Christoph M. Herbst, Charlotte Roche – Lesung – 02.08.2004 – Köln
Lesung mit Christoph Maria Herbst, Charlotte Roche
Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern
Wohnzimmertheater, Köln
Die Firma Vorwerk ist bekannt für ihre Staubsauger. Der Typ ‘Kobold’ unterscheidet sich von den übrigen Modellen vor allem dadurch, dass sich der Motor am unteren Ende des Stieles befindet und damit auf den üblichen Verbindungsschlauch verzichtet werden kann, der zwischen Motor und Saugdüse liegt. Es gibt Männer, die kommen auf ganz blöde Ideen. Ist ja ganz schön, wenn ein Mann einfach mal zum Staubsauger greift, kann aber auch zu Unannehmlichkeiten führen, wenn das Gerät nicht nur ordnungsgemäß zum Entfernen des Staubes unter dem Sofa verwendet wird.
Über diese Unannehmlichkeiten wollten wir informiert werden, als wir zur Lesung mit Charlotte Roche und Christoph Maria Herbst ins kleine Wohnzimmertheater gingen. Die beiden trugen dort eine Original-Doktorarbeit aus dem Jahre 1978 in unveränderter und nur gekürzter Fassung vor, in der es um den Missbrauch des Kobold-Staubsauger-Ansaugstutzens ging. War also eigentlich ein rein wissenschaftlicher Abend.
Mein Gatte guckte zwar vorher etwas besorgt und fragte: „Wenn mir das beim Anhören zu weh tut, darf ich gehen?“, aber zu meinem Erstaunen warteten vor dem Theater genauso viele mutige Männer wie Frauen, die sich über dieses Thema mal informieren lassen wollten. Etwa 100 Leute passten bei enger Bestuhlung in das schmale Wohnzimmertheater. Draußen war es sommerlich warm, drinnen auch. Mehrere Ventilatoren winkten warme Luft durch die Gegend und die anwesenden Männer lachten und guckten alle betont entspannt. Noch.
In einer kurzen Einleitung wurden die Zuschauer akustisch darüber informiert, dass die Doktorarbeit nicht zur Unterhaltung verfasst worden war und dass sowohl die Patienten als auch der Verfasser, inzwischen ein praktizierender Doktor der Medizin, anonym blieben. Dann ging es los. Charlotte Roche, noch viel schmaler als ich gedacht hatte, und Christoph Maria Herbst, dreitagebärtiger als ich erwartet hatte, kamen auf die Bühne, setzten sich an zwei kleine Schreibtische und rückten ihre Papiere zurecht. Es blieb stumm im Raum, nur hin und wieder kicherte ein nervöser Zuschauer.
Nach einiger Zeit begann Christoph Maria Herbst mit dem Vortrag der Doktorarbeit. Er hatte eine sehr schöne Sprechstimme, die seriös klang und keinen Zweifel daran ließ, dass es um eine wissenschaftliche Arbeit ging. Gesundheitsmagazin Praxis, oder so. Kein zusätzlicher Kabarett-Schnickschnack, keine eigenen Anmerkungen, nur die reinen Fakten der Doktorarbeit, inklusive aller Überschriften.
Zunächst wurden in der Arbeit die Grundlagen erklärt. Ein Dia auf der Projektionsfläche hinter den beiden Akteuren zeigte einen buntgemalten Querschnitt durch den Penis. Fachbegriffe und die Lage der verschiedenen Teile wurden verlesen, und Charlotte Roche zeigte währenddessen mit dem Zeigestock auf die beschriebene Stelle. Es gab „abgeplattet zylindrische“, „keulenförmig ausgetriebene“ und „kapuzenartig umschließende“ Teile, und das Publikum schaute interessiert zu und kicherte los, wenn Charlotte Roche den Zeigestock mit Schwung die Harnröhre entlangführte.
Nach trockenen, statistischen Informationen über die Masturbation und die Häufigkeit ihrer Anwendung je nach Alter und Schulbildung, wurden die betreffenden Staubsaugermodelle erläutert. Der Motor des ‚Kobold 116‘ von der Firma Vorwerk konnte 17000 Umdrehungen in der Minute machen und hatte eine Saugleistung von 25 Litern pro Sekunde. Das veranlasste einige Zuschauer ein staunendes, aber eher entsetztes als freudiges „Uaaaaa!“ auszustoßen. Einige stießen die Luft auch nicht aus, sondern sogen sie hörbar ein, was eher einem Staubsauger entsprach, aber nicht unbedingt erfreuter klang. Eine negativ-vorausahnende Reaktion, die Vorwerk-Vertreter beim Vorstellen der Leistungsdaten ihrer Staubsauger an der Haustüre nicht unbedingt erwarten würden.
Angespannte Haltungen und reflexartiges Zusammenkrümmen bei den Zuschauern gab es auch bei den weiteren Angaben: „Entfernt man die Saugdüse, trennt ein 11 cm langer Ansaugstutzen die Staubsaugerspitze vom Propeller.“ 11 cm – Uaah! Mit Dias des Staubsaugermodelles, die bildlich erläuterten, was Christoph Maria Herbst vorlas, wurde die Vorgehensweise der vorher Staubsauger-Bedienenden, später Patienten deutlich. Kurz gesagt: Saugdüse abmachen, reinstecken, anschalten, völlig überraschend vom Sog bis an den rotierenden Propeller ziehen lassen, sehr klein rausziehen und ab zum Arzt. Je nach Motorleistung und Abwehrreflex war der Penis dabei, so wörtlich: „unterschiedlich traumatisiert“. Hörte sich fast romantisch an, war es aber nicht.
Mehr als ein Duzend Patienten waren für die Arbeit untersucht worden und die Krankenakten wurden nun von Charlotte Roche und Christoph Maria Herbst abwechselnd vorgelesen. Dem Aufzählen der jeweils persönlichen Daten über den Familienstand und den Beruf der Staubsaugeropfer hörten die Zuschauer ruhig zu, bei den Schilderungen der Wunde gab es spontane Reaktionen, die sich in abwehrendem „Uaaaaaa!“ oder auch mal einem entsetzt-mitleidigen „Aaaah!“ äußerten. Bei den folgenden Informationen über die Wundbehandlung hielten sich einige Zuschauer entsetzt die Hände vor ihr Gesicht, obwohl es in diesem Falle besser gewesen wäre, sie über die Ohren zu halten. „Sparsames Abtragen der zerfetzten Hautteile“ – „Uaaaaaah!“
„Gerissene Harnröhre“ – „Oh, neeeee!!“
„80 Einzelknopfnähte an der Eichel“ – „Ach, du Scheiße!!“
Mit sorgenvollen Blicken, zum Teil nicht ganz geradeaus, sondern mit schräggestelltem Kopf und leicht aus den Winkeln der halb zugekniffenen Augen heraus, als wäre der Anblick dann nicht so schlimm, betrachteten manche Zuschauer die hin und wieder dokumentarisch eingeblendeten Abbildungen. Sie waren schwarz-weiß, so dass die Spitzen der verunglückten Körperteile meistens wie kleine, schwarze Blumenkohle aussahen, die für das Foto von einer gummibehandschuhten Hand in eine fotogerechte Haltung gebracht wurden. Auf diese Art wirkten sie eher wie jahrhundertalte Versteinerungen, die ein Archäologe stolz in die Kamera hielt, aber vermutlich wären sie in Farbe zwar lebensechter, aber nicht erträglicher gewesen. Die Übelkeitsschwelle sackte beim Betrachten der Bilder teilweise schlagartig ab, und auch Charlotte Roche rief meistens: “Weg mit dem Bild!”, und klickte es aus.
Beim Schildern eines Folgeschadens “uriniert mehrstrahlig”, lachte mein Mann freudig los: “Eine Dusche!”, und fand es witzig. Aber so wirklich lustig waren die Schilderungen meistens nicht, und ich beobachtete mit leichter Sorge, dass der junge Mann vor mir immer unruhiger wurde und ständig die Sitzposition wechselte. Hoffentlich kippte der nicht um! Die Zuschauer hörten mit dem gleichen inneren Gruseln zu wie man einer Unfallschilderung lauscht, dabei entsetzt das Gesicht verzieht, aber trotzdem nicht eher geht, bis man alles erfahren hat. Auffällig war, dass nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen laut aufstöhnten und schmerzlich das Gesicht verzogen, wenn von den Verletzungen die Rede war. Nur Christoph Maria Herbst wirkte bei manchen Schilderungen fast schon ein wenig schadenfroh und grinste sehr amüsiert vor sich hin. Auch Charlotte Roche musste immer mal wieder lachen, wirkte jedoch trotzdem mitleidig. Im Endeffekt hatten sich die meisten Verletzten aber so blöd angestellt, dass man nicht tiefes Mitleid mit unschuldigen Opfern fühlten konnte, sondern ungläubig den Kopf schütteln musste. Was waren schon 11 cm? Das musste man doch mit bloßem Auge erkennen, dass das nicht gut gehen konnte.
Große Heiterkeit erregten die Erklärungen der Patienten, wie es zu dieser Verletzung hatte kommen können. Nur die wenigsten gaben das innige Verhältnis zu ihrem Staubsauger direkt zu und kamen stattdessen mit den wunderbarsten Ausreden an. Da machte sich der Staubsauger beim Wechseln der Düse selbständig, als man gerade keine Hose trug, oder beim Rückenmassieren mit dem dafür gewählten Staubsauger war zufällig der Ansaugstutzen in andere Regionen geraten.
Am Ende der Fälle, die zum Teil wirklich kurios waren, lachte das Publikum erleichtert auf und bekam noch den Hinweis, wo es die Möglichkeit zum Erwerb eines veralteten ‚Kobolds‘ geben könne. Die neuen Modelle hatte die Firma Vorwerk inzwischen so abgeändert, dass zwischen Düse und Motor ein mindestens ein Meter langer Schlauch vor unerwarteten Überraschungen und Unannehmlichkeiten schützte.
Fazit des Abend: Zwei lockere, wirklich sehr nette Vorleser, die seriös, aber mit Grinsen in den Augenwinkeln und manchmal fröhlichem Lachen im Gesicht eine gruselige, aber ganz echte Unfalldokumentation vortrugen. Ein Publikum, das erschreckt nach Luft schnappte, laut loslachte, abwehrend “Uaaaaah!” sagte und sich hin und wieder mal leicht unwohl fühlte. Trotzdem ein origineller, kurzweiliger und manchmal sogar ziemlich witziger Abend, obwohl es “nur” eine trockene Doktorarbeit war. Oder gerade deswegen. Nach meiner Erkenntnis gab es am Abend keine Ohnmachtsfälle, dafür wahrscheinlich ein unterschwellig geänderter Eindruck von Staubsaugern. Ob ich meinen jemals wieder als einfaches Haushaltsgerät sehen kann, wo ich jetzt weiß, zu was der fähig ist? Ach, nee, ich habe ja keinen Kobold. Und mein Mann greift sowieso nicht gerne zum Staubsauger. Zum Glück!