zu Anhängern der Revolution geworden und marschierten hinter dem Spielmannszug zurück zur Wiese, auf der der Abend begonnen hatte. Eine Talkrunde zwischen Deutschen und Franzosen war vordergründig lustig, zeigte hintergründig aber den langen Konflikt zwischen den Ländern, der bis in die Neuzeit gereicht hatte. Ein preußischer General übergab die Burg an die junge Revolution, dargestellt von der Marianne, die voller Ideale war, aber einfach nicht zuhören konnte. Ich war fasziniert, wie tiefsinnig viele Textstellen waren, wie viele politische Anspielungen sie hatten, und doch auch genug witzige Stellen, die das Zuhören einfach machten.
Um den Bogen der Burggeschichte zu schließen, versammelten sich die Schauspieler aus alle Epochen am Ende auf der Bühne und auch St. Goar kam zurück. Plötzlich bog eine buntgekleidete, lärmende Touristengruppe um die Ecke, ließ sich von einer Burgenführerin Daten erzählen und lief dabei achtlos an den ganzen vorangegangenen Zeitaltern vorbei. Für sie war das alles eine zerstörte Ruine aus alten Steinen, während viele Generationen vor ihnen an dieser Stätte Freude, Not, Krieg, Aufbau und Zerstörung erlebt hatten.
Orchestrale Schlussmusik und wirbelnde Farbkreise der Neuzeit unterstützten das Endbild, das Publikum klatschte begeistert, und natürlich gab es nochmal eine pyromatische Endexplosion mit roten Feuerwerkssprenkeln.
Fazit: Ein sehr kurzweiliger Abend, an dem Geschichte mit der Burg Rheinfels als Mittelpunkt gespielt wurde, die so ähnlich aber auch an vielen anderen Orten Deutschlands stattgefunden hat. Die Kulisse war eindrucksvoll, die Schauspieler spielten sehr gut, der Reiseleiter war kompetent, locker und souverän, die Musik war schön, eher klassisch angelegt und die Stimmungen unterstützend, die Inszenierung war voller origineller Ideen, und der Text war bildreich, klar und einfach, aber trotzdem sehr gehaltvoll. Eine rundum gelungene Aufführung, die ein großes Publikum anspricht, weil jeder etwas findet, was ihm gut gefällt. Der eine interessiert sich für Geschichte, der andere will Feuerwerk sehen, der nächste vielleicht nur schöne, oft witzige Theaterszenen. Wir waren zu viert da und fanden es alle vier sehr gut gemacht.
Nach der Vorstellung erfuhr ich übrigens, dass der tolle Saxophonspieler aus dem Kellergewölbe Richard Wester war, der die Musik der Rheinfels Saga geschrieben hatte. Leider wird diese schöne Veranstaltung nach sieben Jahren Laufzeit nicht mehr durchgeführt werden können. Mit den vielen Schauspielern und den Effekten ist das nicht alleine durch die Eintrittsgelder zu finanzieren. Sehr schade, dass damit wieder ein qualitativ sehr gut gemachtes Stück Kultur wegfallen wird.
RHEINFELS SAGA
Autoren: Leonhard Reinirkens, Manfred Maurenbrecher
Künstlerische Leitung und Musik: Richard Wester
Regie: Wolfgang Kolneder
Projektleitung: Klaus Pepper